(125) Mediendemokratie und -antidemokratie

Zweite Abteilung / 3. Die vorwiegend politische Seite der Proportionswahl / Fünfter Teil – Proportionswahlen

1

Es geht jetzt um die Frage, wie unter der Voraussetzung, dass mehrere Proportionswahlprogramme vorliegen – die alle nach einem bestimmten vorgegebenen Schema gearbeitet sein, das heißt eine bestimmte Reihe von Fragen beantwortet haben müssen -,  d e r  W a h l k a m p f  geführt werden wird. Womit beginnen? Ich könnte zuerst die Umstände untersuchen, unter denen man eine Wahl allererst ansetzt: Da sie nicht (nur) regelmäßig, sondern je nach Problemlage und gesellschaftlichem Wahlbedarf stattfindet, wäre sowohl ein Mindestquorum von Wahlbedürftigen festzulegen als auch für die untergeordneten regelmäßigen Wahlen eine Periodenspanne. Aber so ein Anfang wäre langweilig und würde auch der Sache nicht gerecht. Ich denke sogar, dergleichen muss hier gar nicht mitbehandelt werden. Die Andere Gesellschaft wird da schon eine Lösung finden. Der Sache würde es aber deshalb nicht gerecht, weil es gleichsam ein Sprung ins Leere wäre. Denn man muss sehen: Alle mit dem Wahlkampf zusammenhängenden Fragen verweisen auf die grundsätzlichere Vorfrage, welche Rolle  d i e  M e d i e n  dabei spielen. Es ist ja klar, dass jeglicher Wahlkampf wie heute so immer von ihnen vermittelt, das heißt sehr heftig mitgestaltet werden wird. Schon wenn es nur erst darum geht, ob eine Proportionswahl überhaupt angesetzt werden soll, hängt viel davon ab, wie die Medien das sehen. Mögliche Wahlthemen, die sie nicht durchlassen oder selbst aufwerfen, haben gar keine Chance.

Sehr grundsätzlich ist die Frage der Medien auch deshalb, weil die eher bösen Erfahrungen, die wir heute mit ihnen machen, uns daran zweifeln lassen können, ob so etwas wie Demokratie, und dann auch noch ökonomische Demokratie, als „Mediendemokratie“ überhaupt durchführbar ist. Das ausführlich zu erörtern, ist offenbar notwendig. Worin liegen heute die Probleme, wie können sie gelöst werden? Was kann und was wird anders sein? Eigentlich haben wir nur zu klären, welche mediale Begleitung für die ins Auge gefassten Proportionswahlkämpfe funktional notwendig sind. Aber eine Antwort auf diese Frage führt ganz von selbst zum Grundsätzlichen, dem Entwurf einer Umwälzung der Medienwelt.

Ich beginne damit, die Frage demokratietheoretisch zu verorten. Daran, dass wir es mit einer demokratietheoretischen Frage zu tun haben, kann ja gar kein Zweifel bestehen. Man sagt, die Medien seien  d i e  „ v i e r t e  G e w a l t “  neben den klassischen drei demokratisch-republikanischen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative, und gibt damit schon einen Hinweis darauf, wie zentral ihr Stellenwert ist. Es ist auch unmittelbar einleuchtend: Die Legislative ist das, was durch unsere Wahl zustande kommt, diese unterliegt aber starken medialen Einflüssen, schon weil „Willensbildung“ ohne Medien in einer Massengesellschaft gar nicht möglich wäre. Ein paar Zigmillionen Wähler können sich nicht unmittelbar austauschen. Nur wenn Medien dazukommen und zwar mehrere, von denen die Positionen verschiedener Wählersegmente gebündelt werden, kommt es zum Austausch auf einer allgemein öffentlich sichtbaren Ebene. Es schiebt sich also mit ihnen zwischen wählende Repräsentierte und zu wählende Repräsentanten eine zweite Repräsentationsebene. Was hier repräsentiert wird, sind Meinungssegmente und –möglichkeiten. Deren Auswahl und Zusammenfügung, so wird es gedacht, nimmt die Leserschaft vor.

