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In der vorigen Notiz schrieb ich: „Sobald es über die Frage, was gebraucht wird, gesellschaftliche Differenzen gibt, es aber nicht die Gesellschaft ist, die ihren Willen durchsetzt, sondern das Kapital, hat dieses aufgehört, produktiv zu sein. Nur seine Macht ist ihm dann noch geblieben.“ In dieser und der folgenden Notiz geht es um die Frage, warum ihm dann noch Macht bleibt: selbst wenn der gesellschaftliche Wille sich von ihm abwendet. Besonders wer das Kapital mit „den Kapitalisten“ identifizieren wollte, die eine sehr kleine, kaum besonders beliebte, zudem noch unbewaffnete Gruppe von Menschen sind, müsste das ziemlich rätselhaft finden. Um das Rätsel ein wenig aufzuhellen, will ich in dieser Notiz Einiges zur Struktur des Begriffs Kapital ausführen, das in den vorigen Notizen impliziert, aber nicht ausgesprochen worden war. In der folgenden Notiz gehe ich noch, weil das auch zum Thema Kapitalmacht gehört, auf den von Marx so genannten „Fetischcharakter“ des Kapitals ein.
Auch schon in dieser Notiz wird lediglich der Marxsche Zugang erörtert, sie steht also noch unter dem Vorbehalt, dass andere Theoretiker, zum Beispiel Max Weber, Keynes oder Braudel, über einen besseren Kapitalbegriff verfügen mögen; das wird geprüft werden. Ich habe ich den letzten Notizen zunächst ausgeführt, dass das Kapital laut Marx eine unendliche Bewegung ist – die unendliche Wiederholung von G-W-G‘, das heißt der Figur, dass Waren mit Geld gekauft, für mehr Geld verkauft werden -, und habe dann skizziert, wie diese Bewegung in den letzten zweihundert Jahren „erschienen“ ist. Man könnte sagen, sie ist überhaupt nicht erschienen: Die längste Zeit über sahen die Menschen äußerst plausible Gebrauchswertprogramme, erst den Saint-Simonismus mit seinen Gütern der gesellschaftlichen Infrastruktur, dann den Fordismus mit seinen direkt auf die kaufenden Individuen zugeschnittenen Gütern und zuletzt noch das Internet der Personal Computer, von dem man sagen könnte, es sei so etwas wie die Synthese der beiden vorausgegangenen Programme, Infrastruktur und Individualisierung in Einem.
Die unendliche Bewegung übersteigt freilich auch diese Synthese, sie verrennt sich ins Weltall und in den Umbau des menschlichen Körpers – geht vom Computer zur Künstlichen Intelligenz weiter -, und hier nun endlich, meint man, bei diesem „anthropologischen Exodus“, um mit Hardt/Negri zu sprechen, möchten wir stutzig werden und fragen, in welchem Film wir denn nur sind. Ist der Menschenkörper, sind die Jungen und Mädchen nicht gut genug als Evolutionsfinale? Ist nicht auch unser Planet, die Erde, gut genug in dem Sinn, dass wir sie erst einmal retten sollten, bevor wir über sie hinausstreben? Wenn das nicht bejaht wird, sieht es doch so aus, als sei wirklich nur die pure Grenzüberschreitung um jeden Preis, das Unendliche um seiner selbst willen im Gange. Da „erscheint“ sie also endlich, diese Bewegung, möchte man meinen. Aber nein, sie tut es immer noch nicht. Denn erstens sehen die Menschen nur Dinge, die sie sehen wollen. Und zweitens, selbst wenn sie den „anthropologischen Exodus“ sähen, würden sie in ihm nicht das Kapital sehen. Siehe Hardt/Negri.
„Es ist ja nichts verborgen“, schreibt Wittgenstein irgendwo. Er mag recht haben, aber wahr ist auch: Es „erscheint“ nichts, nicht einmal das Krasseste. Nichts ist „evident“. Keine Sache kann sich dem Kopf aufdrängen, es sei denn, der Kopf kommt ihr entgegen.
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Das Kapital ist die unendliche Wiederholung von G-W-G‘, haben wir gesagt. G am Anfang, G am Ende, es ist also impliziert: Das Kapital ist ein Kreislauf. Ein Kreislauf, der sich steigert, eine Spirale gewissermaßen. Jedenfalls: ein Kreislauf.
