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In der vorigen Notiz habe ich die These des Historikers Fernand Braudel kritisiert, der Kapitalismus verdanke seine Entstehung unter anderm einer gewissen Schwäche der europäischen Staatlichkeit im Gefolge des Zusammenbruchs des Römischen Reiches. Ich setzte dagegen, der Staat sei hier wie anderswo stark genug gewesen, sich gegen kapitalistische Tendenzen zu wehren und sie im Zaum zu halten; man müsse zu erklären versuchen, wie und warum er selber, aus seiner Stärke heraus, die Haltung diesen Tendenzen gegenüber g e ä n d e r t hat. Dazu wird mit ihm etwas vor sich gegangen sein, das man, mit dem Ausdruck Antonio Gramscis, als „intellektuelle Reform“ bezeichnen könnte. Irgendwelche Gruppen einflussreicher Intellektueller müssen Lehren verbreitet haben, die wenn nicht absichtlich, dann faktisch „kapitalfreundlich“ waren, und diese Lehren müssen in den Staat eingedrungen sein.
Wenn man einen solchen Ansatz wählt, steht man leicht im Verdacht, „idealistisch statt materialistisch“ zu erklären. Deshalb fügte ich an, das Intellektuelle könne nur e i n Entstehungsfaktor, und nicht der machtvollste, unter mehreren gewesen sein, er habe aber keinesfalls fehlen dürfen. Da der Verdacht vor dem Hintergrund des Marxschen „Basis-Überbau“-Schemas ausgesprochen würde, wies ich noch darauf hin, dass eine „Überbau“-Struktur bereits fertig vorliegen muss, bevor man versuchen kann, sie als Reflex „der ökonomischen Basis“ zu erweisen; wir brauchen ein anderes Erklärungsmodell, wenn die Frage gestellt wird, wie eine solche Struktur allererst entsteht.
Ich möchte bei diesem Punkt ein wenig verweilen. Das Basis-Überbau-Modell mag also erkennen lassen, dass die Sache Sx den Gedanken G hervorgebracht hat. Nehmen wir ein Beispiel: Der Zusammenbruch des Ostblocks, der realsozialistischen Ökonomie spiegelt sich in dem Gedanken, nun sei „das Ende der Geschichte“ gekommen. Man sieht gleich, der Gedanke muss erst einmal vorhanden sein und man muss ihn kennen, bevor man behaupten kann, er sei dieser Spiegeleffekt. Wäre nur erst der Zusammenbruch da, könnte man nicht sagen: „Wartet nur, morgen wird einer das Ende der Geschichte behaupten.“ Denn selbst der, der es morgen wirklich behaupten wird, sieht das heute noch nicht voraus. Er hat seinen Gedanken ja noch gar nicht gedacht. Der Prozess seines Denkens findet morgen erst statt oder wird dann erst abgeschlossen.
Wie so ein Prozess läuft, lässt sich wie folgt modellieren: Der Gedanke G ist eine Behauptung, die zugleich eine Antwort ist, nennen wir sie Ax(=B), die der Behauptende einer Frage F1 erteilt, die sich ihm bewusst oder unbewusst aufdrängte. Der Prozess des Denkens ist also der Prozess, der von F1 zu Ax geführt hat. Nehmen wir an, F1 sei diese Frage gewesen: „Geschichtsphilosophie oder -theologie hat häufig geglaubt, Geschichte sei ein Kontinuum und laufe auf ein Optimum / Ultimum hinaus, etwa ‚das Reich Gottes‘; ist etwas dergleichen jetzt erreicht, und wenn ja, nach welchen Kriterien würden wir es entschieden haben?“
Will man nun den von F1 zu Ax führenden Prozess und nicht nur sein Endresultat, den Gedanken G vom „Ende der Geschichte“, als „Überbau“ der Sache Sx erweisen, so ist man auf die Annahme verwiesen, in den Übergang F1 zu Ax habe Sx faktisch eingegriffen. Das wäre aber nicht direkt erkennbar, sondern auch wieder nur ablesbar am Niederschlag von Sx im Gedanken G, den wir ja als dasselbe wie die Antwort Ax(=B) rekonstruiert haben. Es könnte nämlich gesagt werden: „Hätte nicht Sx existiert, sondern Sy, dann wäre F1 nicht mit Ax, sondern mit Ay beantwortet worden.“ Wäre nicht der Ostblock zusammengebrochen, stellte sich die geschichtsphilosophische Frage noch immer, aber wahrscheinlich hätte man dann geantwortet, der geschichtliche Fortgang dauere noch an.
