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Es folgt noch ein weiteres Kapitel, das nun definitiv letzte der Zweiten Abteilung des Fünften Teils, in der es überall um die Durchführung und Durchführbarkeit von „Proportionswahlen“ ging. Wo und wie, fragen wir jetzt, modifizieren diese Wahlen – zum Beispiel: Soll die Proportion Öffentlicher Verkehr zu motorisiertem Privatverkehr 1 : 4 oder 4 : 1 betragen – die überkommene Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative, die zu den definitorischen (nicht immer auch faktischen) Merkmalen moderner Demokratie gehört? Die Erörterung eines systematischen Themas ist eine gute Art, die Zweite Abteilung zu beenden. Das Kapitel dient mir aber auch dazu, zwei Schwächen früherer Einträgen zu korrigieren. Die zweite wird ausführlicher zu behandeln sein und eine Auseinandersetzung mit dem Buch von Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, einschließen. Das fällt aber erst unter die Rubrik Exekutive, während mein heutiger Gegenstand die Legislative ist.
Was ich in der 114. Notiz über Proportionswahlen als direkte Demokratie schrieb, scheint mir zwar nicht irrig zu sein, bleibt aber unbefriedigend, weil nur ein Ansatz gegeben wurde ohne die technische Durchführung. Ich kann doch nicht dabei stehenbleiben, die Proportionswahl als ein Stück „direkte Demokratie“ zu erklären, wo man dann an den Volksentscheid denkt, zumal ich mit Stuttgart 21 argumentiere. Man muss sehen, Ausdrücke wie „direkte Demokratie“ und „Volksentscheid“ sind Bestandteil einer ganzen Sprache, deren Logik durch die Proportionswahl teilweise durchkreuzt wird. Es ist dies die Sprache des Parlamentarismus. Bei der direkten Demokratie wird das sofort klar, denn sie heißt so, weil der Demos in ihr nicht indirekt durch Parlamentarier regiert.
Um das Problem aber auch am Volksentscheid zu exponieren: Er ist die Abstimmung über eine vom Volk eingebrachte Vorlage. Dem steht, so sagt man, das Referendum gegenüber, die vom Parlament oder von der Regierung eingebrachte Vorlage. Dabei erscheint das Parlament als die Legislative, die Regierung als oberste Instanz der Exekutive. Der Volksentscheid ergänzt beide nur, die auch ohne ihn imstande sind, sich mit buchstäblich Allem zu befassen. Die Proportionswahl ist aber kein Entscheid in Sachen, die auch von Parlamenten entschieden werden können, sondern bezieht sich auf Fragen, hinsichtlich derer sie die einzige Legislative ist.
Das hat etwa die Konsequenz, dass wir ihr eine eigene Exekutive zuordnen. Auch die gewöhnliche Regierung gehört zwar zu den sie exekutierenden Organen, zum Beispiel hat sie die Bildungspolitik so auszurichten, dass Proportionswahlen mit möglichst viel Sachkenntnis durchgeführt werden können. Doch die Kontrolle der Befolgung des Wahlergebnisses durch die Unternehmen wird nicht ihre Sache sein. Auch nicht der ständige Vergleich zwischen der im Proportionswahlergebnis festgeschriebenen Erwartung und dem tatsächlichen Verlauf der Wahlperiode (dazu die 123. Notiz). Und auch nicht die öffentliche Feststellung der Optionen, die sich aus dem Vergleich jeweils ergeben.
Eine andere Seite der Sache ist die, dass die Proportionswahl eine Wahl ist, während man den Volksentscheid von Wahlen zu unterscheiden pflegt. Das ist auch nachvollziehbar: Aus Volksentscheiden gehen im Erfolgsfall Gesetze hervor. Gerade darin ergänzen sie die Parlamente, deren Tätigkeit eben in der Gesetzgebung besteht. Mit Wahlen aber werden solche Parlamente allererst bestellt. Parlamente erlassen Gesetze, sind aber nicht selbst welche. Der Rechtsakt, mit dem Wähler eine Legislative bestellen, ist keine Gesetzgebung. Er besteht vielmehr darin, dass sie Vertretern ihrer selbst eine Vollmacht erteilen. Die Proportionswahl hingegen ist beides: Sie schafft ein Gesetz – das zur Realisierung der gewählten ökonomischen Proportionen verpflichtet -, gibt allen Produzenten die Vollmacht, es je nach konkreten Bedingungen auszuführen, und bindet sie an diese Vollmacht. Dass sie natürlich auch Parlamente und Regierungen bindet, wurde schon gesagt.
