(105) Zwischenzusammenfassung I

Erste Abteilung / Fünfter Teil – Proportionswahlen

Wie angekündigt setze ich die Blogreihe zur Anderen Gesellschaft mit einer Zusammenfassung des Bisherigen fort, einer Arbeit, die bis zum Frühjahr 2013 immerhin vier Jahre gedauert hat, auch weil ich sie häufig nur „nebenbei“ betreiben konnte. Ich habe in dieser Zeit alles erörtert, was sich dem vorausschicken lässt, worauf ich hinauswill:  V e r g e s e l l s c h a f t u n g  d e r  Ö k o n o m i e , aber nicht durch Verstaatlichung, sondern  d u r c h  a l l g e m e i n e  W a h l e n . Dies um den gescheiterten Kapitalismus abzulösen. Wie es aussehen könnte, ist dann mein nächster Punkt. Die derzeitige Zwischenzusammenfassung soll wenigstens die Hauptpunkte des Bisherigen festhalten. Sie wird auch einige Erwägungen zuspitzen, statt sie nur zu wiederholen. Ich gebe sie in fünf Teilen, die alle schon geschrieben sind. Ich will den zweiten Teil schon übermorgen ins Netz stellen und auch die folgenden in Zweitagesabständen, so dass nicht nur alles vor Heiligabend abgeschlossen sein wird, sondern ich wohl auch zum genannten nächsten Punkt, den Wahlen, einen ersten Eintrag bis dahin schaffe. Außerdem steht dann ein neuer Eintrag im Tagebuch.

 

Über den Unterschied des Individuellen und Privaten

Der so überschriebene Erste Teil (bis zum 13. Eintrag) ist als Exposition angelegt, in der die Hauptthesen benannt werden. Sie beziehen sich auf Ökonomisches, werden aber auch rechtlich und politisch ansatzweise verortet. Es geht um die Frage, ob und wie die Andere Gesellschaft möglich ist, die an die Stelle der vorhandenen kapitalistischen treten könnte. Den Unterschied zwischen „individuell“ und „privat“ mache ich mit Karl Marx, der schon in den Grundrissen fordert, dass der ökonomische Austausch kein Austausch von Privaten, wohl aber von Individuen sein soll, und der noch in Das Kapital die Abschaffung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln zugunsten des individuellen Eigentums propagiert. Tatsächlich sind „individuell“ und „privat“ keine Synonyma, denn „privat“ heißt „abgesondert“ und muss gar nicht individuell sein. Die Privatisierung von Stadtwerken hat nichts mit Individualismus zu tun. Das Individuum als Gegenbegriff zum Privaten gebrauchen heißt davon ausgehen, dass es immer schon  g e s e l l s c h a f t l i c h e s  Individuum ist, also neben und in seiner individuellen Alleinexistenz einen sozialen Anteil hat, aus dem es Solidarität schlussfolgern kann oder auch nicht. Im letztern Fall, wenn es also mit seinen sozialen Verpflichtungen und Existenzbedingungen so wenig wie möglich zu tun haben will, haben wir es mit Privatheit im pejorativen Sinn zu tun.

Dieser Einstieg bedeutet, dass wir die Andere Gesellschaft nicht als Kollektivismus-Veranstaltung ins Auge fassen, sondern als Sache der Kooperation, der „Assoziation“  f r e i e r  I n d i v i d u e n . Zu ergänzen wäre übrigens, dass solche Individuen sich auf ihren sozialen Anteil, der ja zunächst nur implizit ist, nur dann positiv (verantwortlich, solidarisch) beziehen können, wenn sie ihn vorher von sich unterschieden haben, was eine irgendwie auch äußerliche Sichtbarkeit des Unterschieds voraussetzt. Das ist aber eine Einsicht, die ich erst am Ende der Reihe der bisherigen Blogeinträge gewonnen habe. Als deren letztes Ergebnis ist sie, um dialektisch zu sprechen, schon dem Einstieg vorausgesetzt, in ihm aber noch nicht gesetzt. Bis zum  G e l d  musste ich mich durchwühlen, um zu der Einsicht zu gelangen. Sie folgt Karl Polanyis Erinnerung, dass Geld in seinem ersten historischen Erscheinen als „Individualgeld“ und „Gesellschaftsgeld“, wie ich es nenne, äußerlich gedoppelt und verschieden war. Erst die spät erfundene Münze nimmt den Unterschied zurück. Er implodiert gleichsam in ihr. Und gerade in Gesellschaften, die sich des implodierten Geldes bedienen, neigt man dazu, das Individuelle mit dem Privaten zu verwechseln.

