(9) Was zu einer Wirtschaftsdemokratie gehört

4. Entwürfe der Anderen Gesellschaft / Erster Teil – Über den Unterschied des Individuellen und Privaten. Vorschein der Anderen Gesellschaft

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„Eine andere Demokratie für eine andere Wirtschaft“ heißt der Aufsatz von Michael Krätke, abgedruckt in Widerspruch 55, Zürich 2008, den ich in dieser Notiz besprechen will. Im Titel spiegelt sich Krätkes Vorgehen, die Frage einer anderen Wirtschaft von der Demokratiefrage her anzugehen. Parlamentarismus, schreibt er, lässt sich mit Kapitalherrschaft vereinbaren und kann also nicht schon als Synonym für Demokratie gelten. „Wirtschaftsdemokratie“ muss dazukommen. „In einer Wirtschaftsdemokratie wird der gesamte Wirtschaftsprozess auf allen Ebenen politisiert, zur öffentlichen Angelegenheit aller Beteiligten und Betroffenen gemacht, hört auf, Privatsache zu sein und von der Privatmacht von Privatpersonen bestimmt zu werden.“

Man darf das nicht falsch verstehen. Der Satz ist keine vollständige Definition von Wirtschaftsdemokratie. Denn man muss unterscheiden: Wenn etwas nicht von „Privatpersonen bestimmt“ wird, heißt das nicht im Umkehrschluss, es werde vielmehr von allen unmittelbar entschieden. Und ein Prozess, der auf allen Ebenen „öffentliche Angelegenheit“ ist, ist dennoch kein Prozess ohne Räume des „Bestimmens“ durch Privatpersonen. Weil das nicht unmittelbar einsichtig ist, sollten wir uns nicht gleich auf Krätkes Vorschläge stürzen, die das alles schon berücksichtigen, sondern erst einmal einen deutlichen Begriff von „Demokratie“ zu gewinnen versuchen.

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In einer Demokratie, und ich versuche jetzt nicht zu definieren, wie sie sein sollte, sondern wie sie immer und überall ist, realisiert sich die namengebende „Volksherrschaft“ in drei recht verschiedenen Kompetenzen des „Volkes“, das heißt aller, die zur Gesellschaft gezählt werden: erstens einer unmittelbaren Entscheidungskompetenz, zweitens einer Ermächtigungskompetenz und drittens einer Kompetenz, für den ich den Ausdruck „Mitbestimmung“ verwenden will, obgleich er sonst in eingeschränkterer Bedeutung gebraucht wird als hier.

„Mitbestimmungskompetenz“ soll die Kehrseite und das Pendant der individuellen Freiheit heißen: Das freie Individuum beansprucht, über Angelegenheiten, die alle freien Individuen gleichermaßen betreffen, seine Stimme abzugeben, und es erwartet, dass alle Individuen sich der Bestimmung durch die Stimmenmehrheit beugen, es selbst eingeschlossen, auch wenn es für die Minderheit gestimmt haben sollte.

Darin ist enthalten, dass das freie Individuum neben Angelegenheiten, die alle betreffen, auch Angelegenheiten kennt, die allein Sache des freien Individuums sind. Deshalb muss erst einmal festgelegt werden, von welchen Angelegenheiten man glaubt, dass, weil alle betroffen sind, auch alle über sie mitzubestimmen haben, und von welchen man es nicht glaubt. Eine solche Festlegung kann nur mittels einer unmittelbaren Entscheidungskompetenz erfolgen. Unmittelbare Entscheidungskompetenz erweist sich als das grundlegend demokratische Moment. Indessen beginnt offenbar die Ausübung dieser Grundkompetenz mit dem Verzicht darauf, sich selbst ständig ins Spiel bringen zu wollen. Denn wenn Demokratie das Recht aller Individuen wäre, in Mehrheitsbeschlüssen über alles mitzuentscheiden, was Individuen je tun und lassen, wäre es albern, sie noch als „frei“ zu bezeichnen.

