(130) Reise nach innen

Zweite Abteilung / 3. Die vorwiegend politische Seite der Proportionswahl / Fünfter Teil – Proportionswahlen

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Freiheit muss nicht gleich „Sein zum Tode“ sein, sie ist andererseits nicht so trivial, dass es sich stets nur darum handelt, einen kleinen Zeit- und Bequemlichkeitsverlust hinzunehmen. Nein, man sollte einen Begriff für sie bilden, der sich zum Mehr oder Weniger an Freiheit gleichgültig verhält, indem er einfach nur nüchtern bestimmt, was „echte“ Freiheit ist. Es wurde schon gesagt: „Möglichkeiten haben“ ist gewiss Macht, deshalb aber noch nicht Freiheit. Der Mächtige ist nicht schon der Freie, auch wenn er, was aber gar kein Widerspruch ist, die Unfreiheit anderer noch steigert. Erst die Auseinandersetzung mit Möglichkeitsgrenzen, die ihrerseits möglich ist, macht frei. Sie beginnt damit, dass man die Grenzen zur Kenntnis nimmt, was uns, wie gesagt, von der Kapitallogik extrem erschwert wird, und führt entweder dazu, dass wir ihnen einen Sinn zuschreiben oder zuzuschreiben versuchen und sie deshalb hinnehmen, oder dazu, dass wir sie zu überschreiten, zu übersteigen versuchen – die „Transzendenz“ versuchen, mit Herbert Marcuse zu sprechen. Der Überstieg ist immer möglich, wenn er auch nicht immer glückt: Gerade das Inkaufnehmen des Scheiterns, sei es auch immer ungewollt, um eines „guten“, ja unvermeidlich scheinenden Überstiegs willen gehört zum Freisein (es muss nicht so weit gehen, dass man sich dem Risiko, gekreuzigt zu werden, aussetzt). Aber nicht immer, sondern  n u r  f a l l w e i s e  wird er versucht.

Wenn ich das so beschreibe, habe ich weiter nichts beschrieben als die Logik des Fragens und Antwortens, von dem in dieser Blogreihe schon viel die Rede war, ja das ich als hegemoniales Prinzip der Anderen Gesellschaft bestimmt habe. Dass eine Frage zusammen mit dem Möglichkeitsraum der Antworten, die sie mir eröffnet, auch die Grenzen dieses Raums setzt, begreife ich, ohne es mir bewusst machen zu müssen. Wenn mich jemand fragt, wie spät es sei, blicke ich einfach aufs Armband und sage „14 Uhr 23“, ohne mir in diesem Augenblick zu überlegen, dass ich mindestens 24 mal 60 Antwortmöglichkeiten hatte (in Wahrheit mehr, denn ich könnte etwas genauer wie auch viel ungenauer sprechen), oder dass es unendlich viele Zeitangaben gibt, die zu antworten mir  n i c h t  möglich war, wie „25 Uhr“ und dergleichen. Nicht einmal als Lügner könnte ich „25 Uhr“ antworten. Dies ist also ein Beispiel für eine von mir als sinnvoll anerkannte Möglichkeitsgrenze. Oder sagen wir, ich anerkenne sie als hinreichend sinnvoll. Es hat ja auch schon Zeiten gegeben, wo auf Uhren geschossen wurde, Walter Benjamin erinnert daran. Aber das soll jetzt nicht vertieft werden. Es gibt jedenfalls andere Fragen, deren Grenzen ich ohne Weiteres übersteige, wie zum Beispiel die, ob ich mich für Angela Merkels oder Sigmar Gabriels Griechenland-Vernichtungsstrategie erwärme und folglich bei den nächsten Bundestagswahlen entweder eine CDU-geführte oder eine SPD-geführte Regierung durch mein Stimmverhalten herbeizuführen helfe.

