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Es geht noch einmal darum, das Recht und die Relevanz des Marxschen Kapitalbegriffs, in dem das Kapital als Wachstumszwang erscheint – überkochender Reichtum, der keine Ruhe gibt, außer er hätte unendliche Größe erreicht -, durch Vergleich mit dem Werk anderer Gelehrter zu erhärten. Eigentlich betrachte ich die Aufgabe als schon gelöst, denn wir sahen in den letzten Notizen, ein Mathematiker und Ökonom wie John Maynard Keynes, ein Soziologe wie Max Weber thematisieren ganz dasselbe in anderer Begrifflichkeit und halten es für zentral; da sollte man sich wohl einigen können, dass es die Sache wirklich gibt.
Ich füge hier dennoch den Vergleich mit Fernand Braudel hinzu. Nicht so sehr deshalb, weil die Sache auch von ihm bestätigt wird. Denn dass dieser namhafte Mann Marx wohlwollend gegenübersteht und sogar Lenin zustimmend zitieren kann, ist ohnehin nicht zu übersehen. Wichtiger ist, dass er nicht Ökonom noch Soziologe, sondern Historiker war. Wenn ich Marx mit Braudel vergleiche, will ich vor allem zusehen, wie sich der Marxsche Kapitalbegriff in Braudels Disziplin darstellt, eben der Geschichtswissenschaft.
Braudel steht aber auch darum am Ende der Vergleiche, weil er zu einem neuen Thema führt: Wie ist das Kapital entstanden? Ich will zunächst begründen, weshalb es uns ein paar Einträge wert sein muss. Zwar ist es nicht die Hauptfrage in diesem theoretischen Mittelteil meines Blogs. Die Hauptfrage ist, wie sich Kapital und Ware-Geld zueinander verhalten. Läuft „Markt“ notwendig auf Kapital hinaus oder ist ein nichtkapitalistisches Marktsystem vorstellbar? Die Antwort entscheidet über die Ökonomie der Anderen Gesellschaft. Auf dem Weg dahin ist es aber nützlich, sich schon einmal klarzumachen, dass Kapital aus Ware-Geld nicht etwa historisch entstanden ist. Ware-Geld gab es vieltausend Jahre, Kapital ist höchstens fünfhundert, ich meine sogar erst zweihundert Jahre alt. Mit diesen Einsichten verlieren wir die Angst, der Zwangsmechanismus namens Kapital sei so tief im Geschichtsboden verwurzelt, dass er unmöglich wieder entfernt werden könne, oder er liege gar in der Menschennatur.
Wenn das gilt, haben wir überhaupt keinen Anlass, uns auf der Ebene einer allgemeinen Zivilisationskritik à la Rousseau zu bewegen, und schon gar nicht haben wir es mit „der Gesamtverfassung unserer Gattung“ zu tun, mit dem Problem des „übergewichtigen Organs“ Großhirn etwa, das von Rudolf Bahro für bedenkenswert gehalten wurde (Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik, Stuttgart und Wien 1987, S. 181 ff.). Übrigens dachte Bahro selbst nicht daran, Kapitalismuskritik mit Großhirnkritik zu vermengen. Er wollte vielmehr unterstreichen, dass mit der Beseitigung von Kapital nur eine oberste Schicht des „eigentlichen“ Problembergs abgetragen wäre. Dem schließe ich mich insofern an, als kein Mensch, keine Gesellschaft je mehr tun kann, als weiterzugehen – weiterzugehen um die Spanne eines nächsten Schrittes. In meinem Blog geht es um die Beseitigung des Kapitalismus, von der ich sage, sie sei ein nächster Schritt, das heißt sie sei so notwendig wie möglich. Archäologisch gedacht ist Weitergehen Tiefergraben, d’accord. Nur ob es auch möglich ist, den „tiefsten“ Problemkern zu kennen, bevor die Menschheitsgeschichte zu Ende ist, wage ich im Vorbeigehen zu bezweifeln. Aber ein Stück heller wird uns sogar die Tiefe geworden sein, wenn wir den Kapitalismus erst beseitigt haben.
