1
Wie in der 7. Notiz angekündigt, habe ich zuletzt einige öffentlich zugängliche Vorstöße in die Andere Gesellschaft erörtert: Oliver Heins über Vergesellschaftung qua Internet, Michael Krätke über Wirtschaftsdemokratie, Elmar Altvater über die ökologische Gesellschaft. Diese kleine Reihe schließe ich heute ab mit einer Diskussion des Papiers „Sozialpolitik als Infrastruktur“, das von der AG links-netz erstellt wurde, der u.a. Sonja Buckel, Joachim Hirsch und Heinz Steinert angehören (vgl. www.links-netz.de/K_texte/K_links-netz_sozpol.html). Anschließend werde ich noch zwei Blog-Folgen brauchen, um auf Fragen der Rechtsstaatlichkeit einzugehen, damit ist dann diese ganze „Exposition“ abgeschlossen, und ich gehe ab der 14. Notiz zum „Hauptteil“ über.
Das Papier von links-netz empfiehlt sich schon allein durch seine klare Voraussicht der Krise, deren Anfänge wir gerade erleben. 2003 veröffentlicht, steigt es mit dem Hinweis ein, die Weltwirtschaft befinde sich „in einer Krise größeren Ausmaßes“: „Sie kann katastrophale Dimensionen annehmen, wenn die von den USA erzeugte Schuldenblase platzt, die in der Art eines globalen deficit spending bislang noch die Nachfrage stimuliert und einen allgemeinen Zusammenbruch verhindert hatte“. Da denkt man an andere Zeitgenossen, die jetzt auch klagen, dabei aber so tun, als fielen sie aus dem Mustopf. Nein, es war klar, dass die Krise kommen würde, und deshalb hat links-netz es „offensichtlich“ gefunden, „dass die Gesellschaft grundlegend umgebaut werden muss“.
„Sozialpolitik als Infrastruktur“: Der Titel des Papiers will mehr andeuten, als es scheint. Dass es nicht nur eine Infrastruktur des Verkehrs gibt, zu der etwa Autobahnen gehören, sondern auch eine sozialpolitische und noch andere, das versteht sich. Aber hier geht es darum, dass Sozialpolitik selber „als“ Infrastruktur verstanden, dass, mit anderen Worten, eine Form und ein Kern von sozialer Kohärenz errichtet werden soll, die sich unterscheiden von Behörden wie jetzt, wo es nur um Hilfe für (und Aufsicht über) geschwächte, verunglückte, zu kurz gekommene Einzelne geht. Der Ausdruck „Infrastruktur“ bezeichnet kein bloßes Auffangnetz, das als letzte Schlussfolgerung, nachdem erst einmal alle im struggle for life sich abgemüht haben, nun auch noch dazukommt; keine Aufgabe neben anderen Aufgaben, für deren Finanzierung man irgendwelche Restgelder auftreibt, nachdem alles andere, angeblich Wichtigere bezahlt worden ist; sondern das Grundlegende. Das, wofür die Gelder zuallererst fließen müssen.
