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Ist eine Gesellschaft denkbar, in der die Produktionsmittel zugleich den Individuen und der Gesellschaft gehören? Diese Frage bleibt nach meinen ersten beiden Blog-Notizen übrig, in denen ich zunächst zwischen „individuell“ und „privat“, dann zwischen „individuellem Eigentum“ und „privatem Eigentum“ unterschieden habe.
Wenn wir nur von Eigentum überhaupt sprechen, zum Beispiel an einem Hund, sehen wir leicht, dass er überwiegend individuelles, oft aber auch zum kleinen Teil gesellschaftliches Eigentum ist, denn die Gesellschaft verbietet Tierquälerei und hat insofern ein Zugriffsrecht auf den Hund, das nichts anderes als ein Eigentumsrecht ist. Eigentum, sagt Niklas Luhmann, ist „eine ausdifferenzierte Knappheitsmenge, die andere als den Eigentümer vom Zugriff ausschließt“ (Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, S. 149). Ausdifferenziert und knapp, mag sein, das braucht uns im Moment nicht zu interessieren, umso mehr das andere: Eigentum ist Zugriffsrecht auf eine Sache. Hätte nur der Hundehalter dieses Recht, wäre er purer Privateigentümer, da aber auch die Gesellschaft bei Verletzung gewisser Regeln zugreift, nimmt sie nach Luhmanns Definition am Eigentum teil.
Von einem Eigentümer, der sich sein Eigentumsrecht mit der Gesellschaft teilt – teilen muss oder teilen will -, sage ich, dass er über ein (auch) individuelles statt (nur) privates Eigentum verfügt. Denn Individuen existieren in ihrer Eigenart, weil sie sich mit anderen Individuen austauschen – den Freunden und anerkannten Gegnern, der Familie, der Gemeinschaft, der Gesellschaft, der „Assoziation“ -, während Private in Gleichgültigkeit zu all dem verharren. „Privat“ heißt „abgesondert“. Was den Hundehalter angeht, kann er sicher fast schon als Privateigentümer bezeichnet werden, denn der gesellschaftliche Eigentumsanteil ist nicht groß. Es sind aber andere Dinge mit anderer Verteilung des individuellen und gesellschaftlichen Anteils vorstellbar.
Dies vorausgesetzt, will ich nun über das Eigentum an Produktionsmitteln nachdenken.
Man kennt die klassische marxistische Forderung: Das Eigentum an Produktionsmitteln soll „vergesellschaftet“ werden.
Man kennt die klassische marxistische Forderung: Das Eigentum an Produktionsmitteln soll „vergesellschaftet“ werden. Vergesellschaftung heißt aber für Marx, die Enteignung der Individuen wird rückgängig gemacht. In der Anderen Gesellschaft, schreibt er, haben alle wieder „individuelles Eigentum“. Damit führt er uns in ein Paradox. In bäuerlichen Gesellschaften ist die Verknüpfung von individuellem und gemeinschaftlichem Eigentum leicht vorstellbar. Jeder Bauer hat einerseits den alleinigen Zugriff auf sein Stück Land, andererseits greifen alle Bauern auf die „Allmende“ zu, der ein Wald sein kann, dem sie zum Beispiel Holz entnehmen. Aber wie können sich industrielle Produktionsmittel in individuellem und gesellschaftlichem Eigentum zugleich befinden?
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Wenn im Grundgesetz steht, Eigentum habe dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen und könne deshalb zur Not auch enteignet werden, ist es damit schon prinzipiell als gesellschaftliches Eigentum bestimmt. Und hier ist zweifellos vom Eigentum an Produktionsmitteln die Rede. Nur folgt daraus so gut wie gar nichts. Das einzige Mittel, die Privateigentümer auf das allgemeine Wohl zu verpflichten, liegt hier in der Enteignungs-Drohung. Wir erleben es in diesen Tagen. Enteignung aber verwandelt privates nicht in individuelles, sondern in Staatseigentum. Wenn es einmal zu ihr kommt, dann um dem Privateigentum wieder auf die Beine zu helfen, nicht um eine Gesellschaft vorzubereiten, die aus individuellen Eigentümern bestünde. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, dass derselbe Staat, der in der Krisennot zur Enteignung und Verstaatlichung schreitet, in anderen Zeiten „öffentliches Eigentum“ privatisiert.
„Privatisierung“ ist ein besserer Startpunkt zum Nachdenken. Denn stets wird behauptet, die zu privatisierenden Güter sollten der Öffentlichkeit gar nicht entzogen werden, es gehe nur darum, die Effektivität und Wirtschaftlichkeit ihrer Verwaltung zu steigern. Das stimmt nicht, aber man kann fragen, unter welchen Bedingungen es stimmen würde. Wann würden wir von einem Eigentumstransfer sagen, er sei nicht Privatisierung, wohl aber „Individualisierung“, deren Kehrseite Vergesellschaftung ist, von vormals nur staatseigenen öffentlichen Gütern? Der Witz ist, dass wir mit dieser Frage auch alles Eigentum an Produktionsmitteln zur Rede stellen können. Wir brauchen uns nur klar zu machen, dass nicht nur Wasserwerke und Transportmittel der Post, sondern Produktionsmittel jeglicher Art im Grunde ebenfalls „öffentliches“, gesellschaftliches Eigentum sind. Rechtfertigen sich nicht alle Unternehmer mit der Beteuerung, ihr Geschäft sei der Dienst am Kunden, sie versorgten die Gesellschaft mit Konsumgütern? In der Tat, sie sind für andere da, und wenn das nicht so wäre, hätten sie keinerlei Existenzberechtigung. Das unterscheidet sie von den Hundehaltern.