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Auch Braudel verortet das Kapital nicht in der Zivilisation überhaupt, und er bedauert dasselbe, was auch ich bedaure:
„Was ich persönlich bedaure – nicht als Historiker, sondern als ein Mensch meiner Zeit -, ist, dass man es sowohl in der kapitalistischen wie in der sozialistischen Welt ablehnt, zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft zu unterscheiden. Jenen, die im Westen die negativen Folgen des Kapitalismus brandmarken, antworten Politiker und Ökonomen, dass es sich nur um das kleinere Übel handle, um die notwendige Kehrseite des freien Unternehmertums und der Marktwirtschaft. Das glaube ich keineswegs. Und jenen, die sich, einer Bewegung entsprechend, die sogar in der Sowjetunion spürbar ist, über die Langsamkeit der sozialistischen Wirtschaft beklagen und ihr etwas mehr ‚Spontaneität‘ einräumen möchten (ich übersetze dies mit ‚mehr Freiheit‘), wird zur Antwort gegeben, dass dies das kleinere Übel sei, die notwendige Kehrseite für die Beseitigung der kapitalistischen Plage. Auch daran glaube ich nicht. Aber ist die Gesellschaft, die ich für erstrebenswert halte, überhaupt möglich? Jedenfalls vermute ich, dass sie auf dieser Welt nicht sehr viele Anhänger hat.“ (Die Dynamik des Kapitalismus, Stuttgart 1986, S. 100)
Mich hat sie zum Anhänger. Allerdings ist Braudels Kapitalbegriff vertrackt. Er übernimmt ihn einerseits direkt von Marx: „Das Kapital ist eine greifbare Realität, es umfasst die leicht identifizierbare Masse der finanziellen Ressourcen, die ständig eingesetzt werden; ein Kapitalist ist ein Mann, der die Verwertung des Kapitals in dem ununterbrochenen Produktionsprozess, zu dem jede Gesellschaft verurteilt ist, dirigiert oder zu dirigieren versucht; und der Kapitalismus ist, grob gesprochen (aber nur grob gesprochen), eine Art und Weise, in der – meist aus wenig altruistischen Gründen – dieser ständige Verwertungsprozess vorangetrieben wird.“ (S. 48) Also kurz, das Kapital ist die Bewegung eines ständigen Verwertungsprozesses: Braudel übernimmt nicht nur den Marxschen Gedanken, sondern sogar auch dessen Terminologie.
Unklar ist auf dieser Ebene nur die Rede vom „ununterbrochenen Produktionsprozess“, der natürlich jede beliebige Produktionsweise und nicht nur den Kapitalismus kennzeichnet. Braudel hätte hinzufügen sollen, dass sich ein kapitalistischer Verwertungsprozess nicht als einfache Reproduktion vollzieht wie schon in Urzeiten der Ackerbau, sondern als erweiterte. Von derselben Unklarheit ist die gleich folgende Überlegung getrübt: „Das Kapital ist der Schlüsselbegriff. In wirtschaftswissenschaftlichen Studien hat er meist die spezifischere Bedeutung von Kapitalgütern angenommen […]. Aber Kapitalgüter verdienen diesen Namen nur, wenn sie am ständig sich erneuernden Produktionsprozess teilhaben: Die Münzen eines Schatzes, der nicht benutzt wird, sind ebenso wenig Kapital wie ein ungenutzter Wald usw.“ (ebd.) Der Satz nach dem Doppelpunkt ist wieder direkt von Marx genommen, davor wiederholt sich die Unschärfe, dass Braudel dem Kapitalismus nur „ständige Erneuerung“ attestiert, als ob nicht schon die Jäger und Sammler jeden Tag neu auf Beute hätten ausgehen müssen.