Das ist, wie wir wissen, ein Anspruch, der nicht erfüllt wird. Aber schon in der Grundüberlegung steckt der Wurm. Denn natürlich dürften die Medien nicht „vierte Gewalt“ sein. Die drei Gewalten der demokratischen Republik gehen alle aus der Parlamentswahl hervor. Unmittelbar wird die Legislative gewählt, diese wählt die Exekutive und beide zusammen setzen die Judikative ein. Die Medien werden  n i c h t  gewählt. Es hat keine Abstimmung gegeben, aus der etwa die Bildzeitung hervorgegangen wäre. Da sie nicht gewählt werden, müsste mindestens  i n  d e r  V e r f a s s u n g  ihre Rolle definiert sein, auf welcher Grundlage in Ausführungsgesetzen Näheres geregelt werden könnte. Mit andern Worten,  M e d i e n  m ü s s t e n  r e c h t l i c h  g e n a u s o  b e h a n d e l t  w e r d e n  w i e  P a r t e i e n . Das geschieht aber nicht.

„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, steht in der Verfassung (GG Art. 21, 1, wo wir anschließend lesen, dass sie „über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben [müssen]“). Es gab ja Zeiten, da wollte man das nicht und sah darin eine Verfallserscheinung. Parteien mischten sich ein und beherrschten die Parlamente, obwohl die Verfassung sie nicht kannte, auch nicht kennen wollte. Sie waren aber deshalb nicht vorgesehen, weil sie zur Wahl standen, ohne selbst qua Wahl zustande gekommen zu sein. Das sind nun auch die Medien nicht, deren Rolle bei der Willensbildung mindestens so groß ist wie die der Parteien. Sie sei inzwischen noch größer, sagt die Forschung! Und doch sind sie nicht in die Verfassung eingebunden, sondern  s t a t t d e s s e n  „vierte Gewalt“. Parteien hingegen sind nicht mehr so autonom,  w e i l  und nachdem man sie in die Verfassung einbezogen hat.

Angesichts der zentralen Rolle der Medien bei der Willensbildung, die das Kernstück von Demokratie überhaupt ist, muss man von ihrer ungewählten Gewalt sagen, dass diese einen Staat im Staate begründet.

2

Würden sie in die Verfassung eingebunden, müssten sie ähnlich agieren und behandelt werden wie die Parteien. Dabei sind zwei Punkte hervorzuheben. Erstens müsste es eine öffentliche Medienfinanzierung nach dem Muster der öffentlichen Parteienfinanzierung geben. Warum gibt es diese denn, wenn nicht damit Parteien nicht käuflich sind? Die Käuflichkeit von Parteien wäre Korruption! Sie sollen nicht in Abhängigkeit von externen Großspendern geraten. Dass aber heute Medien käuflich sind – und sie sind es so sehr, dass nur wenigen Unternehmern fast alle Anteile des Medienmarkts gehören -, warum wird das als selbstverständlich empfunden oder so hingestellt? Es ist doch ebenfalls klar korrupt. Schon allein dieser Umstand genügt, aus Organen, die welche der demokratischen Willensbildung sein sollten, vielmehr welche der Diktatur der Bourgeoisie zu machen, um die klassische Formulierung von Marx zu verwenden, die hier am Platz ist.

Und wäre es etwa schwer, Medien öffentlich zu finanzieren? Die öffentliche Parteienfinanzierung funktioniert in Deutschland so, dass Mitgliedsbeiträge staatlich ergänzt und Stimmanteile bei Wahlen zum Maßstab weiterer Subventionen gemacht werden, so dass eine Partei desto mehr Hilfe erlangt, je mehr eigene Kraft sie aufbauen kann. Entsprechend könnten bei Medien die Verkaufseinnahmen, seien sie anfangs noch so gering, und die von genossenschaftlichen Trägern aufgebrachten Mittel aus öffentlichen Mitteln verdoppelt werden. Da Medien anders als Parteien auf einem Markt konkurrieren, wären sie auch, und das ist am wichtigsten, durch eine Anschubfinanzierung zu fördern. Sicher ist da noch viel zu überlegen, etwa wie repräsentativ ein mediales Projekt von vorherein erscheinen, auch welche Qualifikation der Redakteure nachgewiesen sein muss, wie und von wem das festgestellt, dann wie mit den vorhandenen Medien verfahren wird und so weiter. Einige besonders wichtige Fragen dieser Art will ich in der nächsten Notiz noch aufgreifen. Aber grundsätzlich sagen wir, der Weg ist gangbar. Der grundsätzliche Weg besteht darin, dass Medien  z u e r s t  g e s e l l s c h a f t l i c h  imstandgesetzt werden, ihre Rolle in der demokratischen Willensbildung  o h n e  K o r r u p t h e i t  zu spielen, und dass dann erst, in zweiter Linie, die Marktmechanismen zu greifen beginnen.

