(127) Journalistische Urteilskraft

Zweite Abteilung / 3. Die vorwiegend politische Seite der Proportionswahl / Fünfter Teil – Proportionswahlen

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Wo es um ökonomische Wahlen geht, die Basis der Anderen Gesellschaft, erwarten wir dreierlei von den Medien: Sie spielen bei der Herausbildung möglicher Wahlthemen ihre Rolle; sie informieren verlässlich über das, was zur Wahl steht; sie machen den Wahlkampf durchsichtig, indem sie den Verlauf des Austauschs der Argumente nachzeichnen – auch live übertragen, aber das allein genügt nicht – und mit Urteilskraft beurteilen. Sie tun es von verschiedenen Standpunkten aus, ohne zu manipulieren.

Das mag utopisch klingen, doch der Weg dahin lässt sich angeben. Gehen wir die Dinge durch. Die Liveübertragung ist unser bester Ausgangspunkt, weil wir auf diesem Feld bereits erfahren sind, ja über die avancierteste Erfahrung verfügen. Ich denke an das Hearing zu Stuttgart 21. Das war ein großes Ereignis. Eine Streitfrage, von der die Ökonomie der ganzen Gesellschaft betroffen war, wurde von den Exponenten des Streits über Wochen vor laufender Kamera debattiert. Tatsächlich war die Frage von der Art, dass sie nach meinem Modell zur gesamtgesellschaftlichen „Proportionswahl“ hätte führen können. Denn hier waren Grundfragen des Verkehrs involviert. Dem angeblichen Ziel der Deutschen Bahn, die Fahrten von Privatreisenden um ein paar Minuten zu beschleunigen, stand die von Boris Palmer, dem grünen Bürgermeister von Tübingen, verfochtene ökologische Strategie entgegen, mehr Güter auf die Schiene zu bringen. Das hätte einen ganz anderen Umbau der Strecken und Gleise erfordert. Palmer konnte sich auf Ansätze berufen, die in der Schweiz schon praktiziert wurden. Wäre dieser Streitfall in der Anderen Gesellschaft aufgetreten, hätte eine sich spontan organisierende Wählergruppe, angestoßen vielleicht durch mediale Berichterstattung und Kommentierung, auf die Idee kommen können, ihn zu generalisieren: eine Wahloption auszuarbeiten, die für Stuttgart und weitere Knotenpunkte des Schienennetzes den ökologischen Umbau in Aussicht nahm. Wenn die Deutsche Bahn anderer Ansicht war, konnte auch sie eine Wahloption ausarbeiten. Dabei würde sie freilich keine ökonomischen Informationen zurückhalten dürfen, wie sie es bei Stuttgart 21 tat.

Ebenso aber wie vor ein paar Jahren in Stuttgart gäbe es die Liveübertragung des Hearings, wo Experten beider Seiten sich mit Argumenten niederzuringen versuchen. Mit einigen charakteristischen Demokratiegrenzen müsste man sich nicht mehr herumschlagen. Erstens wäre das Hearing nicht dazu da, die Entscheidung eines Schlichters vorzubereiten, sondern der Wähler. Der Schlichter verschwände allerdings nicht ersatzlos. Ohnehin träte der kundige und neutrale Diskussionsleiter an seine Stelle, das versteht sich von selbst. Aber auch als Instanz der bündelnden Zusammenfassung des Richtigen, das die Debatte offenbarte, war der Schlichter keine sinnlose Figur. Nur dass diese Funktion demokratisiert werden und das heißt  a u f  v e r s c h i e d e n e  W a h l o p t i o n e n  ü b e r g e h e n  muss, von denen die Wähler anschließend eine auswählen. Es scheint mir sinnvoll, dies Verfahren auch umzukehren: Ganz generell sollen ökonomische Programme, über die bei einer Proportionswahl abgestimmt wird, erst formuliert werden, nachdem über die in Rede stehende Streitfrage ein Expertenhearing getagt hat und vom Fernsehen übertragen worden ist. Das ist das Zweite.

