(27) La Politique potentielle

4. Die Herkunftsfigur kapitalistischer Endlosigkeit von Cusanus bis zur Industriellen Revolution / Zweiter Teil – Die historische Besonderheit des Kapitals im Allgemeinen

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Nachdem ich dargestellt habe, dass es eine Strukturanalogie gibt zwischen der Kapitallogik und einem neuzeitlichen „deistischen“ Diskurs, der dazu zwingt, „alles zu tun, was möglich ist“, und zwar alles Unendliche, denn es scheint unendlich viele Möglichkeiten zu geben, und dass die wesentlichen Züge dieses Diskurses, auf den wir zuerst bei Spinoza gestoßen sind, den aber noch Hannah Arendt reflektiert, sich zuerst in der Philosophie des Cusanus versammelt finden: stellt sich die Frage, was wir davon denn gewonnen, was wir nun eigentlich entdeckt haben.

Zweierlei. Erstens, wir haben zwar noch gar nicht gefragt, wie es im Kontext dieser bloßen Diskursgeschichte zur wirklichen Herausbildung wirklichen Kapitals kommt, sehen aber im Vorbeigehn, was hier „wirkliches Kapital“ bedeutet, um welche Art Wirklichkeit es sich handelt. Dazu möchte ich an die Bemerkung in der 4. Notiz erinnern, dass es, wenn wir vom Weg in die Andere Gesellschaft reden, im Grunde nur um die Abschaffung einer einzigen „Institution“ geht, nämlich eben des Kapitals, und an den Satz am Anfang der 14. Notiz: „Wenn ich sage, das Kapital ‚hört auf zu existieren‘, meine ich natürlich, verschwinden wird das, was Kapital spezifisch zu Kapital macht, während es zugleich unspezifische Kapital-Elemente und -Dimensionen geben mag, die fortdauern.“ Dies Spezifische habe ich von da an als „Wachstumszwang“, wie er im Alltag erscheint, gekennzeichnet, in Marxscher Terminologie als unendliche Wiederholung und Steigerung der Bewegung G-W-G‘. Das ist die Kapitalwirklichkeit, und damit ist gesagt: Es steht weiter nichts zur Debatte als dieser Zwang zur Unendlichkeit – dessen Unvernunft so sehr ins Auge springt, dass man meint, es müsse doch leicht sein, sich auf seine Beseitigung zu einigen, aber auch, das sei ja nur eine einzelne Sache, nach deren Verschwinden wir schwerlich schon in der Anderen Gesellschaft wären.

Aber nun haben wir gesehen, in dieser „Einzelheit“ steckt eine ganze Diskursgeschichte. Man fühlt sich an Zwangsneurosen erinnert: Da ist eine Symptomatik, die offen zu Tage liegt und irgendwie gar nicht schlimm ist, denn wir leben ja mit „dem Wachstum“ und kommen ganz gut zurecht. Obwohl uns der Zwang jederzeit bewusst ist, brauchen wir ihm keine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das ist die Art Wirklichkeit, die man mit der Spitze eines Eisbergs vergleicht. Der Eisberg kommt nicht vor, er ist aber da, das ist seine paradoxe Natur. Und er ist zudem recht groß. Die bloß einzelne Sache wird also nur mit großer Anstrengung entfernt werden können. Umso wichtiger ist es, sie nicht mit andern Sachen zu vermengen, die Mühe wirklich nur auf sie zu konzentrieren.

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Ich kehre zur Frage nach der Herkunft des Kapitals zurück. Wie wir gesehen haben, lässt sich Fernand Braudels These, die Kapitalentstehung habe von der Schwäche der europäischen Staatlichkeit profitiert, nicht halten. Im Gegenteil, ein wichtiger, ja zentraler Herkunftsfaktor ist gerade die kräftige Intervention des Staats der Neuzeit. Zu dieser Kraft ist noch Einiges auszuführen; ich könnte das aber nicht tun, hätten wir nicht Einsicht in die genannte deistische Diskursfigur genommen. Der Staat übernimmt nämlich jenen „Zwang, alles zu tun, was möglich ist“, und die Folge ist sein Erstarken. Er erstarkt so sehr, dass er das Kapital hervorruft, um noch stärker zu werden.