Und ein Letztes. In einer Proportionswahl werden zwar kontroverse Vorlagen vorgelegt, darin ist sie dem Volksentscheid vergleichbar. Doch dienen die Vorlagen nur zur Orientierung. Es steht ja jedem Wähler, jeder Wählerin frei, für seine oder ihre ganz eigene Vorlage, ihren eigenen individuell gewollten Konsum zu stimmen. Da die Summierung solcher Einzelpläne zu pauschalen Proportionen danach geprüft werden muss, ob ökonomisch Mögliches herausgekommen ist, wird es zwar am Ende doch wieder auf die Wahl einer Vorlage oder zwischen Vorlagen hinauslaufen (die sich dann nur noch unwesentlich unterscheiden). Sie als „Volksentscheid“ zu bezeichnen, würde aber in die Irre führen. Eher handelt es sich um eine Verdichtung von Individualentscheiden.
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Wie gesagt, werden die Gegensatzpaare der parlamentarischen Sprache – Volksentscheid oder Referendum, Gesetzgebung oder Mandatserteilung, Abstimmung über Vorlagen oder Einbringen der je eigenen individuellen Option – von der Proportionswahl durchkreuzt. An ihre Stelle tritt das Zusammenspiel der Proportionswahl-Institutionen mit den Parlamenten. Gehen wir die Gegensatzpaare einzeln durch.
In den alten Begriffen gedacht, ist die Proportionswahl Volksentscheid und Referendum in einem. Denn sie erschöpft sich nicht darin, dass aus der Wahlbevölkerung heraus eine Initiative entsteht, die ökonomischen Proportionen zu ändern. Diese Initiative wird es geben, sie wird ihre Vorlage erstellen. Doch auch andere Kräfte, darunter die Kräfte der ökonomischen Beharrung, werden das tun. Und auch, wenn sie wollen, und sie werden wollen, die parlamentarischen Parteien, wenn nicht gar die Regierungskoalition. Deren Vorlage würde heute als Referendums-Vorlage gelten. In der ökonomischen Wahl der Anderen Gesellschaft unterscheidet sich ihr Status aber in nichts von dem der Vorlage, die aus der Bevölkerung heraus entstanden ist. Andererseits verhält sich die Initiative aus der Bevölkerung, als wäre sie selbst das Parlament, denn sie fordert nicht nur die Lösung eines besonderen Problems – obwohl das immer der Ausgangspunkt ist -, sondern bettet ihn in ein gesamtgesellschaftliches ökonomisches Konzept, wie das heute Aufgabe einer Regierungskoalition wäre. Außerdem lässt sie sich ihre Vorlage, damit sie den definierten Anforderungen genügt, von Ökonomen und Juristen erstellen, deren Tätigkeit sonst zu den Gründen gehört, weshalb es Parlamente geben muss.
„Gesellschaftliche Gesetzgebung“ könnte man es nennen. Die Gesellschaft gibt sich ein einziges Gesetz von freilich so umfassendem Charakter, dass man von einem zweiten, dem ökonomischen Grundgesetz sprechen könnte. Dass es daneben weiterhin Volksentscheide heutiger Art, ja auch Referenden heutiger Art geben mag, versteht sich von selbst.
Die gesellschaftliche Gesetzgebung ist zugleich Mandatserteilung. Am Rande wurde das in früheren Einträgen schon festgestellt, und zwar sowohl was Unternehmer wie auch was Arbeiter angeht. Von Unternehmern sagte ich häufig, ihre Tätigkeit sei nur als gesellschaftliche Dienstleistung gerechtfertigt. Dabei ist „Dienstleistung“ nicht bloß ökonomisch zu verstehen, als wenn wie heute „Dienst am Kunden“ versprochen wird, ohne dass die Nichteinlösung des Versprechens irgendwelche Sanktionen nach sich zieht. Übrigens kann dergleichen auch in der Anderen Gesellschaft vorkommen. Es mögen mangelhafte Küchenmaschinen verkauft worden sein, ohne dass der Anbieter dafür gerade steht und hilft. Dann wendet sich der Kunde künftig an andere Anbieter. Das ist ein rein ökonomischer Vorgang. Aber wenn eine gewählte Grenze überschritten wird, zum Beispiel mehr Autos angeboten werden als mit der gewählten Proportion „Öffentlicher Verkehr zu motorisiertem Privatverkehr wie 4 zu 1“ vereinbar ist, ist das in der Anderen Gesellschaft eine Rechtsverletzung. Unternehmer halten sich nicht an das, wozu man sie bevollmächtigt hat. Solche Vollmachten werden strikt ausgelegt – nicht wie heute bei Parteien, wenn sie, im Parlament angekommen, ihre Wahlkampfschwüre vergessen.