Es geht hier im engeren Sinn um die Tatsache, dass für die Teilnahme an Proportionswahlen in der Anderen Gesellschaft und vorher dafür, dass man ihnen Sinn zuschreibt und deshalb für sie kämpft – für die Andere Gesellschaft kämpft -, statt Dinge zu tun, die in der Sintflut kapitalistischer Möglichkeiten „bequemer“ erscheinen, hinreichend freie Menschen vorausgesetzt sind. Eine Proportionswahl ist gerade dazu da, einen solchen ökonomischen Möglichkeitsraum zu strukturieren, der von vornherein als begrenzt erfahren wird. Wir haben das durchdekliniert: Über seine Grenzen selber entscheiden die Menschen frei, wirklich so frei, dass bei sich verändernden Rahmenbedingungen auch Grenz v e r s c h i e b u n g e n  möglich sind, die aber immer  G r e n z verschiebungen bleiben. Wenn wir sagen, dass innerhalb der Grenzen die verbleibenden ökonomischen Möglichkeiten durch die Wahlentscheidung strukturiert werden, heißt das, sie zieht dem äußerlich begrenzten Raum noch innere Grenzen ein. Zum Beispiel würde die Entscheidung „vier Mal mehr öffentlicher Verkehr als motorisierter Privatverkehr“ bedeuten, dass Ersterer nach vier Einheiten, Letzterer schon nach einer Einheit auf Grenzen stößt und aufhören muss.

Das wäre eine freie Entscheidung und wäre eine Entscheidung für das Freie, denn gerade darin, dass man sich hier Grenzen setzt, die einem sinnvoll erscheinen – sie im Fall des motorisierten Privatverkehrs enger, im Fall des öffentlichen Verkehr dafür weiter zieht, im Übrigen für beide zusammen eine Außengrenze zieht, um ökologische Verträglichkeit zu wahren – besteht die Freiheit. Vom Einzelnen her gesehen, der an der Wahl teilnimmt oder der heute dafür kämpft, solche Wahlen vorzubereiten, besteht die Freiheit darin, dass er für diese Sache „Zeit opfert“. Er erkennt, dass er die kapitallogisch gestellte Frage nach der ungeheuren „Fülle der Möglichkeiten“, die er, wie es zunächst scheint, gar nicht zu überblicken vermag, mit einem schlichten Zug an ihr Ende führen kann. Denn diese Möglichkeitsfülle ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wir gehen in ihr unter, wenn es uns nicht gelingt, Ziele zu setzen, sinnvolle Ziele, zu deren Verwirklichung es keiner Fülle von Möglichkeiten, sondern ganz bestimmter Möglichkeiten bedarf. Die Möglichkeit, Windows 8 auf Windows 800 zu steigern, gehört bestimmt nicht dazu.

Über allem steht, wie schon gesagt wurde, die Frage, ob sich die Menschen überhaupt befreien  w o l l e n . Denn das ist die subjektive Bedingung der Möglichkeit der Anderen Gesellschaft. Um deren Herbeiführung, auch das sei noch einmal betont, geht es hier noch nicht. Ich werde also an dieser Stelle weder schon überlegen, wie Proportionswahlen erkämpft werden können, noch wie aus Menschen, denen der Wille zur Selbstbefreiung fehlt, welche werden, die ihn erlangt haben. Nur darum geht es hier, woran man diesen Willen, wenn er vorhanden ist, erkennt.

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Freiheit ist Freiseinwollen. Was sind die individuellen Bedingungen? Wenn sie nicht irgendwie schon vorhanden sind, in Spuren wenigstens, gibt es schwerlich Mittel und Wege, sie zu erschaffen. Ansetzen will ich bei der Überlegung eines ökologischen Vordenkers, dem es um solche Freiheit ging. Ich meine Rudolf Bahro und seine Rede von der „Reise nach innen“, die von vornherein etwas Plausibles hat, weil wenn es um Selbstbefreiung geht, ich in meinem „Inneren“ etwas entdecken können müsste, das mich zu ihr befähigt. Es ist nach allem schon ohne Bahro klar, dass „Reise nach innen“ nicht heißen kann, sich auf die einem selbst lieben Bequemlichkeiten zurückzuziehen, also schöne Musik hören, schöner Urlaub und so weiter. Andererseits hat sie auch mit solchen Dingen sehr wohl etwas zu tun. Es macht einen Unterschied, ob das Musikhören mir nur „Unterhaltung“ und Zerstreuung gewährt oder ob sie mir etwas aufschließt. Was Grenzerfahrung, Überstieg und „Transzendenz“ wäre, können mir Musik und Urlaub durchaus aufschließen.