Das Dritte sind dann die Medien. Die Medien würden anders berichten und urteilen als heute. Es geht um ihre elementare Aufgabe, weshalb sie Medien heißen: Auch die Andere Gesellschaft wird eine Massendemokratie sein, mit mehr Demokratie zwar als heute, aber immer noch so, dass man nicht erwarten kann, dass alle Wähler auf Bänken eines griechischen Theaters Platz nehmen, will sagen die ganze Debatte vor dem Bildschirm verfolgen. Die Meisten werden es nicht können oder wollen und sind dann auf die Berichterstattung angewiesen; da liegt das Problem. Die Berichterstattung über Stuttgart 21 hat die Debatte im Hearing nicht durchsichtig gemacht. Vage Zusammenfassungen, die es gab, waren nur geeignet, Vorurteile zu bestärken. Wo müsste angesetzt werden, um sie zu qualifizieren? Zwei Probleme müssen gelöst werden. Das eine ist der Umstand, dass heutige Medien oft nur so viel Information durchlassen, wie ihrem politischen Interesse dienlich ist. Das Zweite ist die mangelnde Kompetenz der medialen Mitarbeiter, aber auch der Rezipienten. Ich möchte mich in dieser Notiz nur mit den Zweiten auseinandersetzen (mit dem Ersten in der nächsten Notiz). Es verweist auf Fragen der Ausbildung.

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Welche Kompetenz wäre nötig? Und übrigens nicht nur um Hearings durchsichtig zu machen, auch nicht nur um Proportions- und andere Wahlkämpfe zu begleiten. Ganz generell soll die Übermittlung des Sinns politischer Auseinandersetzungen gelingen, weshalb ich denn auch, was zu sagen ist, im Folgenden an bekannten gegenwärtigen Auseinandersetzungen illustrieren will, obwohl ich letztendlich auf den Proportionswahlkampf ziele. Der Anfang ist trivial. Die Fähigkeit muss da sein, den Kampfverlauf als einen des Austauschs der Argumente nachzuzeichnen und zu beurteilen. Die Argumente müssen korrekt wiedergegeben werden. Von medialen Urteilen („Kommentaren“) erwarten wir, dass sie ihrerseits argumentieren, das heißt von einem erkennbaren  P r o b l e m b e w u s s t s e i n  her geschrieben, also nicht einseitig sind, was sachbezogene Parteilichkeit nicht ausschließt. Ferner sollen sie natürlich anregend sein und ein gewisses intellektuelles Niveau erreichen.

Das wären die inhaltlichen Vorgaben, als erste formale kommt die gelingende Komprimierung der wiedergegebenen Argumente und ihres Verlaufs hinzu, seine Zusammenfassung also, die möglichst knapp gehalten ist, dabei aber das Komplexitätsniveau des Zusammenzufassenden beachtet und repräsentiert. Diese erste formale Vorgabe können wir auch anders auffassen, als Bindeglied nämlich zwischen dem Inhaltlichen und Formalen, das dann im engeren Sinn auf Fragen des „Stils“ eingegrenzt wäre. Der Stil ist nicht das Wichtigste, wohl aber das Spezifische der Medien: Medien müssen Sätze formulieren oder Bilder zeigen, die von  v i e l e n  Menschen  l e i c h t  verstanden werden. Klare Sätze und Bilder, wobei sich die Anforderungen auch durchdringen: Bilder, die etwas  a u s s a g e n , Sätze, die  a n s c h a u l i c h  sind.

So trivial ich bisher gesprochen habe, beginnen hier schon die Probleme. Denn die mediale Ausbildung, wie sie ist, orientiert sich recht einseitig am Letztgenannten. Hören wir Jörg Sadrozinski, den Leiter der Deutschen Journalistenschule in München : Die „journalistischen Urtugenden“, führt er aus, seien Recherche, Stil, Formate, Genauigkeit. Klar, das stimmt. „An der DJS wurde und wird großer Wert darauf gelegt, dass die Schüler und Studenten fit in allen Medien sind.“ Wunderbar! Wenn ich dann aber lese: „Der Schwerpunkt der Ausbildung in der DJS liegt traditionell auf dem Schreiben, Texten und Produzieren für Print. Dies ist jedoch nach meiner Ansicht die Basis für guten Onlinejournalismus.“, werde ich stutzig. Sadrozinski will sagen, der Schwerpunkt liege traditionell auf dem Print, dies sei eine Basis auch für Online; so weit, so gut. Doch nebenbei sagt er auch, w a s für Print und Online schwerpunktmäßig eingeübt wird: Schreiben, Texten, Produzieren. Müsste aber nicht die Fähigkeit, Argumente zu verstehen und selber zu bilden, sowie die Urteilskraft beim „Kommentieren“ ebenso sehr ein Schwerpunkt der Ausbildung sein?