2
Beginnen wir mit den Geldern. Das Papier ist so gut geschrieben, dass ich es einfach zitieren kann: „Ziemlich klar ist aber, dass die Steuern der Beitrag zur Finanzierung der Infrastruktur sind und dass sich daher umgekehrt alles, was mit Steuern finanziert wird, als Infrastruktur (und nicht nur einem Einzelinteresse dienend) ausweisen muss.“
„Da es um Infrastruktur geht, kann ihre Finanzierung nicht nach einem Versicherungsprinzip organisiert sein, bei dem die Auszahlung immer an die Bedingung der vorherigen Einzahlung geknüpft ist. (Versicherungen kann und wird es aber zusätzlich geben, also für das, was einzelne und Gruppen über die Teilnahme an der Infrastruktur hinaus sich ‚privat‘ an Sicherung organisieren wollen.) Infrastruktur für alle wird über Steuern von allen finanziert. Damit ist die traditionelle Unterscheidung zwischen Steuern und Beiträgen zur Sozialversicherung hinfällig. Stattdessen gibt es Beiträge zur Finanzierung der Infrastruktur, deren Höhe sich daran bemisst, was man leisten kann.“
„Im Konzept einer Sozialpolitik als Infrastruktur spricht viel dafür, wirtschaftliche Einheiten und nicht Personen zu besteuern: Das sind Betriebe und Haushalte.“ „Das Prinzip der Einzelbesteuerung ist ‚jeder (Betrieb/Haushalt) nach seinen Fähigkeiten‘. Wie man das Ausmaß der ‚Fähigkeiten‘ bemisst, muss hier nicht im Detail ausgearbeitet werden. Was nicht angeht, ist allerdings, dass man sie, wie derzeit, bei den Betrieben nach dem Gewinn, bei den Haushalten aber nach dem Einkommen festlegt. Haushalte und Betriebe sollten vergleichbar gemacht werden können. Wenn es nach dem Gewinn gehen soll, lässt sich ein Haushalts-Gewinn analog zu dem eines Betriebs ermitteln.“
3
Soziale Infrastruktur ist nicht nur Sache des Staates in Bund, Ländern und Kommunen und auch nicht nur, wie manche Versionen des Grundeinkommens nahe legen, des Individuums, sondern es ist auch Sache der Betriebe und vor allem der Familien. Diese vier Ebenen fügen sich dahin zusammen, dass die soziale Infrastruktur eine wesentlich lokale Angelegenheit ist: „Die meisten Leute leben die meiste Zeit ihres Lebens höchst lokal, in Kindheit und Alter völlig, als Haushaltsarbeiter/innen völlig, je ärmer, umso mehr. Die im Durchschnitt wenigen Wanderungen des Lebens geschehen von einer lokalen Lebensweise zur nächsten. Daher ist das Lokale ein ausgezeichneter Ort, um Infrastruktur für alle zugänglich her- und zur Verfügung zu stellen. Sozialarbeiterische Gemeinwesenarbeit weiß darüber ziemlich viel, hat auch Techniken der Intervention zur Verfügung und sollte die Standardform von Sozialarbeit sein.“ Damit ist dieses Konzept dem ökologischen ähnlich, das in der 10. Notiz diskutiert wurde, indem beide lokalen Charakter haben.
Und wie dort betont wurde, dass sich lokale Tätigkeiten mit Selbstverwaltung gut vertragen, so auch hier. Gesundheits- und Bildungspolitik, die beispielhaft näher ausgearbeitet werden, sind von diesem Gesichtspunkt beherrscht: „Sinnvoll wäre vor allem die Einrichtung eines regional/kommunal dezentralisierten Systems von Gesundheitszentren, die nicht nur die Aufgabe der medizinischen Versorgung und Pflege, sondern auch von Sozialstationen übernehmen. Diese wären sowohl von ihrer Ausstattung als auch von ihren Kompetenzen und Finanzen besser auf die jeweiligen Bedingungen und Bedürfnisse eingestellt und böten vor allem die Möglichkeit, Ansätze für eine demokratische Selbstverwaltung unter Beteiligung aller, auch der aktuellen und potentiellen Patienten zu realisieren.“ Von der Schule heißt es, sie könnte „Funktionen eines Gemeindezentrums“ haben.
Aber das sind bereits Organisationsformen, zuerst wird jeweils die Definition des Politikfeldes geprüft. So heißt es von der Gesundheitsvorsorge, sie habe „nicht wie heute das beschränkte Ziel, die Lohnarbeitsfähigkeit zu sichern und wiederherzustellen. Unter diesem Aspekt ist auch offensichtlicher als sonst, dass es nicht in erster Linie um eine hohe Lebenserwartung geht […]. Ziel ist die Möglichkeit eines aktiven, selbständigen und schmerzarmen Lebens für alle als Teil und Voraussetzung von sozialer Teilhabe.“ Pflege z.B. geht „weit über Medizinisches hinaus und meint im weitesten Sinn eine Einrichtung der Welt so, dass sie auch von anderen als 25- bis 30jährigen Männern unter Einsatz aller Kraft, Erfahrung, Geistesgegenwart und Rücksichtslosigkeit benützt werden kann“.