Vergesellschaftete Produktionsmittel sind so gesehen Produktionsmittel, die die Gesellschaft auch dann nicht aus der Hand gibt, wenn sie individuelles Eigentum geworden sind. Das bedeutet, sie ist an allen Entscheidungen beteiligt, die dieses Eigentum betreffen: was mit den Produktionsmitteln produziert wird, welche Produktionsmittel es sein sollen, damit das produziert werden kann, was die Gesellschaft produziert sehen will, und wie der Gewinn verteilt wird, der beim Produzieren anfällt.
Natürlich ist dieses Postulat erklärungsbedürftig. Ein Einwand wird lauten, die Unternehmer produzierten doch jetzt schon genau das, was die Gesellschaft konsumieren wolle, wobei die gesellschaftlichen Konsumwünsche wünschenswerterweise nicht vom Staat formuliert würden, sondern von jedem einzelnen Individuum. Und wie reich sei die Wahlfreiheit des Individuums auf all den Märkten! Doch das stimmt nur zum Teil. Das Individuum kann wählen, ob es Opel oder VW kauft, nicht aber, ob mehr Auto- und weniger öffentlicher Nahverkehr angeboten werden soll oder umgekehrt. Über die großen Linien der Produktion kann es nicht entscheiden, das tun heute entweder die Unternehmer oder der Staat oder beide Hand in Hand.
Trotzdem bringt uns der Einwand weiter, denn daran, dass nicht der Staat, sondern das Individuum entscheiden soll, können wir ja festhalten, und auch daran, dass die Entscheidung sich in einer Wahlhandlung ausdrücken soll. Ja, der Satz darf aufgestellt werden, dass von Vergesellschaftung statt Verstaatlichung nur die Rede sein kann, wenn die Individuen selber entscheiden und zwar in einer allgemeinen, freien und gleichen Wahl. Wahlen, in denen nicht Parlamente, sondern Richtlinien der Produktion gewählt werden, will ich als „Marktwahlen“ bezeichnen.
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Das wirft viele Folgefragen auf, um die ich mich im Moment nicht kümmere. Diese ersten Notizen meines Blogs sind nur Exposition, nicht Durchführung. In einer Exposition stellt man Themen auf. Marktwahlen sind ein Thema. Es soll hier gleich zu einem weiteren Thema überleiten: Wenn Marktwahlen über die Verwendung der Produktionsmittel und schon darüber, welche Produktionsmittel produziert werden sollen, entscheiden, ist es dann sinnvoll, ihr jeweiliges Resultat in einer Behörde zu fixieren, die den Unternehmern gegenüber die gesellschaftliche Nachfrage verkörpert? Es geht nicht um die Nachfrage nach Opel oder VW – das ist Sache des Einzelnen -, aber zum Beispiel nach mehr öffentlichem Nahverkehr, mehr Wind- und Wasserenergie, mehr Entwicklungshilfe, weniger Waffen.
Was Waffen angeht, ist es schon jetzt so, dass Produkte und folglich Produktionsmittel ganz überwiegend nur deshalb produziert werden, weil der Staat ihnen nachfragt. Es ist vielleicht möglich, diese Praxis zu verallgemeinern und vom Staat auf die Gesellschaft zu verschieben: Wenn die Gesellschaft über ihr Konsummodell entschieden hat, kann dann eine auf diese Entscheidung verpflichtete Behörde als alleiniges Subjekt der Nachfrage nach solchen Produktionsmitteln auftreten, die zur Umsetzung des Modells geeignet sind? Wir werden gleich sehen, die Idee führt in einen Widerspruch; über dessen Auflösung bin ich mir noch nicht schlüssig.
Alle Produktionsmittel würden von den Unternehmen, die Produktionsmittel produzieren, an diese Behörde verkauft, und die Behörde würde sie an die Unternehmen weiterverkaufen, deren Geschäft die Produktion der Endprodukte ist. Dieser Weiterverkauf würde ohne Preisaufschlag geschehen. Er würde sich erst einmal nur in einer elektronischen Registrierung äußern. Das Unternehmen I, das Produktionsmittel produziert, verkauft wie heute schon an Unternehmen II, das sich mit der Produktion von Endprodukten befasst, aber der Verkauf durchquert den Computer der Behörde. Die Behörde wird nicht jedem Verkauf dieser Art zuschauen, aber sie macht Stichproben und kontrolliert so, ob der Verkauf zu den von der Gesellschaft gewählten Nachfrage-Bedingungen geschehen ist, ob es sich also in diesem Sinn um einen Weiterverkauf handelt, in dem sie, die Behörde, der implizite Weiterverkäufer war.