Wenn man sich die Zeitungen anschaut, wie sie sind, und die Tagesschau, wie sie ist, muss man sagen, dass es damit nicht zum Besten steht. Leicht ist man geneigt, Mängel dem bösen Willen der Schreiber und Bildvorführer zuzuschreiben, doch alles, ja ich denke das Meiste kann so nicht erklärt werden. Man kann zur Ukraine-Krise stehen, wie man will, aber warum geht es durch, dass von der NATO bemängelt wird, die Separatisten zögen ihre schweren Waffen vielleicht gar nicht zurück, nämlich „über die russische Grenze zurück“? Warum lese ich nicht Zeitung für Zeitung die Frage, ob das denn im Minsker Abkommen stand? Das Problem war aber vorher schon, dass die Medien es nicht für nötig hielten, dies Abkommen selber in allen Einzelheiten genau vorzustellen, auch seine Bedeutung und möglichen Folgen abzuwägen. Es ist doch ungeheuer wichtig! Was Griechenland angeht, lese ich jetzt tagtäglich, dass die Regierung Tsipras „die Troika ja doch unter anderem Namen“ wieder habe akzeptieren und sich ihr unterwerfen müssen. Hier glaube ich gern, dass die deutsche Regierung es böswilligerweise so hinstellen will, aber das erklärt mir nicht, weshalb der ganze Blätterwald es nachplappert. Hat die Regierung Tsipras nicht von Anfang an erklärt, dass sie mit den Schuldnern selbstverständlich weiterverhandelt? Oder nehmen wir die Frage der „Reparationen“: Warum unterscheiden die Medien nicht zwischen Reparationen und der Zwangsanleihe der Nazis, die von Deutschland noch nicht zurückgezahlt wurde? Dass die deutsche Regierung beide Fragen bösartig vermischt und nur gebetsmühlenartig wiederholt, dass die Reparationsfrage längst geklärt sei, überrascht mich nicht, aber warum machen es ihr die Medien so leicht?

Das ist es, was ich unterstreichen wollte: Journalisten sollen befähigt sein, den Austausch von Argumenten korrekt darzustellen, was voraussetzt, dass sie ihn allererst selber verstehen. Ich nehme nicht an, dass sie alle böswillig sind. So viele böse Journalisten gibt es nicht, und so sind auch nicht die Machtverhältnisse in den Redaktionen. Man muss schon unterstellen, dass echte Unfähigkeit im Spiel ist. Es ist eben nicht genug, „schreiben, texten, produzieren“ zu können, wenn dann im gefälligen Stil die Realität verhüllt wird.

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Die Fähigkeit, Argumente verstehen und wiedergeben zu können, reicht aber gar nicht aus. Wenn das ausreichen würde, wäre ein Umbau der Journalistenausbildung schon ziemlich schwer, aber noch vorstellbar. Es gibt ja schon heute Ausbildungsorte, wo das Argumentieren eine größere Rolle spielt. Außerdem und vor allem wird Journalistik auch an den Unis gelehrt, in der oder jener Form: Dort dominiert der kommunikationstheoretische Zugriff. Eine stärkere Durchdringung von Unis und Journalistenschulen, theoretisch wie praktisch, wäre heute schon vorstellbar, bei der sicher herauskommen kann, dass die Adepten die Logik des Argumentierens erlernen.