Dass auch alle Inhaber von Arbeitsplätzen Bevollmächtigte sind, habe ich vor längerer Zeit formuliert. Es ging damals (in der 67. Notiz) um die Frage, ob in der Anderen Gesellschaft ökonomische Tätigkeiten überhaupt noch als „Arbeit“ qualifiziert werden können und sollten. Ist das ein unschuldiger Ausdruck oder liegt darin die historische Erinnerung an Zwang und Ausbeutung? Darüber kann man streiten. Ich resümierte am Ende, die Frage, wie die befreiten Menschen ihre ökonomische Tätigkeit nennen würden, sei von ihnen selbst zu beantworten, merkte aber auch an: Er, der ökonomisch Tätige,
„ist kein ‚Arbeitnehmer‘ mehr, weil er zwar wohl etwas ‚nimmt‘, entgegennimmt, statt eigenmächtig unbekümmert zu produzieren; das aber, w a s er nimmt, ist nicht mehr beliebige ‚Arbeit‘, die nur um des ‚Erwerbs‘ willen getan wird, sondern eine je bestimmte von der Gesellschaft in ökonomischen Wahlen entschiedene Zielvorstellung. Er nimmt einen bestimmten A u f t r a g entgegen und erfüllt ihn gewissenhaft, schon weil er selbst, in seiner Eigenschaft als ökonomischer Wähler, über ihn mitentschieden hat. Von daher wäre er also nicht ‚Arbeitnehmer‘, ‚Erwerbstätiger‘ oder ‚Beschäftigter‘, sondern B e a u f t r a g t e r – wie man heute von Menschenrechts- oder Datenschutz-Beauftragten spricht. Als Beauftragter ist er mit andern Worten ökonomischer A n w a l t , der in seinem Auftragsbereich eigenständig ‚schaltet und waltet‘, das heißt ihn beherrscht.“
Es werden hier nicht, wie bei der Parlamentsbestellung, aus vielen Personen einige ausgewählt, denen man die gute Gesetzgebung zutraut, sondern man selber wählt das Gesetz aus, während die Personen schon da sind, die es auszuführen haben. Jedenfalls vom Standpunkt der Proportionswähler sind sie da oder werden es sein, und darauf kommt es hier an. Eine Auswahl unter den Personen findet auch statt, wird aber nicht von den Proportionswählern vorgenommen, sondern von ihnen selbst. Wie wir früher sahen, beraten sich nämlich die Unternehmer, ob und wie sie im Zug der Erfüllung des Wahlergebnisses konkurrenzfähig sind; die Unverborgenheit aller ökonomischer Daten macht es möglich. Von den Arbeitsfähigen entscheiden sich welche, ihre Fähigkeit jetzt einzusetzen, während andere weiter pausieren und ihr Grundeinkommen beziehen. Aber das sind Vorgänge, die den Wähler nicht tangieren, weil sie außerhalb der eigentlichen Wahl geschehen. Genauer gesprochen, tangieren sie ihn a l s W ä h l e r nicht, das heißt als den, der über den gesellschaftlichen und seinen privaten Konsum entscheidet. In anderer Funktion ist er aber selbst auch der Produzierende.
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Zentral ist das dritte Gegensatzpaar, Abstimmung über Vorlagen oder Einbringen der je eigenen individuellen Option. Es hat heute den Charakter, dass nur das Erste politisch, das Zweite aber eine Frage des Marktgeschehens ist. Eine individuelle Option hat man als Privatkäufer. In der Anderen Gesellschaft jedoch tun sich die Individuen zusammen, um gewisse Grundzüge des Privatkaufs gemeinsam festzulegen. Sie haben einerseits individuelle Optionen, andererseits verstehen sie diese als Mosaiksteine des Gesamteinkaufsbildes der Gesellschaft, haben also einen Blick darauf, dass das Bild stimmig sein muss. So eben funktioniert eine Proportionswahl. Sie fängt mit der Vorlage möglicher, das heißt stimmiger Gesamtbilder an, dann bringt der einzelne Wähler, mehr oder weniger orientiert an diesen Bildern, seine individuelle Option ein, die Optionen werden drittens zusammengerechnet und viertens kommt es gegebenenfalls zur Modifikation des Resultats, damit es seinerseits stimmig ist.