Unsere ökonomische Hauptthese besagt, dass es in der Anderen Gesellschaft allgemeine und freie Wahlen geben wird, in denen die Wähler über die Produktionsrichtlinien der Gesellschaft entscheiden (wie etwa auch Michael Krätke vorschlägt, den ich dazu zitiert habe) und zwar in der Form, dass sich aus ihrer Wahl die großen ökonomischen Proportionen ergeben: wieviel Privatautoverkehr es im Verhältnis zu wieviel Öffentlichem Personennah- und -fernverkehr geben soll, wieviel Strom aus Kohle im Verhältnis zum Strom aus erneuerbaren Energien und so weiter. Das Ergebnis solcher Wahlen wird als absolut bindend betrachtet, das heißt es kann nur durch neuerliche (auch notfalls vorgezogene) Wahlen korrigiert werden. Befolgt werden muss die Wahl schon deshalb, weil sie als wenn auch pauschale Produktbestellung anzusehen ist. Es ergibt sich aber auch aus dem Charakter des Eigentums der Unternehmen, nicht privat, sondern individuell zu sein. Als individuelles (meist einer Gruppe von Individuen, im Idealfall allen, die im Unternehmen sind, gehörendes) Eigentum hat es ja einen sozialen Anteil, das heißt es gibt neben dem individuellen Zugriffsrecht immer auch ein gesellschaftliches, wie das übrigens schon heute beim bloßen Privateigentum der Fall ist. Wer einen Hund gekauft hat, darf ihn trotzdem nicht quälen.

Jene Wahlen bedeuten dann nur, dass die Gesellschaft ihren Anteil am Produktionsmittel-Eigentum der Unternehmen zweckmäßig ausgeweitet hat – dahin, dass sie über dessen Einsatz mitbestimmt – im Interesse des allseits anerkannten Postulats, dass die Nachfrage das Angebot regiert und nicht umgekehrt.

Da wir keine Kollektivwirtschaft wollen, sondern eine Wirtschaft freier Individuen, wählen wir diesen Weg, der weder zur Privatisierung noch zur Verstaatlichung führt. Das heißt aber nicht, dass der Staat, oder wie immer man das politische Gemeinwesen einst nennen wird, nun gar keine ökonomische Rolle mehr spielt. Zum Beispiel die der Kontrolle und Absicherung, dass alles nach Recht und Gesetz vonstatten geht, wird er weiter haben. Doch wird das eine „verschwindend“ geringe Rolle sein. Wir stellen uns nämlich vor, dass alle Verkäufe von Investitionsgütern an Endkonsumgüterproduzenten durch den Computer einer Institution laufen müssen, die ich als gesellschaftliche Nachfrage-Agentur bezeichnen will (seinerzeit hatte ich den Ausdruck „Nachfrage-Behörde“ gewählt). Sobald im Computer gemeldet, sind die Güter in volles gesellschaftliches Eigentum übergegangen, dies aber nur für den Fall, dass ihre Produktion mit dem Resultat der Wahlen unvereinbar ist, also gegen Recht und Gesetz verstoßen hat. Hat ein spezielles „Rechtschreibprogramm“ dergleichen ermittelt, wird die Annahme des betreffenden Gutes verweigert und darf es auch sonst nicht mehr verkauft werden. Weist es hingegen keine Fehler auf, ist es schon augenblicklich – im Moment der Annahme, ohne im Computer Halt gemacht zu haben, und zum unveränderten Preis – von der Agentur an den Endkonsumgüterproduzenten weiterverkauft worden.

Wenn man will, ist auch das eine „Verstaatlichung“ der Produktionsmittel, die sich aber eben auf das verschwindende Moment reduziert, dass die von der Gesellschaft eingesetzte Agentur die Produktionsmittel entweder nicht hat oder ihr Vorhandensein verhindert.