Die Überlegung führt insofern in den Widerspruch, als sich zwei gegenläufige Hoffnungen an sie knüpfen: Einerseits stellt man sich vor, dass ein Wirtschaftssubjekt, das alle Nachfrage nach allen Produktionsmitteln monopolisiert, stark genug ist, dem gesellschaftlichen Nachfrage-Willen Geltung zu verschaffen. Andererseits soll diese Behörde nur implizit als Käufer und Weiterverkäufer auftreten, damit die Spezialisten-Freiheit der Unternehmen im Rahmen des gesellschaftlich Gewollten und die Freiheit ihres Geschäfts miteinander nicht beeinträchtigt wird. „Unternehmen“ können übrigens Einzelne, Familien, Gesellschaften und auch Genossenschaften sein. Welche Stärke hat das Nachfrage-Monopol, wenn es sich nur in fallweiser nachträglicher Kontrolle äußert?
An dieser Stelle formuliere ich also nur eine Frage. Aber die Denkrichtung wird klar geworden sein. Es geht darum, die vielen Möglichkeiten zu ahnen, die sich hinter dem Ausdruck „gesellschaftliches Eigentum“ verbergen, und zu begreifen, dass dieser Ausdruck eher eine Frage – eine beantwortbare Frage – als eine Antwort ist.
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Noch mehr Themen müssten angeschnitten werden – zur Frage, wie der Gewinn verteilt wird, der beim Produzieren anfällt, habe ich noch gar nichts gesagt -, doch die beiden genannten mögen als Modell erst einmal hinreichen. Man muss aber die Probleme sehen, die in den Themen stecken. Wenn ich von Marktwahlen, von einer Behörde der Nachfrage und des Weiterverkaufs spreche, unterstelle ich natürlich eine Marktwirtschaft und die Existenz von Geld. Also doch keine Andere Gesellschaft, werden manche sagen: Wenn es Geld gibt, gibt es Kapital, und wenn es Kapital gibt, sind Modelle der hier skizzierten Art illusorisch. Mit diesem Einwand setze ich mich noch ausführlich auseinander. Es ist klar, dass er alles aufwiegt, was ich bisher geschrieben habe. Wie es im Sonatenhauptsatz ein Gegenthema und den Kampf zweier Themenblöcke gibt, so auch hier: Konstruktive Phantasie ringt mit einem deprimierenden Schwergewicht, der „Kapitallogik“.
Doch zurück zum obigen Postulat. Vergesellschaftete Produktionsmittel, habe ich gesagt, sind Produktionsmittel, die die Gesellschaft auch dann nicht aus der Hand gibt, wenn sie individuelles Eigentum geworden sind. Aber um sie aus der Hand geben oder in ihr festhalten zu können, muss die Gesellschaft sie erst einmal haben. Es ist schon angeklungen: In gewisser Weise hat sie die Produktionsmittel tatsächlich, und die Frage ist nur, wann sie daraus einmal entschiedene Konsequenzen zieht. Das tut sie bisher nicht. Ein Staat figuriert als ihr Vertreter, der sie nicht wirklich vertritt, vielmehr sein eigenes Staatsinteresse verficht. Und doch stehen im Grundgesetz die Sätze: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Eigentum hat „Inhalt und Schranken“, die „durch die Gesetze bestimmt“ werden. Was will man denn mehr? Dasselbe wird sogar auch vom Erbrecht gesagt. (Artikel 14) Der Staat mag sich an die Stelle der Gesellschaft gesetzt haben, aber so weit, ihr das verbriefte Recht abzuerkennen, ist er nicht gegangen.
Im übrigen: So unbefriedigend es ist, dass er sich an ihre Stelle setzt, ist es doch auch wieder bemerkenswert, wie weit er dann unter Umständen darin geht, sich der Produktionsmittel wirklich zu bemächtigen. In Kriegen hat er das exzessiv getan. Ausgerechnet in Kriegen.
Dennoch hat weder der Staat noch die Gesellschaft die Produktionsmittel in der Hand. Die Gesellschaft bräuchte nur ihr Recht geltend zu machen, aber wie die Dinge liegen, wäre dazu wirklich erst eine „Vergesellschaftung“ notwendig. Wiederum würde die Vergesellschaftung nur darin bestehen, dass die Gesellschaft ihr Recht proklamiert. Vielleicht wäre die Einführung von Marktwahlen ein geeigneter erster Schritt. Doch halt, wovon reden wir? Von einer „Revolution“? Die Frage drängt sich jetzt auf, weil man sich der Gracchen im antiken Rom erinnert: Sie wollten nur das Landrecht durchsetzen, das immer schon gegolten hatte, und entfesselten einen hundertjährigen Bürgerkrieg. Aber schon Friedrich Engels ist zu dem Schluss gekommen, dass „Revolutionen“ in der hoch industrialisierten Gesellschaft unmöglich geworden sind. Dieses Thema will ich in der nächsten Notiz exponieren.