Wir nennen dies Resultat ein Gesetz, haben es aber doch mit einem Gesetz neuen Typs zu tun. Denn was bisher so heißt, ist immer aus der Abstimmung allein über Vorlagen entstanden. Ich scheine damit eine ganz unwichtige Seite der Sache hervorzuheben. Eine Definition, die besagt, in der bisherigen Demokratie sei ein Gesetz eine Vorlage zur Abstimmung, die eine Mehrheit gefunden hat, würde befremden. Ist das nicht eine Randbedingung, die sich von selbst versteht? Nein, es scheint nur so. In der Perspektive der Anderen Gesellschaft, die demokratischer ist als die heutige, wird das deutlich. Ich argumentiere im Folgenden mit Kant. Von Kant her gesehen, ist ein Gesetz eine Realisation des kategorischen Imperativs. „Handle nur nach derjenigen Maxime“, besagt er, „durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Im Parlamentarismus wird diese Formel nur teilweise verwirklicht.
Demokratische Gesetze sprechen zwar immer davon, was Alle tun sollen oder nicht tun dürfen, und gelten als demokratisch, weil an ihrer Entstehung Alle beteiligt waren, darin nämlich, dass die gesetzesbeschließenden Parlamente aus allgemeinen Wahlen hervorgehen. Dem kategorischen Imperativ wird insofern Genüge getan, als keine diskriminierenden oder privilegierenden Sonderregeln für bestimmte Bevölkerungsgruppen erlassen werden, der Theorie nach wenigstens nicht. Mit dem Imperativ stimmt auch überein, dass es immer Einzelne sind, die solche Gesetze allererst auf den Weg bringen. Denn der Imperativ richtet sich offenbar an Einzelne. Du da, jeder der mitliest, handle stets so… Aber hier stoßen wir schon auf jene scheinbar unwichtige Seite der parlamentarischen Gesetzgebung, dass sie eine Abstimmung über Vorlagen ist. Diese Vorlagen werden gewiss von Einzelnen und Gruppen eingebracht. Nur sind es besondere Einzelne, was der Imperativ nicht vorsieht. Er sagt ja nicht: D u P a r l a m e n t a r i e r ( g r u p p e ) , handle stets so… Das ist aber die Version, in der er allein zur Geltung kommt. Die Folge ist, dass alle anderen Einzelnen mit Gesetzen konfrontiert werden, die Vorlagen entstammen, an deren Entstehung sie nicht beteiligt waren. Jedenfalls wird niemand beteiligt, der nicht wenigstens Lobbyist ist.
Ob der Parlamentarier nach der Maxime handelt, die er im Gesetz vorschreibt, das er mitbeschließt, ist noch eine Frage für sich. Der Imperativ, dem er sich unterwirft, müsste daher eher so formuliert werden: Deine Handlung sei, dass du dir eine Maxime v o r s t e l l s t – und selber nach ihr handelst oder auch nicht -, von der du wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde. Wer hier einwendet, dieser Imperativ sei ja auch nur eine Frage der Moral, nicht des Rechts, also nicht der Gesetzgebung, befindet sich im Irrtum, denn der kantische Satz handelt wörtlich und eindeutig vom „Gesetz“ und davon, wie es zustande kommen kann. Im Parlamentarismus kommt es etwas anders zustande, als im kategorischen Imperativ vorgesehen. Ich will hier gar nicht behaupten, das sei schlecht; wenn wenigstens der Lobbyismus beherrscht werden könnte, wäre wohl wenig dagegen zu sagen. Feststellen will ich aber auch, dass damit eine Grenze bezeichnet ist, die wir überschreiten, wenn wir uns zur ökonomischen Demokratie entschließen. Nur deshalb argumentiere ich hier mit Kant.