In diese Überlegung geht ein, dass wir wissen, was Fragen und Antworten heißt. Jede Frage lässt mehr als eine Antwort zu, gerade deshalb ist sie Frage. Es kann sogar korrekt sein, ihr eine Antwort zu erteilen, die sie n i c h t zulässt und doch ertragen muss, zum Beispiel: „Geschichte i s t kein Kontinuum, somit erübrigt sich die Frage nach ihrem einen einzigen Optimum.“ Dies hat aber zur Folge, dass es nicht ausreicht, nur von Sx und Ax zu wissen, da Ax offenbar nicht nur von Sx, sondern auch von F1 herrührt. Diese Antwort ist gerade im Raum dieser Frage möglich gewesen, sie als solche aber hätte, wenn die Einwirkung durch Sx nicht gewesen wäre, auch noch eine Reihe ganz anderer Antworten zugelassen. Kurzum, in Ax spiegelt sich nicht nur Sx, sondern auch F1; es ist nicht nur richtig zu sagen, dass Sy nicht zu Ax geführt hätte, sondern ebenso hätte auch F2 nicht dazu geführt. Durchdacht im Zuge von F2 statt F1, hätte Sx einen ganz anderen „Überbau“ erhalten.
Das intellektuelle Element ist also nicht nur als „Überbau“ zu einer „Basis“, sondern auch als Antwort auf eine Frage zu erweisen, und das eine lässt sich nicht vom andern herleiten.
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Wie das Intellektuelle ein Entstehungsfaktor einer Sache neben anderen, mächtigeren Faktoren ist, lässt sich ganz gut mit dem Modell begreifen, das Nietzsche immer wieder vorgeschwebt hat. Ein Schiff fährt übers Meer. Man muss sich vorstellen, dass ihm wohl noch Segelschiffe vor Augen standen. Wie und wohin das Segelschiff fährt, hängt von vielen Dingen ab, zum Beispiel von der Stärke der Strömung, von Scylla und Charybdis, vom Wetter, von der Mechanik des Steuerruders. Und dann auch vom Willen des Kapitäns. Aber auch vom Willen der Mannschaft, die ja meutern könnte. In diesem Bild steht der Wille des Kapitäns für den intellektuellen Faktor. Eine Situation, in der er so gut wie gar nichts zählt, lässt sich leicht ausdenken. Nietzsche zumal denkt nicht an irgendein Meer, sondern an den unendlichen Ozean, der kein Ufer, Fahrtziel noch Heimathafen mehr kennt – „Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat“ -, und was der Kapitän eines in diese Unendlichkeit geworfenen Schiffes will oder nicht will, davon kann allerdings abstrahiert werden. Vergessen wir aber nicht, dass wir Nietzsches Diagnose nicht teilen. Für uns ist die Unendlichkeit nicht das Reale, in dem der intellektuelle Faktor wehrlos strudelt, sondern gerade das sehen wir für Ideologie an, dass bestimmte Kapitäne, gegen die hoffentlich noch gemeutert werden wird, die Existenz möglicher Fahrtziele leugnen.