Wie für alles Gute gibt es ja auch hierfür schon Ansätze. Es gibt das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Dass es verstaatlicht und daher weithin Regierungsfernsehen ist, heißt nicht, dass es nicht auch vergesellschaftet werden könnte. Der vor Jahrzehnten eingeleitete staatliche Rückzug vor dem Unternehmerfernsehen ließe sich dahin umkehren, dass die Gesellschaft ganz anderen freien Sendern immer mehr Sendemöglichkeit verschafft. Es gibt auch Ansätze zur öffentlichen Presseförderung, die allerdings mehr als kümmerlich sind, etwa die geringere Besteuerung in Deutschland. In den USA war die Presse zeitweise von den Versandgebühren befreit. So wenig das ist, sieht man doch, ein Bewusstsein davon, dass Medien sich von Zahnbürsten unterscheiden – keine puren Marktprodukte sind -, ist durchaus vorhanden.

Zweiter Punkt: Wie können sie sich als Medien  d e r  d e m o k r a t i s c h e n  W i l l e n s b i l d u n g  erweisen, wenn nicht dadurch, dass sie  m i t e i n a n d e r  k o m m u n i z i e r e n ? Das bedeutet: Wenn in einem Medium eine bestimmte politische Haltung eingenommen, bestimmte Behauptungen und Argumente – oder auch Behauptungen ohne Argumente – vorgebracht werden, muss  i n  i h m  s e l b s t  das Gegenargument anderer Medien auftauchen und beantwortet oder auch, wenn keine Antwort gelingt, so stehen gelassen werden. Ebenso wird bei Informationen verfahren: Wenn Medium A der Auffassung ist, Medium B unterdrücke eine bestimmte wichtige Information, muss es diese dort unterbringen können. B kann dann behaupten und zu beweisen versuchen, dass die Information falsch sei, wogegen sich wiederum A an Ort und Stelle zur Wehr setzen darf, und so weiter. Ein solches Verfahren mag übertrieben radikal erscheinen, ist aber weiter nichts als die Übertragung dessen, was Parteien im Wahlkampf selbstverständlich zugemutet wird, auf Medien, die eben genauso in der Willensbildung stehen. Müssen nicht Parteien alles, was andere Parteien gegen sie vorbringen, ausdrücklich zur Kenntnis nehmen, und kommen sie etwa um die öffentliche Beantwortung herum?

Man muss das unterstreichen, und ich scheue deshalb die Ausführlichkeit nicht: unterstreichen, wie heutigen Medien pure diktatorische Argumentations- und Informationsunterdrückung möglich und erlaubt ist, während man einer Partei alles reinbuttern kann, was ihr schadet; und das, obwohl b e i d e , Medien wie Parteien, Organe der demokratischen Willensbildung sind. So konnte die unternehmerischen Gegner des von den Grünen einst auf den Weg gebrachten Erneuerbare-Energien-Gesetz im letzten Bundestagswahlkampf monatelang die FAZ und andere Zeitungen nutzen, um ihre falsche Behauptung zu verbreiten, die Stromkosten stiegen hauptsächlich wegen dieses Gesetzes an – vom Profitanteil sprachen sie nicht -; was blieb den Grünen übrig als der Widerlegungsversuch, der es sehr viel schwerer hatte, in die Zeitungen zu kommen? Sie konnten nicht so tun, als hätten sie nicht zugehört! Was aber dieselbe FAZ am Mittwoch voriger Woche im Hauptkommentar zur Ukraine-Krise schreibt, muss man sich auf der Zunge zergehen lassen:

„Eigentlich sind die Grundzüge des Geschehens von so großer Klarheit, dass in einer demokratischen Gesellschaft über alle sonstigen Gegensätze hinweg Einigkeit über ihre Bewertung (nicht nur über die politischen Konsequenzen) bestehen müsste: Ein korrupter und autoritärer Herrscher versucht, anfänglich friedliche Massendemonstrationen mit Gewalt niederzuschlagen. Nach dessen Sturz besetzt das ebenso autoritär regierte Nachbarland, das ihn unterstützt und zu einem noch härteren Vorgehen gegen die Demonstranten aufgefordert hatte, einen Teil des Landes und tritt in einem anderen Teil einen Krieg los, in dem Tausende getötet werden.“

Hier kann kein anderes Medium eingreifen. Nicht zum Beispiel das Fernsehmagazin, das zur besten ARD-Sendezeit nachgewiesen hatte, dass die Gewalt gegen friedliche Demonstranten, die zum Sturz des demokratisch gewählten „Herrschers“ Janukowitsch, damit auch zum Bruch des zwischen ihm und mehreren Westmächten geschlossenen Vertrags führte, von faschistischen Mordschützen ausging, die ihre Position gegenüber dem Regierungsgebäude bezogen hatten. Schon gar nicht kommen solche unwichtigen Personen wie Helmut Kohl und Helmut Schmidt, Gerhard Schröder und Roman Herzog, Antje Vollmer und Eberhard Diepgen zu Wort. Es bleibt einfach so stehen! Kann da noch von demokratischer Willensbildung gesprochen werden?

Aber Vorsicht. Diese Abschottung eines Gestanks gegen jegliche Kritik von außen ist nicht nur böse und tendenziös. Sie folgt der Marktlogik, wie sie heute beschaffen ist. Jedes Marktprodukt tut nämlich so, als sei es das einzige. Kritik eines Marktprodukts in der Werbung eines anderen Marktprodukts ist geradezu verboten. Es ist Gesetz, dass sie nicht miteinander kommunizieren. Nur von jenseits ihrer eigenen unterbundenen Kommunikation werden sie, etwa durch die Stiftung Warentest, zueinander in Beziehung gesetzt, was von den Produktempfängern meistens nicht zur Kenntnis genommen wird. Nun sind eben auch Medien Marktprodukte. Das soll sie gar noch rechtfertigen. Sie kommunizieren nicht miteinander, dürfen aber dennoch den Platz eines konstitutiven Organs der demokratischen Willensbildung okkupieren, so dass es zu dieser überhaupt nicht kommen kann.

3

Wir nehmen uns die Freiheit, noch grundsätzlicher heranzugehen. Der Charakter von Medien, der meistens hervorgehoben wird, ist die Publizität. Zu sagen, sie verkörperten die öffentliche Meinung – oder sollten das tun, während ihnen tatsächlich nur, als eine Art Tautologie, die veröffentlichte Meinung abzulesen sei -, ist gleichsam die verschämte Form, ihre Rolle als Träger oder eher Verhinderer des Stattfindenkönnens demokratischer Willensbildung anzudeuten. Das Wort Publizität bedeutet aber nicht nur Öffentlichkeit, und schon gar nicht will es sagen, dass Publizität nur aus Publizisten bestehe. Es ist vielmehr auch, man kann fast sagen einziger, Bestandteil des Begriffs  R e – P u b l i k . Die Republik aber nennt Cicero, ein Autor, der sie gut kannte, die Sache des Volkes: rem populi, id est rem publicam (De re publica 3, 31). Und was wiederum ein Volk ausmacht – ich bleibe bei diesem Autor, dem es gelingt, in wenigen Worten das Wesentliche zu sagen -, ist dass eine Menge in dem übereinstimmt, was ihrer Überzeugung nach rechtens ist; will sagen, das Volk ist die Rechtsgemeinschaft (und nicht etwa die „Nation“). Als Sache des Volkes erscheint also das Rechtmäßige und dieses wird mit der öffentlichen Sache identifiziert.