Das Kernelement der ökonomischen Demokratie sind Proportionswahlen. Hier werden nicht Vertreter gewählt, die sich ökonomische Maximen vorstellen. Nicht Vertreter-Maximen werden allgemeines Gesetz und müssen von allen, so auch von mir verinnerlicht werden, denn es gibt gar keine. Auf diesem besonderen Feld, dem ökonomischen, wird der kategorische Imperativ nicht auf den Kopf gestellt, wie es wohl in der parlamentarischen Gesetzgebung unvermeidlich ist: Gib ein allgemeines Gesetz, lautet er da – und ist nicht an mich gerichtet, sondern an Parlamentarier -, von dem du wollen kannst, dass jedermann sie zu seiner individuellen Maxime machen muss. Für die Einzelnen außerhalb des Parlaments, darunter mich, fängt die demokratische Prozedur mit diesem Gesetz an, das ich nicht vorgelegt habe, weder allein noch mit anderen Einzelnen zusammen. Selbst wenn das Gesetz dem Referendum ausgesetzt wird, verhält es sich so. Ja auch unser eigener Volksentscheid fängt mit einer Vorlage an, in der unsere individuellen Optionen nivelliert sind, oder besser andersherum gesagt, wir streben von vornherein nur solche Volksentscheide an, bei denen es auf den Unterschied unserer individuellen Optionen nicht ankommt. Noch einmal, es ist dagegen wohl gar nichts zu sagen! Nur, bei Proportionswahlen, der ökonomischen Demokratie, kann und muss es anders laufen. Hier müssen alle Einzelnen solche Grundlinien des Konsums wählen können, die ihnen jeweils ganz individuell wünschenswert erscheinen.
Und das geht auch. Es geht gerade in der Logik des kategorischen Imperativs, wenn wir ihn nunmehr unverkürzt befolgen. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“: Genau das tut der Proportionswähler. Denn er legt einerseits s e i n e Maxime zugrunde, bringt nämlich in der Wahl zum Ausdruck, nach welchen subjektiven Grundsätzen seines Konsums er in der Wahlperiode leben will. Andererseits weiß er, dass alle anderen es auch tun und aus Allem sich ein stimmiges Resultat ergeben muss. Er weiß, anders gesagt, dass er „ z u g l e i c h “ ein G e s e t z mitformt, das Gesetz der Proportionen; er w i l l , dass seine Individualmaxime als Element dieses Gesetzes, und nur so, Gültigkeit habe und insofern „Gesetz werde“. Hier könnte eingewandt werden, Kant habe ja nicht zu mehreren Einzelnen gesprochen, die ihre Maximen aufeinander abstimmen. Aber das scheint mir nicht so sicher zu sein, denn in einer anderen Formulierung sagt der kategorische Imperativ: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Da ist von mehreren Einzelnen, sogar von allen anderen Einzelnen die Rede. Mich selbst und die anderen „als Zweck brauchen“ geht nur, indem wir uns aufeinander abstimmen. Um das zu unterstreichen: Es gibt Vorlagen, darunter auch Referenden, die zur Abstimmung gestellt werden, eine Abstimmung a u f e i n a n d e r ist aber etwas anderes. Proportionswahlen sind beides in einem.
Nur eine sehr bescheidene Schlussfolgerung ziehe ich aus diesen Überlegungen, und es ist die, die schon benannt wurde: Das Proportionswahlergebnis als Gesetz ist ein Gesetz besonderen Typs. Es soll damit nicht die Minderwertigkeit der anderen Gesetze behauptet werden. Das Besondere ist nicht das Höhere. Was ich zeigen wollte, ist etwas ganz anderes: dass die Proportionswahl, obgleich aus dem Parlamentarismus ausgelagert, m i t i h m v e r t r ä g l i c h ist. Werden sich nicht Parlamente und Proportionswähler gut verstehen, eben weil b e i d e Gesetzgebung betreiben? Jede Seite sieht ja, dass die andere Seite grundsätzlich dasselbe tut wie sie selber. Dabei verstehen beide Seiten auch, dass man zwei verschiedenen Gesetzestypen besser zwei Institutionen zuordnet als eine. Das sind aber nicht derart zwei Institutionen, wie am Anfang der Weimarer Republik welche bestanden haben und „Doppelherrschaft“ genannt wurden. Proportionswahlen sind gar nichts, womit man gegen Parlamente kämpft, die ich für nützliche Einrichtungen halte. Sie stellen nur eine Ausweitung der Legislative dar.