Das liegt an ihrem Potential an Ekstase und Enthusiasmus, wie man es nennt. Was das ist, weiß irgendwie jede(r), es ist trotzdem sinnvoll, sich genauer zu besinnen. Es sind alte griechische Wörter, die seinerzeit sehr präzise gebraucht wurden. Sie stehen für zwei innere Zustände oder vielmehr Ereignisse, die „sich gegenseitig [bedingen] wie Ursache und Wirkung. Denn das ‚Heraustreten‘ des Menschen aus sich selbst, die ékstasis, ist die Voraussetzung dafür, dass er von seinem Gott erfüllt wird. Gotterfülltheit aber heißt enthusiasmós.“ Das lesen wir bei Erika Simon, der großen Archäologin, die den Begriffen an ihrer Quelle nachgeht, dem Dionysos-Kult. Beim Begriff enthusiasmós bleibend, fährt sie deshalb fort: „Man könnte sagen, die Mänaden“ – das Frauengefolge des Gottes – „rasen nicht selbst, sondern der ‚rasende Dionysos‘ tue dies in ihnen.“ (Die Götter der Griechen, 4. neu bearb. Aufl. München 1998, S. 233 f.) Wenn wir das auf Musik beziehen, die wir heute hören mögen und zu der wir uns verhalten, stoßen wir da gleich auf eine bezeichnende Differenz. Es versteht sich nämlich nicht von selbst, dass jemand durch Musik so zur Raserei gebracht wird, dass in ihr ein Gott sich offenbart.

Gewiss, irgendwas offenbart sich da immer, und wenn es nur das Glück der Maschine ist, als deren Element ich mich mehr oder weniger bewusst erfahre. Ich denke an Techno und daran, dass schon Marcuse avant la lettre, 1964 nämlich schon, von ihm gewusst hat: „Überhaupt“, lesen wir, „scheint in den erfolgreichsten Bereichen der Automation eine Art technischer Gemeinschaft die Menschenatome bei der Arbeit zu integrieren. Die Maschine scheint denen, die sie bedienen, einen betäubenden Rhythmus beizubringen: ‚Es besteht allgemeine Übereinkunft darüber, dass wechselseitige Bewegungen, die von einer Gruppe von Personen ausgeführt werden, die einem rhythmischen Schema folgen, Befriedigung gewähren – ganz abgesehen davon, was durch die Bewegungen hervorgebracht wird.‘“ (Der eindimensionale Mensch, Springe 2014, S. 46) Marcuse zitiert den eigentlich trivialen Satz von einem gewissen Charles R. Walker, er ist aber gar nicht so trivial, wenn man ein wenig nur weiterdenkt. Der Rhythmus, sagen uns Ethnologen, bildet den Rahmen für die Identifikation mit der Gruppe. Und gerade weil das eine ethnologische Einsicht ist, muss hinzugefügt werden, dass zur Gruppe neben den Lebenden auch die Toten gehören. Stehen uns doch rituelle Tänze vor Augen, die eben dies zum Ausdruck bringen. Also nichts gegen Techno, denn was kann man mehr wünschen als Gruppenidentifikation, das heißt Gesellschaftlichkeit, oder doch der Keim davon, und Zugang zur gesellschaftlichen Tradition? Allerdings bleiben beide sehr vage, wenn nichts weiter hinzutritt.