Nun zur Verortung dieser Dinge im Rechtlichen und Politischen. Zum Rechtlichen sei nur nachgetragen, dass Privatheit nicht per se den pejorativen Beigeschmack hat, von dem wir sprachen, auch in der Anderen Gesellschaft nicht. Auch da gibt es Recht und Gesetz vor allem anderen darum, weil die Privatheit zu schützen ist. Denn die Freiheit des Individuums zwar nicht von, aber in der Gesellschaft schließt allemal ein, dass es sich von dieser muss absondern können, im Grenzfall sogar in Belangen, über welche die Gesellschaft mitzubestimmen beansprucht. Es gibt ja Zeiten, wo sie der Erneuerung bedarf. Diese braucht Menschen, die aufgehört haben, sich mit ihrem vorhandenen Zustand zu identifizieren.

Was das Politische angeht, machen wir uns hier nur klar, dass ökonomische Wahlen, wie sie uns vorschweben, zwar nicht Sache der parlamentarischen Parteien sind, aber auch nicht etwa den Parlamentarismus obsolet machen sollen. Ich habe es für notwendig gehalten, ihn ein weiteres Mal ausdrücklich zu „rechtfertigen“ wegen der Tendenz, die einst vom Leninismus und noch mehr vom Stalinismus ausgegangen ist, ihn für eine an den Kapitalismus gebundene Institution zu halten. Das war immer verkehrt. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass er kein Geschenk von oben ist, sondern in Volkskämpfen errungen wurde („Dem deutschen Volke“, wie über dem Reichstag steht, ist eine Lüge); obwohl er deshalb nicht aufhört, im Kapitalismus eine zweideutige Angelegenheit zu sein, müssen doch solche, die seine Abschaffung erwägen, als „Volksfeinde“ gelten.

Unabhängig von diesem historischen Argument kann der Parlamentarismus aus den drei grundlegenden demokratischen Kompetenzen begründet werden. Die erste ist, dass die Individuen entscheiden, und zwar frei und gleich im je eigenen Interesse. Die zweite ist ihre Mitbestimmungskompetenz: Sie entscheiden zuerst, was sie als ihre gemeinsamen Angelegenheiten ansehen, wo also jedes Individuum über die Angelegenheiten aller anderen mitbestimmt und sich auch selbst von allen anderen mitbestimmen lässt. Drittens von ihrer Ermächtigungskompetenz Gebrauch machend, entscheiden sie, welche Angelegenheiten sie selbst unmittelbar mitbestimmen wollen und für welche sie Vertreter wählen. Diese dritte Kompetenz umfasst so formuliert sowohl das Entscheiden im Zuge der Verabredung („Räte“) als auch das abstrakte Wählen in der Wahlkabine, um welches man in einer Millionengesellschaft nicht gut herumkommt. Der Parlamentarismus ist ein System der Vertreterwahl in der Millionengesellschaft. Unsere Überlegung ergibt, dass er „dazugehört“, ohne freilich ein Prius beanspruchen zu können. Keineswegs ist direkte Demokratie, wie wir sie bei ökonomischen Wahlen brauchen, etwas Nachträgliches, das man dem Parlamentarismus vielleicht noch hinzufügt, vielleicht aber auch nicht, sondern auch sie gehört von vornherein dazu.

Wir verwahren uns auch gegen drei Verwechslungen, die man bei Marxisten gelegentlich antrifft: Es ist erstens falsch, den Parlamentarismus da anzustreben, wo der gewaltsame Umsturz unmöglich ist; vielmehr wird der gewaltsame Umsturz da angestrebt, wo es keinen Parlamentarismus gibt. (Dies erklärt, weshalb Marx und Engels zunächst den gewaltsamen Umsturz anstrebten, später jedoch den Parlamentarismus als Rahmen der politischen Kämpfe anerkannten.) Zweitens, nicht der Parlamentarismus ist eine „bürgerliche“ (will sagen bourgeoise) politische Form, sondern es gibt einen bürgerlichen Parlamentarismus und er ist vorhanden, es kann aber auch einen nichtbürgerlichen geben. (Wie hier nicht näher auszuführen, ist der bürgerliche Parlamentarismus durch das System der zwei Parteilager charakterisiert.) Drittens, der Parlamentarismus ist ein der Wahl sich bedienendes politisches Zusammenwirken (wechselseitiges Mitbestimmen) der Individuen, solches Zusammenwirken jedoch geschieht nicht immer als Parlamentarismus, sondern kann auch die Form direkter Demokratie annehmen. (Wenn es direkte ökonomische Wahlen gibt, hört das ganze politische System auf, „bürgerlich“ im Sinn von bourgeois zu sein.)