In unserem Modell ist der intellektuelle Faktor auch nur einer von mehreren. Das gilt zunächst einmal heute. Wenn wir keinen möglichen Weg in eine Andere Gesellschaft erdenken, indem wir von klugen Fragen ausgehend kluge Antworten entdecken, wird es keine Andere Gesellschaft geben; aber auch w e n n wir ihn erdenken, scheitert sie vielleicht an anderen, „materiellen“ Faktoren, die auch mitspielen müssten. Und das gilt ebenso für den Weg, der einmal in die jetzt vorhandene Gesellschaft geführt hat. Dieser frühere Weg ist das, was uns hier beschäftigt. Wir können die „materiellen“ Faktoren, die zum Kapitalismus geführt haben, im Groben übersehen: Es muss sich Kaufmannsvermögen angesammelt haben, das setzt „starke Familien“ von Kaufleuten voraus, die über mehrere Generationen hinweg akkumulieren, und einen Staat, der solche Stärke ermöglicht; das muss nicht, das kann wohl gar nicht ein „schwacher Staat“ sein, haben wir gefunden, eher wird es ein Staat sein, der stark bleibt oder noch stärker wird, sich aber einer „intellektuellen Reform“ unterzogen hat; sind Kaufmannsvermögen und kapitalismuswilliger Staat vorhanden, braucht es drittens noch Arbeitskräfte, die besitzlos geworden sind und sich daher von jenem Vermögen kaufen lassen, während der Staat sie teils zur Arbeit antreibt, teils diese in Achtstundentage und dergleichen einteilt. Wenn das alles beisammen ist, tritt der Kapitalismus in die Existenz. Aber noch bleibt die Frage offen, was das Intellektuelle ist, das zu jener intellektuellen Reform hat führen können, und wie es seinerseits hat entstehen können.
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Weil diese Frage unbedingt a u c h gestellt werden muss, behält Max Webers Herangehen, das er in der berühmten Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus an den Tag legte, ihr ganzes Recht. Irgendetwas in der Art, wie es hier beschrieben wird, muss tatsächlich eingeflossen sein, sonst wäre der Kapitalismus nicht entstanden. Wir werden also nicht kritisieren, dass Weber den intellektuellen Entstehungsfaktor des Kapitalismus zu entdecken versucht hat. Wohl aber müssen wir das, was seine Entdeckung ist, in Zweifel ziehen.
Das fängt damit an, dass er de facto gar nicht die Herkunft d e s K a p i t a l i s m u s untersucht, sondern vielmehr eines Unternehmertums, das nur deshalb Kapital ist, weil es sich in einem selber ununtersuchten Kapitalismus bewegt. Wir haben die Zweideutigkeit seines Kapitalbegriffs in der 21. Notiz erörtert. Hier rächt sie sich. Weber startet zwar mit dem veritablen Kapitalsachverhalt, indem er als die zu untersuchende Ethik den „Erwerb von Geld und immer mehr Geld“ benennt, „unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, dass es als etwas gegenüber dem ‚Glück‘ oder dem ‚Nutzen‘ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint“ (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, S. 35). Aber dies exemplifiziert er an Benjamin Franklins Gedanken einer Berufspflicht, die an eine gefühlte Berufung gemahnt.
Die Pflicht ist sehr streng, keine Minute am Tag und schon gar nicht ein Groschen darf verschwendet werden. Später wird ausgeführt, dass auch eine strenge Methodik der „Lebensführung“ waltet. All das verweist auf protestantische Sekten wie den Methodismus, der es schon im Namen trägt, und allgemein auf den Calvinismus. Weber meint bekanntlich, die calvinistische Prädestinationslehre in ihrer zugespitztesten Form, dass nämlich nur Einige „erwählt“ sind und sie es selbst nicht in der Hand haben noch auch nur beeinflussen können, sei hinter all dem die intellektuelle Triebkraft. F1 nach unserer obigen Terminologie wäre demnach die Frage: „Wie kann ich erkennen, wenn schon nicht beeinflussen, dass ich nicht in die Hölle komme?“, und darauf sei als Ax geantwortet worden, man müsse die Berufspflicht so streng wie möglich nehmen, dürfe nicht etwa ans Genießen denken und am dann sich einstellenden Erfolg erweise sich die Erwähltheit.