Die ékstasis ist ja, wie wir gehört haben,  n u r  d i e  V o r a u s s e t z u n g  für den Gott, der dann kommt; nur die Schaffung der Möglichkeit, anders gesagt, für sehr verschiedene Realisierungen. Wenn wahr ist, dass beim Techno das Gruppengefühl von der Maschine ausgeht, kann es doch sein, dass tanzende Techno-Mänaden weiter nichts anbeten als die „tote Arbeit, die über die lebendige herrscht“, ein Grundmerkmal des Kapitals laut Marx. Auch das, könnte man sagen, ist ein hereintretender Gott, der Kapitalgott eben; es ist ja, wenn wir Luther folgen, alles ein Gott, woran wir unser Herz hängen. Aber ein guter Gott ist es nicht, und wenn ein solcher enthusiastisch machte, das wäre besser. Und es ist auch möglich. Warum soll Techno nicht Voraussetzung der kapitalfreien, also stark revolutionierten „Marktmaschine“ werden, für die ich hier geworben habe? Aber wer sich dem Techno-Rasen hingibt, wird  n i c h t  v o n  s e l b s t  und ohne Weiteres zu so einer Revolution sich aufschwingen.

Das Analoge haben sich auch die Griechen und besonders die Athener seinerzeit gedacht. Sie haben das Dionysische zur Tragödie weiterentwickelt. Wenn man Aischylos, Sophokles oder Euripides liest, es gibt keine Tragödie, die nicht im Allgemeinen eine Raserei ist, sei es der Angst oder Verzweiflung, des Muts oder Übermuts. Die Dargestellten sind immer in Umständen, durch die sie gezwungen sind, aus sich herauszutreten. (Und die Schauspieler, nebenbei gesagt, treten allein dadurch schon aus sich heraus, daß sie Schauspieler sind.) Aber was dann ins Herausgewordene eintritt, ist nicht irgendwas, sondern es sind Götter mit ihren sehr bestimmen Anforderungen und Zumutungen. Diese zu erfahren und damit sich auseinanderzusetzen, darum geht es, das ist der enthusiasmós. Er muss keineswegs darin bestehen, dass man sich den eintretenden Göttern unkritisch hingibt; nein, es gibt sehr viel Götterkritik bei Euripides, und schon bei Sophokles deutet sie sich an. Wichtig ist aber, dass man der wichtigen Götter überhaupt gewahr wird. Dann kommt es zu Einsichten – die oft erschrecken. Euripides hat Sokrates vorbereitet und der konnte beweisen, dass er ein freier Mensch war: Er nahm den Schierlingsbecher in Kauf.

Dies sind nun gewiss sehr hochgegriffene Überlegungen. Aber etwas davon steht jedem und jeder in seiner / ihrer „Reise nach innen“ zur Verfügung. Wenn ich zum Beispiel Musik höre – man kann ja nur von sich selbst reden, andere müssen das für sie Vergleichbare, wenn auch Verschiedene herausfinden -, habe ich die ékstasis häufig, und der Eindruck, wichtigen Göttern im dann mich heimsuchenden enthusiasmós zu begegnen, kommt manchmal hinzu. Ich höre etwa, ein länger zurückliegendes Beispiel, die Vierte von Brahms und bin erschüttert über die Entdeckung, dass der Komponist mir eine schlimme Ausweglosigkeit zu verstehen gibt. Ich höre also „E-Musik“ statt Techno. Aber darum geht es gar nicht.