Es ist klar, der Umfang dessen, was als Angelegenheit aller gilt, kann sich ändern und ändert sich tatsächlich. Man werfe nur einmal einen Blick in Platons Nomoi: Platon schlägt vor, und er gilt zu seiner Zeit nicht als verrückt, die Verheiratung der Töchter-Waisen eines Vaters, der kein Testament hinterlassen hat, einer öffentlichen Behörde zu übertragen; die soll einen Gatten aus der Verwandtschaft aussuchen, damit das Landeigentum in der Vatersippe verbleibt. „Was aber die Wahl der richtigen Zeit für die Hochzeit anlangt, so soll über deren Angemessenheit und Unangemessenheit der Richter mit prüfenden Augen entscheiden, indem er die Jünglinge ganz nackend, die Jungfrauen bis zum Nabel entblößt besichtigt.“ (Nomoi 925a) So viel Mitbestimmungskompetenz hat sich in unserer Zeit nicht einmal Hitlers „Lebensborn“ angemaßt. Aber bis in die 1970er Jahre hinein hielten sich westliche Demokratien für befugt, über die Sexualität zwischen Erwachsenen mitzubestimmen. Da waren die Bürger zweifellos „betroffen“, es ging sie trotzdem aus heutiger Sicht nichts an, es ging ihnen nur nahe. Noch heute wird es aber nicht als Privatsache betrachtet, wenn ein Erwachsener einen anderen mit dessen Einwilligung verspeist, wie vor ein paar Jahren geschehen.

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Das Stichwort ist gefallen: Gesellschaftliche Mitbestimmung heißt, es wird nicht alles als Privatsache anerkannt. Darin liegt umgekehrt, dass einiges, sogar vieles oder, wer weiß, fast alles als Privatsache anerkannt wird. Auf diese Weise wird das Recht der Privatsache, das Privatrecht, das Recht überhaupt allererst konstituiert.

Ich will es ausführlicher sagen, um die Verschiedenheit von „privat“ und „individuell“, die ein roter Faden meines Blogs ist, noch einmal zu bewähren: Zuerst ist es die individuelle Freiheit selber, die sich in der Mitbestimmung der gemeinsamen Angelegenheiten aller Individuen äußert, ja geradezu definiert. Eine Sache definieren heißt ja ihr Ende (finis) angeben, die Aufzählung ihrer Bestimmungsmomente voll-enden. So ist die Mitbestimmung der Angelegenheiten anderer das „letzte“ Moment meiner eigenen Freiheit, sie ist es auch deshalb, weil daraus logisch die Mitbestimmung meiner eigenen Angelegenheiten durch andere folgt. Meine individuelle Freiheit hat also ein Ende, das mir nicht etwa von außen aufgezwungen wird, sondern um sie zu vollenden, setze ich das Ende selbst.

Zweitens aber, ich setze mein Mitbestimmen nicht als das Ganze meiner Freiheit, sondern nur als ihr Ende, und schaffe ihr dadurch einen Innenraum, in den sich andere nicht einzumischen haben. In diesem Innenraum ist meine Freiheit ebenso individuell wie da, wo sie ihr Ende hat – Selbstbestimmung und Mitsprache sind kein Widerspruch -, aber hier wird das Individuelle zum Privaten, und indem ich einen solchen Privatraum für mich selbst proklamiere, erkenne ich ihn auch bei anderen an.

Wenn in einer Wirtschaftsdemokratie der gesamte Wirtschaftsprozess „aufhört, Privatsache zu sein“, heißt das also nicht, dass in ihm kein Privathandeln und -haben mehr vorkommt, sondern es heißt, dass der Bereich des Privaten sich aus einer vorgängigen Entscheidung aller Individuen ergibt, darüber, was sie mitbestimmen und was nicht. Krätke will darauf hinaus, dass sie diese Entscheidung heute noch einmal neu und anders fällen müssten. Eine andere Grenzziehung zwischen dem Privaten und dem Mitbestimmten wäre sinnvoll.