Dabei möchte ich gleich auch darauf hinweisen, dass das Wort „öffentlich“ einen Sinn hat, der eigentlich zutage liegt, im häufigen und phrasenhaften Gebrauch aber fast unkenntlich geworden ist. Denn was ist das Öffentliche, wenn nicht das offen zutage Liegende – das  U n v e r b o r g e n e . Nun besagt eine Hauptthese meiner Blogreihe, dass  a l l e s  Ö k o n o m i s c h e  offengelegt sein muss. Ich habe es das Prinzip der Unverborgenheit genannt. Wie man sieht, könnte hier auch vom Postulat einer „republikanischen Ökonomie“ gesprochen werden. So wie Cicero argumentiert, wird aber noch mehr sichtbar. Noch die Grundannahme meiner Blogreihe überhaupt gewinnt von dem, was er erörtert, eine zusätzliche Kontur. Die Grundannahme, das ist der von der ersten Notiz an unterstrichene Satz, von dem auch Marx ausging, dass Individuen  g e s e l l s c h a f t l i c h e  Individuen sind. Das will sagen, sie sind zwar verschieden und agieren entsprechend und dies ist  a l s  „ I n d i v i d u a l i s m u s “  auch voll in Ordnung und verdient allen Schutz; sie sind aber auch fähig,  s i c h  z u s a m m e n z u t u n  und ein Gemeinwesen, wohlgemerkt auch auf dem Gebiet einer freien Ökonomie, zu bilden, weil in jedem von ihnen ein  s o l i d a r i s c h e r  A n t e i l  ist. Grob gesehen bestehen sie also aus z w e i Anteilen, und man wird den Anteil, der sich vom solidarischen unterscheidet, den privaten nennen. Die Solidarität äußert sich nicht zuletzt auch darin, dass alle darin übereinstimmen, dass die Privatsphäre geschützt werden muss.

Die Solidarität aber, und darauf wollte ich hinaus, ist  e i n e  S p h ä r e  d e r  U n v e r b o r g e n h e i t , und genau das hält das Wort Re-Publik fest. Und weiter. Damit es diese Sphäre auch wirklich gibt, muss sie einen materiellen Charakter haben, der nicht ausschließlich zwar, aber doch ganz wesentlich darin besteht, dass  P u b l i k a t i o n e n  zirkulieren. Womit wir wieder bei den Medien sind. Halten wir fest, die Sphäre besteht nicht ausschließlich darin. Sie besteht zunächst in dem Elementaren, dass ein gesellschaftliches Individuum die Bereitschaft hat und haben will, sich in einem Teilbereich seiner selbst den anderen Individuen vollständig zu entdecken. Das ist der Bereich, in dem sich mehrere und letztlich alle Individuen auf ihre gemeinsame Sache, dabei auch Rechtssache einigen. Es ist ja selbstverständlich, dass dies ein Bereich der Unverborgenheit sein muss. Denn was sich hier ereignet, ist der Austausch von Argumenten und Abgleich berechtigt erscheinender Interessen. Die werden natürlich publik gemacht, damit sie Zustimmung erfahren können oder Kritik, in welchem Fall es zu weiteren „Publikationen“ kommen wird.

Von diesem Elementaren gehen viele Folgen aus, eine davon ist aber dasjenige „Publizierte“, das nur in Medien geschehen kann, weil die unverborgene Sphäre der Re-Publik einer Massengesellschaft anders als durch sie hindurch – mit ihrer engagierten Hilfe – nicht lebendig werden könnte. Dass Medien kein anderes Existenzrecht haben, als dieser Durchgang zu sein, sagt schon ihr Name.

Wir haben also folgenden Zusammenhang:  D i e  R e – P u b l i k  als Sache des Volkes, das heißt sie verbindende Rechtssache, ist die Materialisierung des solidarischen Anteils der das Volk bildenden gesellschaftlichen Individuen. Diese, um sich derart materialisieren zu können, machen sich untereinander unverborgen oder anders gesagt  p u b l i k , was in der Massengesellschaft nur gelingen kann, wenn  d i  e  M e d i e n  s i c h  z u m  M e d i u m  dieses „publizistischen“ Anliegens machen. Geschieht das heute? Nein, es geschieht schon lange nicht mehr, wenn es überhaupt jemals geschah.