Doch was geschieht hier eigentlich? Das ist unsere zweite Entdeckung: Die staatliche Übernahme der deistischen Figur ist gleichbedeutend mit der Entstehung einer historisch ganz neuen Staatsreligion. Der Staat selber, sagt diese Religion, ist das vorgezeichnete Wesen, das alle unendlich vielen Möglichkeiten in die Tat umsetzt. Die Möglichkeit, Möglichkeit umzusetzen, heißt aber Macht. Beides zusammengezählt, darf der Staat von nun an die „absolut“ unbeschränkte Allmacht sein. Man kann sagen, er darf es aus religiöser Überzeugung, aber auch, er muss es, weil sozusagen ein religiöser Auftrag vorliegt.

Das ist markant. Wie ich in der 23. Notiz erinnert habe, sind Staaten immer einer gewissen religiösen Bindung verhaftet gewesen, die aber immer auf Macht b e g r e n z u n g  gezielt hatte. Lässt man dies außer Acht, kann man leicht glauben, der neuzeitliche Staat sei einfach ein Machtstaat, wie es alle früheren Staaten auch waren, er sei es nur eben in gesteigerter und immer mehr sich steigernder Form. Der nächste Schritt wäre dann die Schlussfolgerung, alle Probleme rührten von der Machtstaatlichkeit, also von der Staatlichkeit her, und wiederum für die staatliche Machtballung sei in letzter Instanz der Machtanspruch „des Menschen“ überhaupt verantwortlich, oder vielleicht des Mannes. So zu denken ist nicht absurd, aber es ist doch nur halb richtig, und der entscheidende Punkt wird verkannt. Entscheidend ist, dass die pure Machtentfaltung zwar immer versucht wurde, aber immer auch ein Gegengewicht in religiösen Doktrinen fand, die eher auf Statik zielten. Das war im antiken Rom ebenso wie im alten China der Fall, und es galt auch im europäischen Mittelalter.

Von der jeweiligen religiösen Staatsdoktrin ging eine gewisse Begrenzung der allgemein „menschlichen“, männlichen Machtentfaltungsmotivation tatsächlich aus, mag sie auch nur darin bestanden haben, dass die jeweiligen Akteure Macht nur um eines begründbaren Nutzens willen, nicht aber um ihrer selbst willen entfalteten. Eben ein solcher Selbstlauf der Macht begann aber, als der neuzeitliche Staat auf die Bühne trat. Jetzt wurde er von seiner religiösen Doktrin nicht mehr gehemmt, sondern erst richtig aufgepeitscht zu einem unerhörten „Willen zur Macht“, den es so als bewussten, offen eingestandenen, völlig entfesselten Willen nie gegeben hatte. Für den Moment mag es genügen, auf das bekannte Spätstadium dieses Prozesses zu verweisen: die Französische Revolution, Napoleon und dessen Rolle als Katalysator des Nationalismus, der in Imperialismus und noch Schlimmeres überging. Dass die Französische Revolution in der Aufklärung vorbereitet wurde und die Aufklärer sich nicht selten in Freimaurerlogen organisiert hatten, ist bekannt. In dieser Bewegung spielten Deismus und Spinozismus eine wichtige Rolle.

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Nun hat mein eigenes Denken keine anderen Quellen als die Aufklärung. Die Aufklärung ist aber eben eine zweideutige Angelegenheit, das haben schon andere festgestellt. Zweideutig ist hier überhaupt alles: die Französische Revolution ebenso wie Napoleon, alle Philosophen von Spinoza bis Nietzsche – es war einseitig, dass ich sie nur danach befragt habe, was sie zum Machtentfaltungsdiskurs beitrugen – und vorher schon, wie gezeigt werden wird, die argumentative Grundlegung bei Cusanus. Das ändert aber nichts daran, dass in dieser Bewegung der Allmachtsdiskurs entstand und dass ein Zeitpunkt kam, wo ihre Exponenten die Staatsmacht übernahmen.