Etwas fehlt dann noch. Man muss nämlich auch die  F r a g e n  erfassen können, um die es bei einer Auseinandersetzung geht. Auch hier fällt es leicht, zu illustrieren: Wenn die deutsche Regierung sagt, man sei nicht bereit, Griechenland noch mehr zu geben, zu „bewilligen“ quasi, dann deckt sie die Tatsache zu, dass die griechische Regierung diesen Willen gar nicht hat, sondern einen anderen: Sie will nicht „Geld haben“, sondern eine andere Wirtschaftspolitik in Europa. Ein Journalist, der das darstellt, müsste begreifen können, dass hier nicht bloß zwei Forderungen aufeinanderstoßen oder „Standpunkte“ sich gegenüberstehen, sondern zwei Fragestellungen. Die deutsche Regierung will die Frage beantwortet haben, wann endlich die griechischen Schulden zurückgezahlt sind und ob man es dadurch befördert, dass man noch mehr Geld verleiht, vorausgesetzt immer, die Griechen halten die Austeritätsregeln ein. Die griechische Regierung fragt aber, ob Austerity eine gute Wirtschaftspolitik ist. Diesen Unterschied zu erkennen fällt unsern Medien höllisch schwer. Manchen gelingt es, aber sie fallen kaum auf, denn den meisten gelingt es nicht.

Das Problem ist, dass dergleichen auch auf der Metaebene der Kommunikationswissenschaft nicht gelingt. Dass man sich, bevor man in den Streit der Argumente eintritt, über ein gemeinsames Thema geeinigt haben muss, so viel ist noch klar. Aber was heißt das, sich über „das Thema“ zu einigen? Da hört die Klarheit schon auf. Die Möglichkeit, sich zu einigen, steht ja gar nicht im Belieben der Argumentierenden. Folgt nicht, wer debattiert oder überhaupt wer handelt, immer einer Frage,  s e i n e r  Frage? Wenn er die aufgibt, gibt er sich selbst auf. Wenn nun zwei aufeinandertreffen, von denen jeder nach etwas anderem fragt, dann kann man weder erwarten, dass der eine sich der Frage des Andern unterwirft, es sei denn, Gewalt ist im Spiel, noch ist ein Kompromiss beider Fragen denkbar. Das will nicht sagen, die Fragen ständen beziehungslos nebeneinander. Jedenfalls müssen sie so nicht stehen bleiben. Eine Beziehung kommt nämlich zustande, wenn jede Seite zu zeigen versucht, dass die Frage der andern Seite „falsch“ gestellt sei. Dieser Meta-Argumentationsstreit folgt seinen eigenen Regeln. In ihm wird zu erweisen versucht, dass eine Frage in sich konfus sei, das heißt Mehreres vermische, das auseinandergehalten, einzeln und in einer Reihenfolge erörtert werden müsse. So kann man es machen, nur gehört es, soweit ich sehe, nicht zu den Perspektiven der Kommunikationswissenschaft.

Würden derart die deutsche und griechische Regierung debattieren, die irrationale Haltung der deutschen Regierung träte schnell ans Licht. Denn ihrer genannten Frage, wie es um die Schuldenrückzahlung steht, würde entgegengehalten, dass sie nicht auch fragt, im Rahmen welcher Wirtschaftspolitik die Rückzahlung geschehen soll und was „Rückzahlung“ dann jeweils bedeutet. Aber warum rede ich hier im Konjunktiv – das  h ä l t  die griechische Regierung der deutschen entgegen, und diese stopft sich die Ohren zu. Weshalb sie es tut, ist im Moment nicht mein Thema. Hier geht es darum, dass ich es in den Medien nicht dargestellt finde. Es mag schwerfallen! Aber eben deshalb müsste eine gute Ausbildung es erleichtern. Das Problem liegt natürlich darin, dass die Fragen, denen Argumentierende oder Handelnde folgen, als Fragen meistens gar nicht deklariert werden. Man begegnet meistens nicht Fragen, sondern Aussagen und Behauptungen, irgendwelchen Sätzen. Zum Beispiel „Die Griechen können nicht erwarten, dass wir!“ Aus so einem Ausruf muss die Frage, auf die er antwortet, erst destilliert werden: „Wie bringen wir die Griechen unter den Schuldendienst? Dadurch, dass wir das Troika-Diktat aufweichen? Nein! Die Griechen können doch nicht erwarten…“ Erst wenn die Frage erkannt ist, kann sie beurteilt werden. Beides würde eine gute Journalistenausbildung einüben. Das große Wort Urteilskraft meint diesen Vorgang.