4

Was den historischen Aspekt angeht, könnte es scheinen, als sei meine Darlegung sehr hinter der Zeit zurück, da sie auf Cicero rekurriert, statt, wie es Habermas in seinem berühmten Erstling getan hat, Begriffsgebrauch und Entwicklungsgeschichte der „Öffentlichkeit“ von vornherein – wenn man seinen einleitenden Rückblick ins Mittelalter beiseitelässt – in jener neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft zu situieren, die uns selbst nur allzu bekannt ist (es ist schon dem Titel abzulesen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Berlin und Neuwied 1962). Bei der bürgerlichen Gesellschaft anzusetzen, hätte auch den Vorteil gehabt, in die Grundstruktur der Argumentation der aktuellen Medienwissenschaft eingeführt zu werden, die nachzeichnet, wie der von Habermas beschriebene Verfallsweg „vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum“ noch immer bösere Blüten treibt. (Ich komme auf diese Blüten ausführlich zurück.) Aber der Ansatz bei der bürgerlichen Gesellschaft hat auch einen Nachteil, den nämlich, dass uns die „Öffentlichkeit“, in der wir uns wiederfinden, immer schon als subalterne begegnet. Bevor nämlich das Kapital sie penetrierte, war sie einem herrschaftlichen Staat unterworfen, der sich selbst „öffentlich“ nannte, weil er von außen und von oben die öffentlichen Angelegenheiten der Unterworfenen regelte. Die „Öffentlichkeit“ der Bürger, abgesehen davon, dass sie sich in ihre eigene Kapitallogik verstrickte, konnte sich auch davon nie ganz emanzipieren.

Mitzuverfolgen, wie sie sich doch wenigstens zeitweise ein wenig befreite – bis dahin, dass in der Familie oder im Salon über das Angebot etwa von Literaturzeitschriften „räsoniert“ wurde -, um dann sehr schnell jener neuen Abhängigkeit der passiven Konsumorientierung zu verfallen, das ist gewiss erhellend. Aber welche Perspektive kann daraus gewonnen werden? Doch nur die der Hoffnung auf ein paar kleine realpolitische Defensivschritte. Es ist wahr, dass die ciceronische Perspektive in Europa seit den Caesaren nie mehr einen Ort hatte. Doch bei der Gründung der Vereinigten Staaten hat sie ihre Rolle gespielt. Davon ist bei Habermas keine Rede. Cicero ist der letzte, wohl auch größte Verfechter der römischen Republik vor und in ihrem Untergang. Danach beginnt die Zeit des Imperiums und eben der Caesaren, das heißt der notdürftig verhüllten Militärdiktatur. Auf solche wie Cicero haben die USA ihre Verfassung gestützt, bevor sie selbst imperial wurden. Ihre Väter brauchten ja die öffentliche Sache keinem absolutistischen Staat abzuringen. Hier umfasste sie anfangs das ganze Gemeinwesen, das sich altrömisch als civitas dachte, was eher mit „Bürgerschaft“ als mit „Staat“ zu übersetzen wäre. Hier wusste man übrigens auch, dass das Gemeinwesen eine Rechtsgemeinschaft war, wie Cicero eingeschärft hatte, und keine bloße Nation – ich habe es oben erwähnt -, oder um mit den Federalist Papers zu sprechen, dass es einer gewissen „Homogenität“ bedurfte, um als e i n Volk herrschen, das heißt demokratisch sein zu können. Heute, wo die USA imperial geworden sind, wollen sie sich auch dessen nicht mehr erinnern. Ihre Politik im Irak oder in Syrien spricht der einstigen Einsicht Hohn. Doch braucht man sich über den Verfallsweg nicht zu wundern, weil hier eben auch die Kapitallogik von Anfang an den größten Freiheitsraum hatte.

Wer die Andere Gesellschaft erörtert, geht dennoch besser zur größten Freiheit zurück als zum europäischen Mittelalter. In der nächsten Notiz betrachten wir näher, was das Kapital aus der öffentlichen Sphäre gemacht hat, die in den USA anfangs noch so „ciceronisch“ erschien. Im Kontrast zu diesem Niedergang will ich dann diejenige mediale Welt bestimmen, die zur Begleitung von Proportionswahlen und –wahlkämpfen geeignet ist.