Natürlich nahm der Diskurs einen völlig anderen Charakter an, als nicht mehr nur die Intellektuellen der Aufklärung ihn dachten, sondern er zum Fundament des Denkens der Staatsakteure wurde. Man kann pauschal unterstellen, dass außerstaatliche Intellektuelle von Spinoza über Schiller bis Beethoven in der deistischen Macht nur das Gute wiederfanden oder erhofften, das von einem kommenden Gott nur immer erwartet werden konnte. Es ist dennoch signifikant, dass nach John Toland, den ich in der 25. Notiz erwähnte, auch Schiller einen Aufsatz über Moses als Begründer der deistischen Vernunftreligion schrieb, dass Beethoven von dort einen Satz herausschrieb und auf seinem Schreibtisch postierte und dass Mozart seinen Vernunftglauben in einer „ägyptischen“ Oper verkündete, der Zauberflöte. Diese Zusammenhänge hat Jan Assmann aufgearbeitet. Nach meinen zusätzlichen Überlegungen muss man hier immer auch die Anwesenheit der Figur des Zwangs, alles zu tun, was möglich ist, unterstellen.

Wie sehr nimmt sie eine andere Färbung an, wenn sie in Beethovens treibenden Themen erscheint, exemplarisch etwa im Kopfsatz des Streichquartetts op. 18 Nr. 4 – vgl. dazu die Bemerkung über Wagners „Treibhaus“ in der 14. Notiz -, oder wenn Napoleon sie dadurch exekutiert, dass er ganz Europa zu unterwerfen trachtet! Schweigen wir von Späteren, die sich wiederum an Napoleon orientierten; doch schweigen wir nicht ganz. Hitler mit Napoleon zu vergleichen, geht nicht an, denn Napoleon war nie unmenschlich, und er war trotz allem ein Bote der Freiheit. Man darf dennoch fragen, ob die Struktur der Machtentfaltung um ihrer selbst willen nicht etwas ist, das beide verbindet und in Hitler nur endlich das Stadium der Selbstanzeige erreicht. „Den Visionen sollten keine Grenzen gesetzt werden“, schreibt Ian Kershew: Hitler will neue Territorien zuletzt nur deshalb erobern lassen, weil die Dynamik der NS-Bewegung es so verlangt (Hitler 1936 – 1945, München 2002, S. 457). Hannah Arendt verallgemeinert, dass es „ein politisches Ziel, bei dem die [NS-] Bewegung an ihr Ende kommen würde, […] überhaupt nicht [gibt]“ (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 528).

Bei Hitler hört jede Zweideutigkeit auf. Er ist in der Unendlichkeit gleichsam wirklich angekommen, und da sieht man, was es mit ihr auf sich hat. Da geschieht Auschwitz, die „schrankenlose“ Untat (Susan Neiman, Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt/M. 2004, S. 26 f.). Aber wenn Intellektuelle wie Schiller für das Gute einstehen und es erhoffen, erhoffen sie es nicht im Grunde von derselben unendlichen Bewegung, deren Fluchtpunkt sie nur noch nicht durchschauen? Muss es nicht quälen, wenn man Schillers Theologie im Nachhinein liest, „der Tag der Deutschen“ sei „die Ernte der ganzen Zeit“, der „deutsche Sohn“ nämlich sei „erwählt von dem Weltgeist […], den großen Prozess der Zeit zu gewinnen“ (aus dem Gedichtentwurf Deutsche Größe)? Zwar ist zu seiner Ehrenrettung zu sagen, dass gerade er die Zweideutigkeit des Diskurses bemerkte und offensiv aufzulösen versuchte (dazu mein Aufsatz Das Unendliche und der Tod, in: Denken mit Schiller. Ästhetik & Kommunikation 128/2005, S. 57-63). Gleichwohl ist er es und nicht Hitler, der im zitierten Satz die staatliche Allmachtsreligion am präzisesten formuliert.

Man kann auch auf Pol Pot verweisen. Wie ich einem Buch von Thomas Seibert entnehme, das ich für den Freitag rezensieren will, geht dieser Kampfname eines Kambodschaners, der mit bürgerlichem Namen Saloth Sar hieß, „auf die Wendung La Politique potentielle zurück, womit die Politisierung des Möglichen und die Ausrichtung der Politik an diesem Möglichen gemeint ist“ (Krise und Ereignis, Hamburg 2009, S. 68).