Jenes Gesundheitszentrum soll auch die kommunale Versorgungsstruktur rationalisieren. Die Praxis wird aufhören, „dass teure Geräte nur deshalb eingesetzt werden, um ihre Kosten zu amortisieren“. Natürlich wissen die Autoren, dass dies Problem letztlich tiefer liegt: Wenn teure Geräte erst angeschafft sind, muss man sie auch amortisieren, aber dass sie überhaupt angeboten werden, hängt mit einem anderen, ganz ähnlichen Zwangsmechanismus zusammen – und nicht nur mit dem medizinischen Fortschritt -: Der Gewinn, Mehrwert, Profit, der gemacht worden ist, muss reinvestiert (oder andernfalls in Spekulation verbrannt) werden, sonst ist er keiner. Unter diesem Gesetz steht die Gesundheitsindustrie wie jede andere, und auch das ist ein Grund, weshalb die Gesundheitskosten immerzu steigen. Um hieran etwas zu ändern, müsste man schon in die Struktur des Kapitals selber eingreifen.
4
Auch zum Grundeinkommen steuern die Autoren kluge Gedanken bei, zum Beispiel dass es den Effekt hätte, „den herrschenden Zirkel von immer mehr Arbeit für immer mehr Warenkonsum wenigstens für diejenigen (und zumindest in Phasen des Lebens) durchbrechbar zu machen, denen das nicht vorrangiger Zweck des Lebens ist. Viel wichtiger ist freilich, dass damit alle Formen von gesellschaftlicher Arbeit zur Kenntnis genommen und ermöglicht werden. Die einseitige Fixierung auf Lohnarbeit als privilegierte und einzig anerkannte Form von Arbeit hätte damit ein Ende.“
Es ist gut, dass sie die gängige Übung beenden, das Grundeinkommen gegen die Sozialsysteme auszuspielen oder umgekehrt. Diese Spaltung beherrscht zum Beispiel die Debatten bei den Grünen. Ob man dort von dem links-netz-Papier weiß? Ich habe dennoch einen Einwand: Obwohl es zweifellos ein Fortschritt ist, das Grundeinkommen als eine von vier sozialpolitischen Ebenen zu definieren, diejenige, die nicht dem Staat, dem Betrieb oder der Familie zugeordnet ist, sondern dem Individuum, diejenige also, auf der nicht der Staat hilft oder der Betrieb, sondern das Individuum sich selbst helfen kann, eben weil es ein Grundeinkommen erhalten hat – der Familie vergleichbar, die ebenfalls finanziell befähigt wird, sich selbst helfen zu können -, obwohl das also ein Fortschritt ist, ist es mir noch nicht radikal genug gedacht. Denn ich meine, ein Grundeinkommen, das den Namen verdiente, wäre nicht nur kein Ersatz für fehlende Sozialsysteme, es wäre auch nicht einmal ein sozialsystemisches Element neben anderen – es hätte überhaupt gar keinen sozialpolitischen Charakter.
Solange man das Grundeinkommen als Antwort auf die Frage begreift, wie das Individuum im sozialen Sicherheitsnetz bleiben kann, statt aus ihm herauszufallen, ist man immer noch im Modus der „Sozialhilfe“ gefangen. Nein, es geht um die ganz andere Frage, wie Arbeit und Lohn entkoppelt werden können. Das Grundeinkommen soll keine aufgestockte Sozialhilfe, sondern ein Grundstock von Arbeitslohn sein. Man geht davon aus, dass soundsoviel Arbeit gesellschaftlich anfällt und jede(r) nach Fähigkeit dazu beiträgt; die Arbeit wird auf alle verteilt, so dass in jeder einzelnen Arbeitsbiografie Tätigkeits- mit Ruhephasen wechseln und in beiden auch (Aus-) Bildung stattfindet; der erwirtschaftete Reichtum wird auf alle so verteilt, dass jede(r) einen reichlichen Grundstock hat und, wenn er will, noch dazu verdienen kann.