So erscheint auch das Nachvollziehenkönnen der Argumente noch einmal in einem anderen Licht. Denn das Argumentieren hat eine Grundstruktur, die es eher erschwert als erleichtert, solche Urteilskraft aufzubringen. Was ist Argumentieren? Es wird so gelehrt, dass zwei Seiten einander entgegentreten, von denen jede etwas anderes behauptet. Zwei Behauptende. Dass die Behauptungen aufeinander bezogen werden, darum geht es nicht, man erwartet nur, dass jede verteidigt und angegriffen wird. Das Modell ist der Streit des Verteidigers mit dem Ankläger vor Gericht, und es ist ein gutes Modell. Es ist aber deshalb gut, weil hier „das Thema“ unumstritten ist. Der Verteidiger beantwortet die Frage, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht, und der Ankläger tut dasselbe, antwortet nur anders. Wie sie beide antworten, ist vorher bekannt. Darum geht es überhaupt nicht, sondern um die Stichhaltigkeit ihrer Argumente. Dies ist also keine Übung, in der das Fragen und Antworten eingeübt werden kann. Nur wie man sich gegeneinander behauptet, wird gelernt. Worin übrigens liegt, dass ich nicht bloß linguistische Feinheiten erörtere, sondern einen existenziellen Sachverhalt; es geht nicht bloß um Sätze, die etwas behaupten, und andere, die das Behauptete plausibel machen oder zweifelhaft erscheinen lassen, sondern um  S e l b s t behauptung. Selbstbehauptung aber, so nötig sie ist, reicht als Haltung, sich auf den Anderen zu beziehen, nicht aus. Man muss auch nach dessen Frage fragen. Und nach der eigenen.

Es ist schlimm genug, dass das Sprachspiel, in dem sich Behauptungen aneinander messen, im Mediendiskurs so wenig verstanden wird. Man kann angeben, was sie genau genommen meistens nur verstehen: die Behauptungen als solche, ohne Argumente. „Die Regierung in Kiew wirft Russland vor. Russland bestreitet aber.“ Und Punkt. Wenn die Zeitungen einen so behandeln, verliert man die Lust, sie überhaupt noch aufzuschlagen. Aber noch einmal, selbst wenn die Argumente aufgegriffen, verstanden und ich über sie informiert würde, bliebe ich frustriert. In welcher Fragestellung bewegt sich Russland? In welcher Kiew? Bewegt sich Kiew nur in seiner eigenen Fragestellung oder auch in der US-amerikanischen, und worin besteht diese? Und weiter, gibt es nur eine US-amerikanische Fragestellung oder sind es zwei, diejenige Präsident Obamas und diejenige der Republikaner, die bekanntlich in Kiew ihre eigene Außenpolitik betreiben? Und was kommt heraus, wenn man all diese Fragestellungen aufeinander bezieht? Das möchte ich wissen. Die genannten Akteure geben es oft nicht zu erkennen, die Medien aber müssten immer versuchen, es herauszuarbeiten.

Und es dann auch zu beurteilen, wozu sie mancher  F r a g e  w i d e r s p r e c h e n  müssten, in denen sich ein Akteur bewegt. Was eben etwas anderes ist, als eine  B e h a u p t u n g  z u  b e s t r e i t e n . Wenn man den russischen Standpunkt nur als Behauptung versteht: „Die NATO an unseren Grenzen ist schlimm“, kann man ihn leicht mit „Nein, stimmt nicht“ abtun. Da steht Behauptung gegen Behauptung. Wenn dann noch dargelegt werden kann, dass Russland ja von einem Obersatan regiert wird, ist klar, welcher Behauptung man inbrünstig glaubt und welcher nicht. Würde aber  d i e  F r a g e  der Russen zur Kenntnis genommen: „Warum kommt die NATO an unsere Grenzen, obwohl sie beteuert hatte, das nicht tun zu wollen?“, wer wollte dann entgegnen, sie sei unsinnig?

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Wieder einmal ging es in dieser Notiz um den zentralen Punkt der ganzen Blogreihe – dass in der Anderen Gesellschaft ein Diskurs dominieren wird, den es immer gab, der aber nie dominiert hat: nicht der (An-) Gleichungsdiskurs, in dem wir uns heute vor allem bewegen, nicht der subsumtive / hierarchische Diskurs wie bis zur Frühen Neuzeit, am wenigsten der metaphorische wie in den vorstaatlichen Gesellschaften, deren politische Gliederung sich in „Strukturen der Verwandtschaft“ erschöpft – sondern der Frage-Antwort-Diskurs. Das muss, wie wir sehen, bis in den Journalismus und seine Ausbildung hinein Geltung haben. Ich füge hier noch hinzu, dass natürlich auch die Zuschauer, Leser und Leserinnen sich im Antwortdiskurs bewegen können müssen.

