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Gestützt auf eine Überlegung, die sich in der vorausgegangenen Notiz (6) ergab, kann ich heute angeben, was die Hauptthese meines Blogs ist. Ich werde aber nicht gleich anschließend mit ihrer Ausführung beginnen, sondern in den folgenden Notizen zunächst noch die „Exposition“ fortsetzen.
Diese bestand bisher in der Abwehr nahe liegender Missverständnisse. In den Notizen (1) bis (3) habe ich den „Individualismus“ des Ansatzes von Karl Marx unterstrichen. Ich habe zunächst gezeigt, dass wenn er gegen das kapitalistische Prinzip der Privatheit polemisiert, er sich damit nicht gegen das Prinzip der Individuation wendet. Seine Zukunftsperspektive war kein diffuser Kollektivismus, sondern er hoffte auf Individuen, die sich in all ihrer Freiheit zur „Assoziation“ vereinigen. Was das bedeuten könnte, habe ich dann an der harten Realität des Eigentums, gar des Eigentums an Produktionsmitteln geprüft. Man kann sich tatsächlich ein Eigentum vorstellen, das im wesentlichen nicht privat sondern individuell wäre; einzeln, aber nicht abgesondert; nicht gegen die Gesellschaft, seine Quelle, gerichtet, sondern zur Solidarität bereit. Auch ein in diesem Sinn individuelles statt privates Eigentum an Produktionsmitteln ist denkbar. Wie sich der Hundebesitzer am gesellschaftlichen Tierschutzgebot orientiert, würde sich das Eigentum an Produktionsmitteln dem Votum der Gesellschaft über die zu produzierenden Güter beugen.
Da die von mir angedeuteten Zukunftsentwürfe – Grundeinkommen, „Marktwahlen“, „Nachfragebehörde“ – eine Andere Gesellschaft voraussetzen, hielt ich es für geboten, in den Notizen (4) bis (6) die Frage der Revolution aufzuwerfen. Ohne sie auch nur annähernd zu erschöpfen oder gar schon zu beantworten, waren zwei Dinge zu betonen: erstens dass es ganz einfach um den Übergang geht, der zur Ersetzung einer Institution durch eine (oder mehrere) andere geht, einer einzigen Institution, während die übrigen nur eine neue „Färbung“ annehmen, weil sich durch die Ersetzung ihr Kontext verändert. Zweitens dass namentlich der Parlamentarismus zu den bleibenden Institutionen gehört, ja dass er eigentlich selbst schon der beginnende Einbruch der Anderen Gesellschaft in die vorhandene ist. Drittens waren einige Einwürfe gegen den Parlamentarismus zu erörtern. Als deren rationeller Kern stellte sich mir die Tatsache dar, dass dem Parlamentarismus, wie immer ideal man ihn konstruiert, eine grundsätzliche Entfremdung innewohnt. Sie liegt darin, dass die künstlich konglomerierten Mehrheiten, die man in einer Massengesellschaft allenfalls ermitteln kann, zu keiner „politischen Heimat“ für wen auch immer taugen. Solche Mehrheiten sind ein typischer Fetisch: ein Machwerk, das der Macht der Machenden entglitten ist.
Ich habe daraus aber nicht den Schluss gezogen, dass zusammen mit anderen Fetischen nun auch der Fetisch Mehrheit aus dem Verkehr gezogen werden sollte – wie es im realen Sozialismus tatsächlich geschah -, sondern im Gegenteil: Wenn Parlamentarismus, obgleich um einen Fetisch gruppiert, eine gute Sache ist, mag es noch andere Fetische geben, die nicht schon deshalb, weil sie Fetische sind, ins Museum des Altertums gehören. Nein, es stellt sich die Frage, welche Fetische verschwinden müssen (und auch können) und welche bleiben können (und auch müssen). Auf diese Überlegung wird sich meine Hauptthese stützen.