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Es bleibt noch die „Ermächtigungskompetenz“ zu erörtern, damit können wir es kurz machen. Wenn ich in einer Mitbestimmungssache meine Stimme abgebe, werde ich in der Regel nicht unmittelbar entscheiden wollen, sondern andere einsetzen, denen ich das Wissen und Können zutraue, es für mich zu tun. Weniger noch, ich werde andere einsetzen, die ihrerseits andere einsetzen, indem ich zum Beispiel eine Partei wähle, die einen Bundesverkehrsminister stellt, der einen Bahnchef einsetzt. Wo käme ich hin, wenn ich mir Gedanken über den geeignetsten Mehdorn-Nachfolger machen müsste? Die interessante Frage in diesem Zusammenhang ist aber, welche Dinge ich dann doch unmittelbar entscheiden will, in Wahlen, statt andere zu ermächtigen. Ich verstehe von der Bahn nicht so viel, dass ich den Personalchef spielen könnte, und mir fehlen Zeit und Lust, dergleichen erlernen zu wollen. Aber wie viel Bahnverkehr es im Verhältnis zu wie viel motorisiertem Individualverkehr geben sollte, das würde ich gern selbst mitentscheiden, statt es an irgendwelche Minister zu delegieren.

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Damit sind wir bei dem, was Krätke konkret vorschlägt: „Der Souverän wird erst Herr der Volkswirtschaft, wenn er über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung entscheiden kann, wenn also volkswirtschaftliche Rahmenpläne für unterschiedliche Perioden zur Debatte und Abstimmung anstehen.“ Solche Pläne gibt es im Kapitalismus ohnehin, nur wird über sie bisher nicht demokratisch entschieden. Wenn sich das hoffentlich einmal ändert, werden trotzdem nicht alle mit allem unmittelbar befasst sein. „Es wird – analog zu heutigen Ministerien, aber völlig anders organisiert – zahlreiche Spezialorganisationen brauchen, vom Planbüro über die Zentralbank bis zu speziellen Preis-, Lohn- und Kartellämtern“. Und eine weitere, noch wichtigere Einschränkung: Der Vorschlag läuft auf eine Art „Planwirtschaft“ hinaus, aber sie „darf die individuelle Wahlfreiheit […] nicht aufheben“, nur begrenzen.

Der gesellschaftliche Bereich, in dem alle Individuen unmittelbar mitentscheiden, wird diesem Vorschlag gemäß vorsichtig, aber wesentlich erweitert. Sie entscheiden nicht mehr nur darüber, wen sie unter der Voraussetzung, dass der Bereich ihres Mitbestimmens ja längst definiert ist, zum Entscheiden ermächtigen. Vielmehr definieren sie diesen Bereich neu, und wenn sie es getan haben, delegieren sie die Mitbestimmung nicht, sondern üben sie selbst aus. Sie wählen eben nicht nur Parlamente, sondern auch „volkswirtschaftliche Rahmenpläne“. Die von Krätke aufgezählten Behörden, „Preis-, Lohn- und Kartellämter“, sind erst einmal dazu da, eine solche Wahl vorzubereiten, zu ermöglichen, zu qualifizieren. Das „Preisamt“ zum Beispiel würde nicht Preise festsetzen, sondern die preislichen Konsequenzen verschiedener Rahmenpläne voraussagen.