Es gibt „klassische“ Musikstücke, die nachgerade technomäßig sind, nicht darin zwar, dass sie an Maschinen erinnern, aber in Sequenzen der Wiederholung, die rasend machen, weil sie auf der Stelle zu treten und dadurch aus der Zeit herauszutreten scheinen. Überhaupt ist es wohl grundsätzlich mein Zeitgefühl, aus dem ich in der ékstasis heraustrete. Der Pianist Glenn Gould, mit dessen Interpretation Johann Sebastian Bachs ich gar nicht immer konform gehe, hatte dafür ein Gespür. Hört man, wie er den ersten Satz des Konzerts für Cembalo, bei ihm Piano und Orchester Nr. 1 in d-moll spielt, hört man auch eine gewisse Passage im letzten Satz der Sonate für Viola Gamba Nr. 2 in D-Dur, kann einen ein Ewigkeitsgefühl anwandeln und man möchte die Wände hochgehen. Ebenso wenn man das Ungarische Divertissement op. 54 von Franz Schubert hört oder das Streichquartett D-Dur, noch ohne opus-Zahl, von Arnold Schönberg – die allerirrste Wiege und Schaukel überhaupt – in der Interpretation möglichst der frühen Julliards. Oder, was ich zur Zeit häufig tue, den letzten Satz das Klavierquintetts A-Dur op. 81 sowie die Bagatellen op. 74 von Antonin Dvorak, am Besten ebenfalls unter Mitwirkung des Julliard-Quartetts. Auch Dvoraks Vierte Sinfonie ist einschlägig, wie man wohl überhaupt noch viele weitere Beispiele anführen könnte – es ist ein bestimmter Typus von Musik.

Der sich aber in der ékstasis erschöpft. Diese für sich genommen ist schlechterdings begeisternd: Wer dabei stehenbleibt, erfährt nie den Schrecken des enthusiasmós, den die hereintretenden Götter meistens zufügen. Wie könnte es denn anders sein? Wie schlimm es einem ergehen kann, der sich darüber Illusionen macht und etwa glaubt, er brauche nur der Raserei sich hinzugeben und könne den enthusiasmós außen vor lassen, lehren nicht wenige griechische Tragödien. Da wird die Raserei zum Wahnsinn, in der man, ohne es zu merken, eine Rinderherde oder die eigenen Kinder abschlachtet. Nein, man muss sich den Göttern stellen, auch wenn man an ihrem Blitz vergeht wie Semele, die trotzdem noch hinterher zur Mutter des Dionysos wurde. Götter tun einander nichts, lese ich bei Euripides, der dann zeigt, wie Menschen den Gegensatz solcher Götter inkarnieren müssen und davon zerrissen werden.

Und natürlich kann auch jeder Urlaub enthusiastisch sein, weshalb würde man ihn sonst unternehmen. Welch ein Ereignis, in Florenz den kalten und sogar etwas traurigen Blick des Perseus zu sehen, wenn er den Kopf der Medusa betrachtet, den er abgeschlagen hat und aus dem sich Ströme von Blut ergießen. Es ist eher unsympathisch – auf höchstem Niveau – und deshalb umso wichtiger. Der Urlaub erweitert meinen Blick auf die Menschheitsgeschichte, also auf mich selbst. So ist er eine Reise nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Die Reise nach innen, davon sind wir ausgegangen, zeigt unsere Freiheitsfähigkeit oder das Fehlen derselben. Ich kann dort erfahren, was Freiheit überhaupt ist. Wenn ich die Fähigkeit habe, werde ich sie auch praktisch ausüben. Umgekehrt wird wahrscheinlich meine Teilnahme an praktischen Befreiungsschritten, wo ich also nicht mehr isoliert bin, die innere Fähigkeit steigern oder überhaupt erst hervorbringen.

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Wie ich sagte, ist die Formel „Reise nach innen“ Rudolf Bahro zu verdanken, so dass man meine Ausführungen auch als Kommentar zu den seinigen lesen kann. Ich will noch ein paar Worte nachtragen, die sich auf sein einschlägiges Buch, die Logik der Rettung (Stuttgart Wien 1987), direkt beziehen. Bahro war in vielem ein Wegweiser für mich, so gehörte er ja schon frühzeitig zu denen, die vor der Illusion warnten, die ökologische Sache könne mit der SPD gegen die Unionsparteien durchgesetzt werden. Und gerade auch die Bedeutung der Frage, was „innen“ mit uns geschieht, wenn wir für eine bessere Gesellschaft eintreten, hat er richtig hervorgehoben. Grundsätzlich sage ich, er ist für seine und unsere Freiheit eingetreten, auch wenn er sich bei der gedanklichen Ausführung in viel Unfreiheit verstrickt. Wie Trotzki. Bahro, so sehe ich es, ist ein früher Pionier, mit dessen Positionen man sich gut auseinandersetzen kann, um die eigene Position zu gewinnen.