Nachdem ich in diesen bisherigen Teilen der „Exposition“ ein paar mögliche Zukunftseinrichtungen von mir aus entworfen habe, will ich in den noch folgenden Teilen einige interessante Entwürfe anderer vorstellen. Das muss auch deshalb geschehen, weil die Hauptthese ziemlich abstrakt ist. Es ist nun einmal so: Manche Abstraktionen greifen ein in alles Konkrete, das wir nur immer erhoffen können. Also müssen wir uns mit ihnen befassen. Aber weil es doch ums Konkrete geht und um zu unterstreichen, dass wir es nicht aus den Augen verlieren wollen, besichtigen wir manches davon lieber vorher.
Abgesehen hiervon muss ein weiteres „nahe liegendes Missverständnis“ ausgeräumt sein, bevor wir uns zur Hauptsache begeben: Aus meinen Ausführungen in den Notizen (1) bis (3) könnte der Schluss gezogen werden, dass ein künftiges Recht nur noch das „Individuelle“, nicht mehr aber das „Private“ schützen würde. Das Thema Recht also. Ich werde argumentieren, dass beim Übergang in die Andere Gesellschaft Rechtsstaatlichkeit so wenig zur Disposition steht wie der Parlamentarismus.
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Hier nun erst einmal die These. Sie lautet, dass es in der Anderen Gesellschaft kein Kapital mehr geben wird, wohl aber Geld. Keine „Profitmaximierung“, wohl aber einen Markt. Keine Kapitalisten, wohl aber Unternehmer.
Die These kann an dieser Stelle präsentiert werden, weil ein möglicher Einwand schon ausgeräumt ist: dass Geld und Kapital Fetische seien und man solche doch abschaffen müsse. Dagegen habe ich in der letzten Notiz (6) implizit argumentiert. Dass Geld ein Fetisch ist, bestreite ich nicht, bin aber der Auffassung, dass es zu denjenigen Fetischen gehört, die sich nicht abschaffen lassen. Das Problem ist, dass es sich in der kapitalistischen Gesellschaft auch nicht einmal kontrollieren läßt. Nur wenn das Kapital abgeschafft wäre, würde man es einhegen können. In der Anderen Gesellschaft gäbe es frei wirksames Geld, das einer teils prognostischen, teils nachträglichen und so insgesamt hinreichenden gesellschaftlicher Kontrolle unterläge.
Einwände sind aus zwei diametral entgegen gesetzten Lagern zu erwarten. Die einen werden das Kapital verteidigen und seine Verdienste hervorheben. Dabei wird vieles mitgenannt werden, was in meinem Augen nicht spezifisch zum Kapital gehört. Das muss also die erste Frage sein: Wovon reden wir eigentlich genau, wenn wir vom „Kapital“ reden? Im übrigen will aber auch ich keineswegs bestreiten, dass das Kapital Verdienste hat. Man kann es auf solche Katastrophen wie die derzeitige Krise nicht reduzieren. Abgeschafft muss es dennoch werden, womit wir bei der zweiten Frage sind: Was ist eigentlich genau das Schlimme am Kapital, so schlimm, dass die Verdienste, die es auch hat, davon in den Schatten gestellt werden?
Aber nun kommen die anderen und sagen, man müsse vor allem auch das Geld abschaffen, andernfalls von einer Abschaffung des Kapitals zu reden illusorisch sei. Diese Partei beruft sich auf Marx, der in der Logik des Kapitals die von allen Schranken befreite Geldlogik wiederzuerkennen glaubte. Doch stimmen sie gerade hier, wo sie Marx folgen, mit ihren Gegnern überein, den Verteidigern des Kapitals: Während letztere im Kapital weiter nichts als Geld sehen, ist für jene Geld immer schon auf dem Weg, Kapital zu werden. Ich berufe mich ebenfalls auf Marx, wenn ich beiden widerspreche. Die Notwendigkeit einer – nicht nur, aber auch – geldgelenkten Wirtschaft lese ich aus Marx‘ eigenen Texten heraus. Seine Argumente gegen das Geld glaube ich zu kennen und widerlegen zu können.