Näher betrachtet, hat dieser Kreislauf nicht nur die beiden Grundelemente G und W, sondern es kommt P hinzu, die Produktion der Ware. G-W heißt, es wird Geld in Produktionsmittel und Arbeitskraft verwandelt, also nicht in irgendwelche Waren, sondern in diese ganz bestimmten. W-G‘ heißt, es werden Waren wieder in Geld zurückverwandelt, und zwar in mehr Geld. Dazwischen vermittelt P: Die ganz bestimmten Waren, in die das Ausgangsgeld verwandelt worden ist (G-W), Arbeitskraft und Produktionsmittel, fügen sich zur Arbeit an der Maschine zusammen, also zum Produktionsprozess derjenigen Waren, die am Ende verkauft werden (W-G‘). Deshalb muss Marx die Formel des Kapitalkreislaufs erweitern: G-W..P..W-G‘.
Er muss noch mehr tun. Da der Kreislauf unendlich oft wiederholt wird, ist nicht erfindlich, warum er nun unbedingt mit G beginnend erfasst werden soll. Wir können die unendliche Bewegung G-W..P..W-G‘-W..P..W-G“-W..P und so weiter auch anders segmentieren: indem wir das Segment nicht mit G beginnen und enden lassen, sondern mit W oder mit P. Also: G-W-G‘, womit wir begonnen hatten, ist erstens nur ein einzelnes Segment in einem unendlichen Kapitalkreislauf, zweitens ist es nur ein Segmentierungstyp von dreien. Man kann aus der Bewegung ebensogut das Segment W-G‘-W und das Segment P..W-G‘-W..P herausabstrahieren. Man kann es nicht nur, sondern muss es auch, denn das sind keine bloßen Gedankengebilde, sondern reale Kapitalarten: Geldkapital (G-W-G‘), Warenkapital (W-G‘-W) und Produktionskapital (P..W-G‘-W..P).
Es sind ferner auch verschiedene Perspektiven auf die unendliche Bewegung. Marx sagt, als G-W-G‘ stelle sich das Kapital dem einzelnen Kapitalisten dar, der einen „Mehrwert“ erzielen will. Als P..W-G‘-W..P stelle es sich denen dar, die nur einen Fortschritt der Technik sehen wollen – zum Beispiel von der saint-simonistischen Eisenbahn zum fordistischen PKW -, während sie den Umstand herunterspielen, dass dieser Fortschritt wesentlich durch die kapitalistische Produktionsweise vermittelt ist.
Marx selbst aber wählt die dritte Perspektive: Für ihn ist das Kapital in erster Linie Warenkapital, W-G‘-W.
Ich frage an dieser Stelle weder nach den Gründen noch nach den Folgen der Marxschen Entscheidung, sondern führe sie nur an, um eine Implikation hervorzuheben. Zur Erinnerung: Mit der Ware fängt Das Kapital, Erster Band, gleich an. Die Ware hat einen Gebrauchswert und einen Wert, stellt Marx dort am Anfang fest. Das ist nicht sensationell, es heißt einfach, dass der Apfel, den ich kaufe, erstens insofern wertvoll ist, als ich ihn essen kann, und zweitens insofern, als er nicht einfach vom Baum gefallen ist, sondern andere als ich haben ihn gepflückt und auf den Verkaufstisch gelegt, und dafür muss ich zahlen. Aber nun haben wir nicht von irgendeiner Ware geredet, sondern vom Warenkapital als dem Inbegriff von Kapital überhaupt. Dieses zuerst in Das Kapital, Zweiter Band auftauchende Gebilde hat ebenfalls einen Gebrauchswert und einen Wert. Also: Das Kapital in seiner Hauptbestimmung, Warenkapital zu sein, stellt sich immer auch als Gebrauchswert dar. Wir haben aber gesehen, dass es sich nicht bloß als Sammelsurium von Gebrauchswerten darstellt, sondern als eine Abfolge von Gebrauchswertprogrammen.