Andererseits, und das wiegt schwerer, verliert sein Kapitalbegriff den Kontakt zur Frage der Industrialisierung. Er spricht bereits von Kapital, wenn in einer Gesellschaft nur „Handelskapital“ vorkommt, nur Kaufleute, die sich ständig bereichern wollen. Holland um 1650 ist deshalb für ihn eine kapitalistische Gesellschaft, die Begründung ist, dass dort damals Europas Handelszentrum lag (S. 83). Dabei zeigt er selbst, dass es reiche Kaufleute, deren Vermögen immerzu wuchs, schon im alten Rom und auch etwa im alten China gegeben hat. Mehr noch, all die raffinierten Methoden der großen Kaufleute: Wechsel, Börsen, Kreditformen, „finden sich – ohne jede Ausnahme – auch außerhalb Europas“ (S. 36), ohne dass irgendwo der Kapitalismus entstanden wäre. Und doch soll England dessen Mutterland geworden sein, weil dort im 18. Jahrhundert die günstigsten Bedingungen für Kaufleute entstanden. Denn abgesehen davon, dass es über einen „relativen Überfluss an Transportmitteln“ verfügte: Fuhrwerke, Lasttiere, Flüsse, Kanäle, wurden Binnenzoll und Wegegeld nicht mehr erhoben, und England hatte sich bereits mit Schottland und Irland zu einem großen Wirtschaftsraum vereint. (S. 88 f.)
Erst zum Schluss will Braudel auch zeigen, „inwiefern die Industrialisierung Englands mit den von mir skizzierten Erklärungsmustern und Modellen übereinstimmt“ (S. 92). Aber tut sie das wirklich? Eins spricht für seine These, dass nämlich „der Boom der englischen maschinellen Revolution“ – der ersten Massenproduktion – „zu einem enormen nationalen Wachstum“ habe führen können, „ohne dass sich der Motor festfraß, ohne dass es also irgendwo zu Blockierungen kam“. Er sagt aber selbst, dass dafür keineswegs nur der homogenisierte innere Markt Bedingung war, sondern auch die Masse enteigneter Bauern, die damals Beschäftigung suchten, und im übrigen der Umstand, dass sich „die auswärtigen Märkte […] reihenweise [öffneten]“ (S. 95).
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Das sind Widersprüche. Sie lösen sich teilweise auf, wenn wir zu Braudels zentralem Punkt vorstoßen. Warum öffneten sich die auswärtigen Märkte „reihenweise“? Sie öffneten sich nicht von selbst, sondern wurden geöffnet: „Allerdings wäre die englische Revolution ohne die Umstände, die England damals praktisch zum unbestrittenen Herrscher der Welt machten, nicht das gewesen, was sie war.“ (S. 96) Wenn es nur um den homogenisierten Wirtschaftsraum gegangen wäre, ein solcher stand Holland schon im 16. Jahrhundert zu Gebot. Aber er war klein gewesen. Und zur Weltherrschaft war Holland eben nicht eingerichtet. (S. 88 f.) Denn nur eine große Nation kann den Versuch machen, „die Wirtschaft der gesamten Welt zu beherrschen“ (S. 91). Damit scheint es zunächst, als seien Braudels entscheidende Argumente eher politisch-militärischer als ökonomischer Natur.
Wenn er jedoch sagt: „Der Kapitalismus triumphierte nur dann, wenn er mit dem Staat identifiziert wurde, wenn er der Staat war“ (S. 60), dann wird die Politik selber zum Bestandteil der ökonomischen Kapitaldefinition. Der Kapitalismus als der Staat! Braudel war nicht Ökonom noch Soziologe, deshalb fühlt er keinen Auftrag, den Kapitalbegriff logisch neu zu klären. Auf die Notwendigkeit, das zu tun, läuft seine Vorgabe aber hinaus. Auch seine oben zitierte Unterscheidung von Kapitalismus und Marktwirtschaft spielt auf dieser Ebene. Eigentlich unterscheidet er nur den kapitalistischen vom nichtkapitalistischen Markt, da sein Historikerinteresse nur dem Handelskapital gilt. Dabei macht er aber genau den politischen Bezug zum Kriterium: „Es gibt zwei Typen von Austausch. Der eine ist alltäglich und basiert auf Konkurrenz, weil er einigermaßen transparent ist; der andere – die höhere Form – ist komplex und an Herrschaft orientiert. […] Nicht im ersten, sondern im zweiten Typus liegt die Sphäre des Kapitalismus.“ (S. 58) Das würde also bedeuten, nicht Marktkonkurrenz per se sei kapitalistisch, sondern nur solche Konkurrenz, die „an Herrschaft orientiert ist“.