Ich würde der Behauptung, dass Kapital und Geld „zusammengehören“ und „einander logisch implizieren“, sogar zustimmen. Aber das ist wie bei einer falsch gestellten Frage, die ungeachtet der Wucht, mit der sie auftreten mag, dennoch zurückgewiesen werden kann. Es war auch einmal wahr, dass eine Bewegung einen Anfang und ein Ende habe. Nach einer Bewegung zu fragen, ohne zugleich nach ihrem Anfang zu fragen, das heißt nach der Instanz und Kraft, die sie auf den Weg gebracht, ihr den „ersten Anstoß“ gegeben hatte, war unmöglich. Seit Galilei ist es möglich geworden. Er hat die anfangs- und endlose Bewegung als Objekt der Forschung und der Technik entdeckt. Dabei hatten sich Bewegung und Anfang in strenger Logik wechselseitig impliziert! Man konnte sie eben trotzdem trennen.
Wir werden sehen, das Beispiel ist nicht nur ein Beispiel, es hat viel mit unserer Frage nach dem Kapital zu tun. Es macht schon als Beispiel etwas klar: Wer zwei Dinge trennt, die scheinbar unlöslich zusammengehören, tut das nicht in jedem Fall deshalb, weil es ihre ursprüngliche Wahrheit war, getrennt zu sein, und sie sich nur nachträglich verkittet haben, so dass gesagt werden kann: Das war ja nur Kitt, das trennen wir wieder. Sondern es gibt veritable Einheiten, die als Einheiten schon auf die Welt kamen, die nie etwas anderes waren – und doch kann man sie auflösen.
3
Da bewegen wir uns, wie gesagt, auf einer sehr abstrakten Ebene. Aber es handelt sich doch auch um eine vor unseren Augen sich abspielende Bewegung. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks hatte viele Ursachen. Eine davon waren die Selbstblockaden des ökonomischen Systems. In ihm war nicht nur das Kapital abgeschafft, es gab auch kein frei konvertierbares Geld, mit anderen Worten, es gab kein Geld. Jedenfalls war keines vorgesehen. Auch einen freien Markt sollte es nicht geben. Als jedoch der Versuch, die Wirtschaft ohne Geld staatlich zu planen, sich nicht glatt durchführen ließ, setzte eine Reformdiskussion ein, die immer wieder um die Frage kreiste, bis zu welchem Grad man Geld und Markt nicht doch einführen könne und müsse. Indessen scheint Geld zu den Dingen zu gehören, die es nur ganz oder gar nicht geben kann, ähnlich wie es unmöglich ist, bis zu einem gewissen Grad schwanger zu sein. Und so hatte die Sowjetunion ihren freien Markt, nur war er unerlaubt und verboten, ein verdrängter Markt im polizeilichen wie im psychoanalytischen Sinn. Er hat sich trotzdem immer mehr ausgedehnt und das System der staatlichen Planung zunehmend unterwühlt.
Die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Aber es gibt China. Als es noch unter Maos Herrschaft stand, polemisierte es gegen die sich ungewollt herausbildenden Ware-Geld-Beziehungen in der Sowjetunion. Der Versuch, dergleichen in China zu verhindern, führte zu jener „Kulturrevolution“, die das Land so viele Opfer kostete und schließlich doch abgeblasen werden musste. Die KP Chinas folgte nun dem Reformer Deng, für den klar war, dass es ohne Ware-Geld-Beziehungen nicht geht. Was wir seitdem von China erfahren, ist schwer zu interpretieren. China hat auch dem Kapital schrittweise immer mehr Eingang verschafft und es gleichzeitig zu kontrollieren versucht. Hier beginnen die Fragen: Wohnen wir schlicht einem langwierigen Übergang zum Kapitalismus bei? Oder ist Chinas Bereitschaft, mit dem Kapital zusammenzuarbeiten, nur der Preis dafür, dass es klug genug ist – eine Klugheit im ökonomischen und auch im politische Register -, sich vom Weltmarkt nicht abzuschotten? Im übrigen auch klug genug, eine industrielle Revolution, bei der es einst auch im Westen nicht fromm zugegangen war, derjenigen Macht zu überlassen, die gerade Marx geschichtsphilosophisch dafür vorgesehen hat, eben dem Kapital?
Ich weiß es nicht. Aber der ganze Vorgang wirft die Frage auf, ob es nicht völlig legitim ist, wenn auch an Marx sich orientierende Ökonomen zu dem Schluss kommen, „dass es ohne Geld nicht geht“.