Sollte der Fall eintreten, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt weniger Leute arbeiten wollen als für die Reproduktion der Gesellschaft gebraucht werden, nun, dann wird man Druck auf sie ausüben. Solcher Druck wird aber nicht darin bestehen, dass man ihnen Finger abschneidet oder das Grundeinkommen kürzt, denn es gibt humanere Methoden. Oder besser gesagt, das sind ja gar keine Methoden des Drucks, vielmehr der Rache („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“), die aus unerfindlichen Gründen zugleich als Methoden des Drucks sollen funktionieren können. Weg damit!
„Jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten“, beschreibt Marx ein Prinzip der kommunistischen Gesellschaft. Es geht genau um dieses Prinzip: Jede(r) nach den G r u n d bedürfnissen, und was darüber hinausgeht, nach den Fähigkeiten. Die Gesellschaft ist längst reich genug, es sich leisten zu können.
5
Nun, was erörtern wir hier eigentlich? Das Papier der AG links-netz sagt, es gehe „um einen ‚radikaleren Reformismus'“. Da hört man schon die Einsprüche: Das sei doch alles illusionär, das funktioniere nicht im Kapitalismus… Erst einmal müsse der Kapitalismus beseitigt sein, dann könne man sich auch über so ein Sozialsystem unterhalten, dessen Schönheit man ja gar nicht abstreite…
Aber da geht etwas durcheinander, immer wieder. Dass „Reform“ zwei ganz verschiedene Bedeutungen hat, kann man sich schnell an dem berühmten Spruch von Bert Brecht klar machen: „Gut, das ist der Flicken, aber wo ist der ganze Rock?“ Der ganze Rock ist die Andere Gesellschaft, der Flicken verbleibt in der vorhandenen Gesellschaft. Das ist die erste Bedeutung, aber nun zur zweiten: Während der Rock der ganze Rock ist, ist der Flicken ein einzelner Flicken – nicht das Ganze, sondern nur ein Teil. Diese beiden Sinnelemente gehen in dem Ausdruck „Reform“ durcheinander: Die Reform verbleibt im Vorhandenen, und sie ist eine Einzelheit.
Nun verhält es sich aber so, dass auch der Versuch, ein anderes Ganzes herbeizuführen, nur unternommen werden kann, indem man mit einer Einzelheit anfängt, oder mit mehreren. Wenn man einen Rock will, wird man zuerst Teile oder Materialien herstellen. Es sei denn, man kauft ihn einfach, aber wie ist er nur in den Laden gekommen? Man kann nicht die Andere Gesellschaft auf einen Schlag im Ganzen hinstellen. Dergleichen ist übrigens auch noch nie geschehen.
Es ist also unbedingt notwendig, mit Einzelheiten anzufangen. Alle, die einwenden, das Einzelne sei aber nicht das Ganze, sind faktisch an dem Versuch beteiligt, die Andere Gesellschaft unmöglich zu machen. Aber wenn nun die Einzelheit bloß zur Reformierung des Vorhandenen führt? Die Frage ist berechtigt, man muss nur begreifen, dass es die e i n z i g e Frage ist (andere Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang nicht): Es hat neben Vorstößen, die von vornherein nur darauf zielten, das Vorhandene besser und sicherer zu machen, auch Vorstöße gegeben, die sich als „revolutionär“ verstanden und dann doch vom Vorhandenen zurückgeholt, eingemeindet und assimiliert werden konnten. Hier ist von Beidem nicht die Rede: Es gibt Vorstöße, die Einzelheiten betreffen, und das Vorhandene kann sie n i c h t zurückholen. Ich meine, das Konzept der AG links-netz ist von dieser Art. Es propagiert Dinge, an denen anschaulich wird, dass wir eine Andere Gesellschaft brauchen.