Krätke gehört zu denen, die einen „Marktsozialismus“ anstreben, und sein Entwurf ist ziemlich detailliert. Es geht um „regulierende, normierende und kontrollierende Institutionen“. Die gibt es schon, sie sind zu verbessern und ihrerseits demokratischer Kontrolle zu unterwerfen. „Obendrein kann eine demokratisch organisierte Gesellschaft darüber entscheiden, welche Märkte sie zulassen, welche sie begrenzen, welche sie schließen will.“ Damit sind wir bei der aktuellen Finanzkrise: Die Weltbörsen als „Knotenpunkte des Netzwerks der internationalen Finanzmärkte“ sind „in öffentliche Unternehmen“ zu verwandeln. „Denn ohne ein entwickeltes Kreditsystem kommt kein Marktsozialismus aus. […] Allerdings braucht eine wirtschaftsdemokratische Ordnung kein fiktives Kapital“, das heißt keine in Kapital umgewandelten Wechsel auf Kredite, deren Rückzahlung unsicher ist, „also auch keinen Markt dafür und keine Gruppe von Entrepreneurs [Unternehmern], die sich auf den Handel mit fiktivem Kapital spezialisieren.“

Es geht darum, „die Börsen in öffentliche Einrichtungen umzuwandeln, den allgemeinen Börsenzwang für Finanzmarkttransaktionen durchzusetzen, bestimmte Formen der Spekulation […] zu verbieten“, „eine allgemeine Steuer auf sämtliche Finanzmarkttransaktionen auf allen Börsen und Finanzplätzen Europas einzuführen und zugleich die Offshore-Märkte und Steuerparadiese zu schließen“. Um die Finanzmärkte wirklich kontrollieren zu können, muss man außerdem auch die europäischen Clearing-Häuser, 20 an der Zahl, und drei großen Rating-Agenturen vergesellschaften. Clearing-Häuser sind Orte, in denen Beziehungen zwischen Käufern und Verkäufern gebündelt, vermittelt und verrechnet werden. Das Geschäft der Rating-Agenturen ist die Bewertung der Kreditwürdigkeit von Unternehmen und Staaten.

Was Krätke vorschlägt, ist eine gewaltige, aber doch überschaubare Aufgabe.

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„Demokratisierung der Wirtschaft heißt unweigerlich: Entmachtung der Banken, des Bankensystems, Entmachtung der Zentralbanken.“ Geld, Kredit und Finanzmärkte sind „bereits ‚öffentliche‘ Angelegenheiten, die alle Geldbesitzer betreffen“, sie werden aber im Kapitalismus „als private Veranstaltungen behandelt“.

Dem ist nur hinzuzufügen, dass auch das Kapital alle Geldbesitzer betrifft und es daher ebenfalls keine Privatsache ist. Das soll nicht heißen, dass der einzelne Kapitaleigner keinen Privatraum seines Eigentums hätte. Aber „das Kapital“ ist nichts, was ein Einzelner besäße. Es ist eine öffentliche Veranstaltung wie „das Geld“. Eine Institution, die sich mit der Institution Geld zwar überschneidet, aber auch von ihr verschieden ist.

Das heißt nun allerdings, dass gesagt werden müsste, wie man sich das Verhältnis von Geld und Kapital zueinander vorstellt, wenn ein „Marktsozialismus“ zur Debatte steht. Denn es gibt die Behauptung, und sie stammt immerhin von Marx, Geld werde notwendig zu Kapital, Kapital notwendig zu fiktivem Kapital. Wenn das richtig wäre, würde es ja gar nichts nützen, mit Krätke den Markt für fiktives Kapital zu schließen, während es zugleich Geld gibt und geben soll.

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Der Kern von allem ist natürlich, dass die Struktur „des Kapitals“ zu klären bleibt. Was Geld ist, wissen wir alle wenigstens ungefähr, schon weil wir welches haben, wir würden deshalb einen Begriff wie „fiktives Geld“ sofort verstehen. Aber warum verstehen wir Bahnhof, wenn von „fiktivem Kapital“ die Rede ist? Wahrscheinlich deshalb, weil schon beim Begriff des „richtigen“ Kapitals das Verständnis aufhört. Ist da nicht immer Kredit im Spiel, und welche Rückzahlung wäre letztendlich absolut sicher?