Ich würde urteilen, dass er unser Dilemma zwar ganz ähnlich diagnostiziert wie Marcuse, aber doch hinter diesen zurückfällt. „Völker wie unseres“, schreibt er, „haben sich jetzt gerade darin zu bewähren, dass sie fähig werden, sich ohne schon völlig offensichtliche und unmittelbare Not von einem Lebensmodell zu lösen, das zwar lebensgefährlich, aber noch komfortabel ist und gewisse Kompensationen für die vornehmlich psychischen Verletzungen und Frustrationen bietet, die schon direkt spürbar sind.“ (S. 316) Es wird nicht deutlich, wie sehr das Fehlen von Not und die Bequemlichkeit unseres Lebens in den letzten systemischen Imperativen unserer Gesellschaft verankert sind. Marcuse, der es sah – dass sie uns mit „Möglichkeiten“ überschüttet und gleichsam erstickt -, wäre nie auf den Gedanken gekommen, es lasse sich daran durch voluntaristische Entscheidungen etwas ändern. Die Deutschen „haben sich jetzt“ zu „bewähren“? Umgekehrt, das Problem liegt darin, dass sie es  n i c h t  k ö n n e n , weil die ganze Gewalt der Kapitallogik dagegen wütet.

Der Schluss ist naheliegend und wird von Bahro auch gezogen, dass wer sich „nach innen“ wendet, dort gerade nach der Not zu suchen hätte, die keineswegs nur in den äußeren Verhältnissen liegt. Die Not ist nicht „schon völlig offensichtlich“: Sie verbirgt sich und muss ans Licht gezogen werden. Man muss sich mit ihr konfrontieren. Doch welche Not sieht er? Das „Ego“. „Wie die Bewusstseinsverfassung darf auch die politische Konstitution nicht länger um die Selbstsucht zentriert sein […]. Solange die expansive Tendenz nicht vom Menschen selbst her beschränkt ist, muss das Gesetz mehr verbieten.“ Er will den Menschen gesetzlich verbieten, dass sie den „Suchtcharakter der Bedürfnisse“ ausleben, und scheut sich nicht zu kommentieren, das sei zwar ein „totalitäre[r] Rückschlag“, doch müsse man sich über ihn „nicht wundern“. (S. 316 f.) Eine falsche Analyse liegt hier zugrunde. Denn wenn auch wahr ist, dass die Not nicht nur von außen, sondern auch von innen kommt, ist doch gerade die „expansive Tendenz“ ein spezielles Merkmal des Kapitalismus. Der Kapitalismus ist eine äußere Formation (geworden), die unsere Seelen besetzt hat und noch immer mehr besetzt, es kann aber keine Rede davon sein, dass er die conditio humana sei oder auf den Punkt bringe.