Nun gut, aber was hat das mit Kapital und Kapitalismus zu tun? Kaum beigefügt, dass hier das Geldscheffeln um seiner selbst willen zur Debatte stehen soll, ist der Gedanke gleich wieder vergessen. Darum geht es bei Franklin nicht, und Franklin ist auch gar kein Kapitalist. Er war Naturwissenschaftler, Freimaurer, Philosoph und vor allen Erfinder, daneben besaß er zeitweise einen Druckereibetrieb, den er aufgab, um Staatsmann zu werden. Dass eine solche Lebensführung ohne strenge Methodik nicht möglich wäre, leuchtet ein, aber man sieht daran nur, dass Methodik nicht schon auf Kapital schließen lässt. Im übrigen ist Franklin eben nicht Calvinist, sondern Freimaurer – „Deist“, wie Weber selbst unterstreicht, zusammen mit dem Hinweis, dass Franklin einen streng calvinistischen Vater hatte, der ihm jenes Methodengefühl für die Nutzung der Minute einimpfte (S. 36) -, und das ist etwas ganz anderes. Man muss auch sagen, dass „Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang“ eine Webersche Chimäre ist (S. 192). Ich selbst werde die Herkunft des Kapitalismus in der Tat beim „Deismus“ suchen, auch wenn der bei Franklin noch nicht in ein Stadium getreten ist, wo man erkennen könnte, was er mit Kapital zu tun hat; Weber aber genügt Franklins Hinweis auf seinen Vater, um sich in einer Erörterung des Calvinismus zu verirren, die von da an den ganzen Umfang seiner Studie einnimmt.
Auf seinen richtigen Ausgangspunkt des „Erwerbs von Geld und immer mehr Geld“ kommt er ein einziges Mal noch zurück, wenn er nämlich auf Richard Baxter stößt, einen englischen Puritaner der Cromwell-Zeit, der zwar das Streben nach Reichtum für sittlich bedenklich hält, was Weber aber mit dem Hinweis vom Tisch wischt, nicht der Reichtum, sondern dessen Genuss „mit seiner Konsequenz von Müßigkeit und Fleischeslust, vor allem von Ablenkung von dem Streben nach ‚heiligem‘ Leben“ sei Baxter ein Dorn im Auge gewesen (S. 165-167). Kann er doch von ihm zitieren, nicht „für Zwecke der Fleischeslust und Sünde, wohl aber Gott dürft Ihr arbeiten, um reich zu sein“, und sogar: „Wenn Gott euch einen Weg zeigt, auf dem Ihr ohne Schaden für Eure Seele oder für andere in gesetzmäßiger Weise mehr gewinnen könnt als auf einem anderen Wege und Ihr dies zurückweist und den minder gewinnbringenden Weg verfolgt, dann […] weigert [Ihr] Euch, Gottes Verwalter zu sein“, und so weiter (S. 176).
Ja, aber man muss doch wissen, was Baxter im Auge hat, wenn er so redet. Ich selbst habe einmal Martin Luther wütend angegriffen, weil der in einem Brief „pecca fortiter“ schrieb, Sündigt nur kräftig, Gott wird’s schon vergeben, ohne zu berücksichtigen, dass Luther da von der Ehefrau sprach, die er sich genommen hatte; vom Sex, den er, das Mönchlein, das ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, nun dennoch übte und auch noch übermütig verteidigte. Ähnlich ist es mit Baxter. Der war einer der produktivsten Schriftsteller seiner Zeit, seine literarische Produktion umfasste 30 bis 40.000 eng bedruckte Seiten, und wenn er schon vom ersten Buch A Call to the Unconverted im Erscheinungsjahr zwanzigtausend Kopien verkaufen konnte, wird er sich wohl gesagt haben: Streicht kräftig Tantiemen ein! Warum nicht? Ich würde auch gern so viele Leser haben und auf die Tantiemen keineswegs verzichten, aber in einen Kapitalisten würde ich mich deshalb nicht verwandeln.
Baxters Bücher handelten alle von Gott. Das Kapital handelt nicht von Gott. Höchstens mit Gott. Baxter wurde wohlhabend, aber nicht zum Kapitalisten. Weder er noch Benjamin Franklin lassen sich auf die Definition des Kapitals beziehen, die ich in der 14. Notiz von Karl Marx zitiert habe: „Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.“ (MEW 42, S. 253) Dass hier auch auf Intellektuelles angespielt wird, eine bestimmte, sehr merkwürdige Unendlichkeitsphilosophie, ist unübersehbar, aber wo es herkommt, bleibt trotz Weber noch völlig offen. Nur dass Weber Franklins „Deismus“ erwähnt, wird uns weiterhelfen.