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„Das Kapital stellt sich als Abfolge von Gebrauchswertprogrammen dar“: Das ist keine Aussage über ein Einzelkapital. Der Einzelkapitalist verkauft etwas Beliebiges, Hauptsache er gewinnt dabei. Marx betont aber ausdrücklich, dass die drei Bände, die er Das Kapital betitelt hat, vom „Kapital im allgemeinen“ handeln. Er unterscheidet durchgängig und systematisch zwischen dem „Kapital im allgemeinen“ und dem Kapital in der Konkurrenz der Einzelkapitale. Natürlich sind das zunächst einmal nur Kehrseiten voneinander. Das Kapital existiert dinglich betrachtet in der Form von Einzelkapitalen, die miteinander konkurrieren, und es ist zugleich eine gesellschaftliche Institution, deren Strukturen und Regeln man „allgemein“ beschreiben kann. Man wird daher an jedem Einzelkapital eine Dimension hervorheben können, wo es als Einzelkapital seine Konkurrenz mit anderen Einzelkapitalen austrägt, und eine andere Dimension, in der es sich als Exemplar des „Kapitals im allgemeinen“ ausweist.
Aber dass es Kehrseiten voneinander sind, ist doch nicht alles. Zu den Eigenarten des „Kapitals im allgemeinen“ gehört auch, dass Kapital und Naturwissenschaft zusammengehören. Naturwissenschaft kann es ohne Kapital geben, Kapital aber nicht ohne Naturwissenschaft. Denn wo sollten sonst die Produktionsmittel, die Maschinen herkommen? Darauf bin ich in den beiden vorausgegangenen Notizen schon eingegangen. Aber man muss noch einen zweiten Bogen schlagen, den zum Staat. Dann erst ist der Begriff des Kapitals „im allgemeinen“, des Kapitals als einer gesellschaftlichen Institution fertig. Staaten kann es ohne Kapital geben, Kapital aber nicht ohne Staaten. Es gibt eine Bemerkung von Marx, in der er das ausspricht, und sie ist ziemlich bekannt: Der Staat nehme das Interesse des Gesamtkapitals wahr und müsse es zuweilen gegen die Einzelkapitale durchsetzen. Er gibt auch ein Beispiel, in Das Kapital, Erster Band: Der Staat hat im 19. Jahrhundert den Zehnstundentag durchsetzen müssen. Die Einzelkapitale, die sich gewehrt hatten, wurden dadurch, zu ihrem eigenen Vorteil, auf den Weg der Erhöhung der Arbeitsproduktivität gedrängt.
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Das sind zunächst nur empirische Beobachtungen, aber sie haben einen systematischen Stellenwert, der unter anderm von Nicos Poulantzas untersucht worden ist: Der Staat setzt das Kapital als die herrschende, ja als eine funktionsfähige Macht geradezu erst ein. Er tut das in Permanenz. Würde der Staat seine permanent einsetzende Hand zurückziehen, wäre es mit der Kapitalherrschaft sofort vorbei.
Mein Hinweis auf Poulantzas an dieser Stelle ist ein Exkurs, der den Gedankengang unterbricht. Er unterstreicht aber die Zusammengehörigkeit von Kapital und Staat, die mir wichtig ist.
Poulantzas‘ Theorie bedeutet, dass die demokratische Legitimation der Kapitalherrschaft nicht niedriger – und auch nicht höher – ist als die des sie einsetzenden Staates. Auf deutsch: Wenn die Parteien, die den Staat zusammenhalten, nicht glauben würden, dass der Reichtum der Gesellschaft und des Staates, den sie besetzt halten, vor allem dem Kapital zu verdanken sei, und wenn solche Parteien nicht gewählt würden – oft zähneknirschend -, oder wenn sich nicht mindestens eine Partei fände, die im Notfall eine Diktatur fürs Kapital zu errichten willens und fähig wäre, dann hätte dieses nichts, worauf es sich stützen könnte, und würde also nicht herrschen. (Ich habe das in einem Aufsatz näher ausgeführt: Machtblock und Parteien bei Poulantzas, in Alex Demirovic, Stephan Adolphs, Serhat Karakayali [Hg.], Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas, Baden-Baden 2010, S. 241-257.) Wenn in früheren Gesellschaften die Grundeigentümer herrschten, war das leicht erklärlich. Es gab da eben Menschen, die bewaffneter waren als andere, und so konnten sie sich sowohl die Staatsmacht als auch das Grundeigentum aneignen. Beim Kapital ist die Sache weit komplizierter.