Nach meiner Auffassung hat Braudel unbedingt recht, auch in marxistischer Perspektive, obwohl man bei Marx Aussagen von derselben Entschiedenheit nicht findet. Aber es ist ja offen geblieben, wie Marx das Verhältnis von Kapital und Staat endgültig bestimmt hätte, wenn ihm die Zeit geblieben wäre, seinen Veröffentlichungsplan zu realisieren. Zuletzt hatte er Staat und Weltmarkt thematisieren wollen. Nach der Logik seiner Darstellungsweise wäre die letzte Voraussetzung dessen, was im Anfangskapitel seines Hauptwerks nur als Vorhandensein von Ware und Geld im Kapitalismus erscheint, dann erst eingeholt gewesen. Ich meine aber, Marx hat den konstitutiven Staatsbezug des Kapitals immer schon mitgedacht, indem er vom Treiben der Einzelkapitale das „Kapital im allgemeinen“ unterschied und sogar formulierte, dieses habe „im Unterschied“ zu jenen „selbst eine reelle Existenz“ (Grundrisse, Berlin 1953, S. 267).
In einem Stadium seines Forschungsgangs, wo er noch Kapital mit Geld mehr oder weniger identifiziert, schreibt er über dieses, es sei „selbst […] das G e m e i n w e s e n und kann kein andres über ihm stehendes dulden“ (a.a.O., S. 134). Geld als eigentlicher Staat, Kapital als eigentlicher Staat heißt im Umkehrschluss, der wirkliche Staat „ist selbst“ so Kapital wie Geld. Womit sich Marx‘ Beobachtung verträgt, dass die kapitalistische Produktionsweise der „Gewalt“ als „Geburtshelfer“ bedurfte. Aus dem Kontext geht hervor, er denkt an Staatsgewalt, wenn er nur „Gewalt“ sagt, die, wie er hinzufügt, „selbst […] eine ökonomische Potenz“ sei (MEW 23, S. 779).
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Hier angelangt, können wir eine Implikation des Kapitalbegriffs deutlicher aussprechen als bisher. Ich habe den Kapitalismus mit Marx, dann auch mit Keynes und Max Weber immer wieder als einen zwanghaften Wachstumsmechanismus beschrieben, wobei der Akzent bisher jedesmal auf dem Wachstumsmechanismus lag. Wenn wir nun auch die Zwanghaftigkeit eigens bedenken, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass sie erst einmal nur die Einzelkapitale beherrscht, die sich in der Konkurrenz zu behaupten haben.
Diese Konkurrenz ist „an Herrschaft orientiert“, wie Braudel mit Recht sagt, oder mit andern Worten, sie setzt als kapitalistische den Staatsrahmen voraus, oder noch anders: Sie ist zwanghaft insofern, als sie „exekutieren“ muss, was im Begriff des Kapitals im allgemeinen liegt. Daraus folgt aber nicht, dass der Staat seinerseits unter Zwang steht, wenn er so etwas wie Kapitalismus einrichtet, oder dass er unter Zwang steht, wenn er ihn weiterlaufen lässt, statt ihn zu beenden. Wo sollte so ein Zwang denn herkommen? Vom Militär? Das Militär ist selbst ein Staatsapparat. Nein, die Wirtschaft m ü s s t e nicht ins Unendliche wachsen, wenn der Staat nicht w o l l t e , dass sie es tut; er will es ja wirklich, schon weil die Summe der Reichtümer mitwächst, somit das Steueraufkommen und vielleicht die Chance, mit teuren Waffen Kriege zu führen. Der Begriff eines Staatswollens ist natürlich zu grob, wir werden ihn noch differenzieren. Er berücksichtigt schon einmal nicht den Kapital-„Fetischismus“, dem auch Staatsagenten unterliegen, wie ich bereits referiert habe. Aber so viel ist klar, der Wachstumszwang folgt einem ökonomischen Mechanismus, der seinerseits politisch abgeschafft werden könnte.
Das Interessante bei Braudel ist nicht seine Begrifflichkeit, mit der wir dennoch den Anfang machen mussten. Was er als Historiker zur Sache beiträgt, neu und ganz unabhängig von Marx, wird in der folgenden Notiz erörtert.