Das zeigt einerseits, dass die Vertiefung der journalistischen Fähigkeiten, zu der es in der Anderen Gesellschaft kommt, nicht gar so schwer zu erreichen sein wird, wie es erscheinen möchte. Denn diese Gesellschaft wird diese Fähigkeiten schon in der Schule grundlegen. Wenn das Fragen und Antworten dort schon gelernt wird, hat die journalistische Ausbildung ein Fundament, auf dem sie nur aufzubauen braucht. Es ist ja auch klar, dass die Schule hierfür der geeignete Grundort ist, spielt doch die Lehrerfrage in ihr die zentrale Rolle. Gerade alles, was mit der Lehrerfrage zusammenhängt, müsste freilich revolutioniert werden, in den obersten Klassen und Stufen jedenfalls. Denn es ginge darum, den  W i d e r s p r u c h  gegen Fragen einzuüben, wo sie problematisch sind (auch, wie gesagt, Fragestellungen da zu erkennen, wo sie gar nicht ausgesprochen werden), wofür die Lehrerfrage nur der naheliegende Anknüpfungspunkt, aber nicht das Modell sein kann. Lernziel wäre die Einsicht, dass die Lehrerfrage, die nur solche Antworten zulässt, die ihr untergeordnet sind, tatsächlich gar keine Frage ist, sondern ein Befehl (weitergehend auch, dass ein Befehl seinerseits letztlich eine Frage ist, in die man ihn dadurch, dass man mit Gründen den Gehorsam verweigert, jederzeit rückwirkend verwandeln kann).

Wenn wir die Perspektive eines erneuerten Journalismus, dem ein erneuertes Lesepublikum korrespondiert, entwerfen, werden wir andererseits daran, dass die heute beobachtbare Entwicklungstendenz ihr nicht günstig ist, nicht vorbeisehen können. Die Internetkultur scheint die Fähigkeit des Fragens und Antwortens eher massiv einzuschränken als zu fördern. Sie verführt viele dazu, Denken auf Informieren und Informiertwerden zu versimpeln. Eine alte Kulturtechnik ist da gefährdet, die zwar nie herrschend war, aber immer von den Intellektuellen beherrscht wurde, seit Platon von der politischen Herrschaft des Philosophenkönigs träumte; dessen Qualifikation als Philosoph lag ganz einfach darin, dass er zu fragen und zu antworten verstand. Heute ist das nicht mehr selbstverständlich, so dass man von Neuem scheint erklären zu müssen, was Fragen und Antworten überhaupt ist. Dante, dessen 750. Geburtstag wir dieses Jahr feiern, hat es noch gewusst. Es gibt einen Ort im Himmel, wo er seinem Urahn begegnet. Er hat ihn etwas gefragt und eine Antwort erhalten, und bevor er weiterspricht, beschreibt er das mit den Worten: „Da die heilige Seele nun durch ihr Schweigen zeigte, dass sie sich davon befreit fühlte, den Einschlag zu dem Gewebe zu geben, das ich ihr gezettelt dargeboten hatte, setzte ich wieder ein […].“ (Paradiso 17. Gesang, Vss. 100 ff. nach der Übersetzung von Hartmut Köhler) Über dies Gleichnis denke man einmal nach.

Die Schulen von heute sind wahrscheinlich immer noch dabei, der Entwicklung der Computertechnik hinterherzulaufen und für eine bessere Finanzierung entsprechender Käufe zu kämpfen. Das muss auch sein, schwerpunktmäßig sogar. Computer sind eine unglaubliche Errungenschaft, wenn man sie zu benutzen weiß. Eben dafür aber, und auch um Bücher lesen und sich in andere Menschen, ja ganze Gesellschaften hineinversetzen zu können, muss es den zweiten Schwerpunkt geben, das Erlernen des Fragens und Antwortens.