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Kapital, Naturwissenschaft und Staat, oder genauer: das Kapital erstens im isoliert ökonomischen Sinn, wo es sich als Kreislauf von Ware, Geld, Produktion und wieder Ware darstellt, zweitens seine konstitutive Beziehung zur Naturwissenschaft und drittens seine konstitutive Beziehung zum Staat sind die drei Quellen und drei Bestandteile des „Kapitals im allgemeinen“. Daraus will ich im Moment nur die Schlussfolgerung ziehen, dass das, was ich als Gebrauchswertprogramm des Kapitals bezeichnet habe, auch vom Staat mitbestimmt, vielleicht sogar vor allem vom Staat bestimmt wird.
Dafür gibt es viele empirische Belege. Ich habe schon das Beispiel angeführt, dass die Brüder Peronel des Beistands von Louis Bonaparte bedurften, um eine Bank neuen Typs gründen zu können, die imstande war, saint-simonistisch orientierte Industriekapitalisten und -unternehmer mit hinreichend viel Kreditgeld zu versorgen. Dass das fordistische Gebrauchswertprogramm großenteils von günstigen staatlich gewährten Konditionen gezehrt hat, ist allgemein bekannt und liegt bis heute, bis hin zur „Abwrackprämie“, vor jedermanns Augen. Der Staat ist immer dabei – und so kann es geschehen, dass zum Gebrauchswertprogramm des Kapitals zum Beispiel auch Panzer und Atom-U-Boote gehören können, oder Raumschiffe, mit denen sich die Phantasie vom Verlassen der Erde verbindet.
Es gibt eben Gebrauchsgüter, die sich nicht bei Hertie verkaufen, sondern nur an den Staat. In diesem Fall tritt dann einmal ausnahmsweise ein, was angeblich immer eintritt, dass nämlich das Angebot von der Nachfrage hervorgerufen wird. Für das Gebrauchswertprogramm des Kapitals stehen solche Güter ebenso ein wie andere. Wir können und müssen sie mit einbeziehen, wenn es gilt, die allgemeine Tendenz der Kapitalentwicklung zu erfassen. Und dann gelangen wir möglicherweise, dann gelange ich zu dem Schluss, dass sich diese Entwicklungstendenz in allem Ernst als ein „Flug ins Unendliche“ erweist, der zuletzt buchstäblich „die eingebildeten Grenzen des Alls überfliegen“ will, wie das einst von Giordano Bruno erträumt wurde. Der Staat könnte vom Kapital auch ökologische Fähigkeiten, ein Programm zur Rettung der Erde kaufen. Aber er kann sich kaum dazu durchringen. Warum nicht? Weil er selbst ein Kapitalmechanismus ist, sich zu einem solchen gemacht hat.
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So ist also die Behauptung zu verstehen, es zeige sich auch in der Entwicklung der Gebrauchsgüter, dass das Kapital im allgemeinen eine unendliche Bewegung sei. Dass eine solche Institution, in der sich Ökonomie, Naturwissenschaft und Staat durchdringen, auch dann noch mächtig bleibt, wenn die Bürger anfangen, die Güter, die ihnen angeboten werden, zu verwünschen – Atomenergie, Kohlekraftwerke, Reispflanzen von Monsanto, Genfood -, ist kaum erstaunlich.
Hervorzuheben bleibt, dass Marx diese Eigenschaft, eine unendliche Bewegung zu sein, die der Gegenstand meiner Ausführungen ist, ausdrücklich dem Kapital im allgemeinen zuschreibt und nicht den Einzelkapitalen. Die Einzelkapitale müssen freilich nach immer mehr Gewinn streben, weil sie sonst in der Konkurrenz unterliegen würden. Sie müssen „wachsen“, es muss „Wachstum“ geben, diese Naturheilkunde lesen wir ja jeden Tag in der Zeitung. Aber laut Marx begründet die Konkurrenz diesen Zwang nicht, sie „exekutiert“ ihn nur. Begründet ist er in der Logik des Kapitals im allgemeinen, also im Zusammenspiel des Kapitals im isoliert ökonomischen Sinn, seiner konstitutiven Beziehung zur Naturwissenschaft und seiner konstitutiven Beziehung zum Staat.