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Kommen wir nun zu den Anfängen bei Cusanus. Wie ich in der 26. Notiz ausführte oder vorerst nur behauptete, argumentiert Cusanus noch, hat also nicht eigentlich den Diskurs geschaffen, von dem die Rede ist; der ging erst später aus cusanischen Argumentationsresten hervor. Bei der Logik dieses Prozesses müssen wir verweilen, um zunächst die Frage zu beantworten, worin die „ökonomischen Basis“ des deistischen intellektuellen Prozesses bestand. Vor welchem Hintergrund hat es zum cusanischen Denken kommen können? Ich habe bereits auf Blumenbergs Untersuchung verwiesen – Cusanus sucht eine innertheologische Krise zu bewältigen – und hinzugefügt (in der 25. Notiz), dass es dazu wohl eine außertheologische Entsprechung gegeben haben wird. In unserm Zusammenhang genügt es, sich auf die lang anhaltende Agonie des Mittelalters zu beziehen, die bereits um 1300 einsetzte. Wir finden sie bei Jacques Le Goff beschrieben: „Die dem Anbau vorbehaltenen Flächen erweisen sich als nicht weiter einschränkbar und die Ernährung des Viehs mit der wichtigeren des Menschen unvereinbar.“ Wer hierin eine Ähnlichkeit zur heutigen ökologischen Krise entdeckt, lese an Ort und Stelle nur weiter (Das Hochmittelalter, Frankfurt/M. 1965, S. 278).

Aber das „zu Beginn des 14. Jahrhunderts erreichte geographische Limit ist nicht nur landwirtschaftlicher, sondern auch kommerzieller und politischer Natur“. „Sogar die friedliche Expansion der Kaufleute erreicht zu Beginn des 14. Jahrhunderts ihre Grenzen.“ Ferner kommt die spanische Reconquista „zwei Jahrhunderte lang an den Grenzen des kleinen Königreichs Granada zum Stehen und die Könige von Kastilien und Aragon finden nur schwer Siedler, um die im Lauf des Jahrhunderts eroberten Gebiete zu bevölkern.“ Auch muss die lateinische Herrschaft über Byzanz und das Heilige Land aufgegeben werden. (S. 180 f.) Hier haben wir den Kontext, der noch der cusanische sein wird: Nachdem die Westeuropäer Byzanz 1261 verlassen mussten, scheitern 1274 auch die Unionsverhandlungen zwischen römischer und orthodoxer Kirche (ebd.), wie sie anderthalb Jahrhunderte später unter Beteiligung des Kardinals Cusanus zwar nicht scheitern, aber ein folgenloser Fehlschlag sind. Danach fällt Byzanz, und in derselben Zeit fährt Kolumbus nach „Indien“, wo die Könige später Mühe haben, die Siedlerbewegung in Grenzen zu halten.

Ich will diesen Befund verallgemeinern: Erstens, die ökonomische Basis der cusanischen Argumentation ist nicht eine ökonomische Ordnung, sondern eine ökonomische Unordnung. Es geht also nicht darum, funktionierende Logik des Ökonomischen im cusanischen Denken wiederzufinden, etwa das Bilanzdenken der Kaufleute, von denen wir ja hören, dass auch sie „ihre Grenzen erreichten“. Vielmehr ist dies Denken ein Zersetzungsreflex. Soweit wir der Kapitallogik auf Umwegen cusanische Herkunft werden zuschreiben können, muss dieser Logik dann selber die Zersetzung eingeschrieben sein, sei es, dass sie ihr standgehalten, sich wohl gar von ihr befreit hätte, oder sei es, dass sie, mit dem Marxschen Ausdruck, nur ihre „Bewegungsform“ ist.

Von hier aus gelangen wir zur zweiten Verallgemeinerung: Cusanus ist natürlich nicht der Einzige gewesen, der auf die Zersetzung denkend und handelnd reagierte. Er steht vielmehr in einer Reihe mit Figuren wie Kolumbus. Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass beide auf die Zersetzung mit Flucht reagieren, einer Flucht in die Eschatologie, einer vermeinten Fahrt ins Reich Gottes. Dieses hat Kolumbus buchstäblich hinter der Mündung des Orinoko vermutet (vgl. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1967, S. 907), während Cusanus eine theologische Version des nun möglich, aber auch zwingend gewordenen Aufbruchs zum unendlichen Gott bietet. Dass aber gerade er für die Diskursgeschichte so wichtig wird, liegt daran, dass Giordano Bruno auf ihn zurückgegriffen hat. – Ich setze die Betrachtung in der nächsten Notiz fort und füge dort noch eine dritte Verallgemeinerung hinzu.