Um genauer zu sprechen: Natürlich ist der Mensch per se expansiv, es gibt aber überhaupt keinen Grund, daran etwas zu kritisieren. Er war es viele Jahrzehntausende lang, ohne dass das Ökosystem zusammenbrach. Das Ökosystem bricht jetzt nicht deshalb zusammen, weil beliebige Menschen beliebig „expansiv“ sind, zum Beispiel den Kreis ihrer Freunde und Vorbilder, ihrer Tätigkeit und Weltkenntnis immerzu ausweiten wollen, sondern weil die Kapitallogik eine ist, die ins Unendliche strebt. Aus diesem Grund ist ökologische Kritik auch nicht am „Ego“ festzumachen, wenn auch am spezifischen Egoismus, der in der kapitalistischen Marktwirtschaft begegnet. Wir haben ja bei Polanyi gelesen, dass es ihn so nicht immer gegeben hat (76. Notiz), und können schlussfolgern, dass wir keineswegs die von Bahro für unvermeidlich gehaltene Ökodiktatur brauchen, um sie gegen die kapitalistischen Alphatiere auszuspielen, als gäbe es keinen anderen Weg. Vielmehr können wir immer noch auf Kräfte im Ego setzen – nie werden sie verschwinden, solange es noch Menschen gibt -, die sich gegen die kapitallogische Besetzung desselben Ego wenden. Abgesehen davon, dass das möglich ist, ist es nur so möglich. Eine Ökodiktatur, selbst wenn sie vernünftig wäre, würde nie gelingen.

Da muss nun wieder gesagt werden, Bahro sieht das irgendwie auch. Er muss ja wenigstens diejenigen zusammenbringen, die imstande sind, eine Ökodiktatur vorzubereiten und durchzusetzen. Denen sagt er, bei ihnen fange es „innen“ oder gar nicht an. Aber das heißt nur, diese Egos müssen sich ihr Ego, ihre Sucht und Expansion selbst verbieten. Und wie sollen sie es können? Ich sehe nur, dass Bahro ihnen die gute Alternative offeriert. „Das, worauf es ankommt: wirkliche Begegnung mit Anderen, Freundschaft und Liebe, Schönheit und Ordnung eines Milieus, Weisheit und Kultur im Umgang mit Konflikten“ (S. 318), „volle Entfaltung jenes humanen Potentials […], das in der Polarität der erotischen und spirituellen Energien liegt“ (S. 320), „Zentrierung des Alltags um eine spirituelle Praxis […], in der sich Eros, Logos und Arbeit versöhnen und überhöhen lassen“ (S. 321). Was mir fehlt, ist das Negative. Und damit die Befähigung zu all dem „Wirklichen“ und „Vollen“. Die Freiheitsfähigkeit. Nur in diesem Satz taucht sie auf: „Eine neue Sittlichkeit kann nur in der Regelung primär der alltäglichen Konflikte wurzeln, in die sich Individualitäten verstricken.“ (S. 320) Wie furchtbar Bahro selbst an der „Regelung“ gescheitert ist, in der sich ja jeder Mensch versucht, den es gibt und je gegeben hat, kann man in der sehr guten Bahro-Biographie von Guntolf Herzberg und Kurt Seifert nachlesen (Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare, Berlin 2002).

Die Konflikte, in die wir verstrickt sind, sind nicht bloß alltäglich, sondern können aus großer Tiefe her, oder Höhe, wenn man will, in uns gelangt sein. Streitende Götter mögen uns zum Schauplatz ihres Kampfes gemacht haben. Wir müssen uns da erst einmal sachkundig machen. Dann kämpfen wir um unsere Freiheit, an den Grenzen uns abarbeitend, die solche Götter außen und quer durch unsere Seelen gezogen haben. Wenn es so steht,  s i n d  wir frei. An einer Stelle zitiert Bahro den Kirchenvater Augustin. „Das neue Bewusstsein greift auch und gerade in den privilegierten Kreisen unserer Gesellschaft. Es kommt so ähnlich wie einst Augustinus von der Zugehörigkeit zur Civitas Dei sagte: Es seien manche draußen, die drinnen zu sein meinten, und manche, die scheinbar draußen stünden, seien in Wirklichkeit drinnen.“ (S. 318) Teils wissend, teils unwissend sind manche, will Bahro sagen, beim „Wirklichen“ und „Vollen“ schon angelangt. Schade, dass er nicht diesen Augustin zitiert hat, aus den Confessiones, der vom Negativen spricht: „Ich bin mir selbst zur Frage geworden.“