(25) Die spinozistische Ethik

3. Herkunft und Charakter der Figur kapitalistischer Endlosigkeit / Zweiter Teil – Die historische Besonderheit des Kapitals im Allgemeinen

1

Wir beginnen jetzt den intellektuellen Faktor zu suchen, der an der Entstehung des Kapitalismus mitgewirkt hat. Max Webers Behauptung, der Calvinismus sei dieser Faktor, musste in der vorigen Notiz zurückgewiesen werden. Übrigens ist dies eingehender in Jan Rehmanns Studie Max Weber: Modernisierung als passive Revolution, Hamburg 1998 geschehen, auf die ich hiermit verweise. Wie Rehmann gleich am Anfang deutlich macht, entspringt Webers Behauptung einem bestimmten USA-Bild, das empirisch auf schwachen Füßen steht. So mache es seine „Konzentration auf den amerikanischen Mittelstand“ unsichtbar, dass etwa in Neu-England jener „Possessivindividualismus“, Besitz ergreifen wollende Individualismus, der kapitalismustypisch sei, „sich parallel mit dem ökonomischen Einfluss der großen Exporthandels-Kaufleute und gegen den Widerstand der puritanischen Geistlichen durchsetzte“. (S. 35)

In Neu-England wurde Benjamin Franklin geboren, auf den sich Weber zu berufen versucht, wobei er aber einräumen muss, dass Franklin gar nicht Calvinist war, sondern „Deist“ und Freimaurer. Diesem Deismus will ich nun immerhin nachgehen, obgleich Franklin, wie wir gesehen haben, kaum als Zeuge kapitalistischer Gesinnung oder gar Lebenspraxis herhalten kann. Es ist aber wahr: Wie das Freimaurertum in Europa die Französische Revolution mit vorbereitet hat, so ist im Deismus etwas angelegt, das zum „Geist des Kapitalismus“ führt. Zu diesem Schluss gelangen wir gerade dann, wenn wir von Marx‘ Kapitaldefinition ausgehen: „Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.“ (MEW 42, S. 253) Ich hatte den Satz zuerst in der 14. Notiz zitiert und da schon angekündigt, dass wir auf die in ihm enthaltene Unterstellung einer seltsamen Strategie, sich „dem Unendlichen“ anzunähern und es schließlich zu erreichen – statt nur selber als Bewegung endlos fortzulaufen, vulgo zwanghaft „zu wachsen“, was schon merkwürdig genug wäre (und ist) -, noch würden zurückkommen müssen. Wie man jetzt sehen wird, gibt es einen Zusammenhang mit Freimaurertum und Deismus, der darin liegt, dass auch letzterer „die Unendlichkeit“ als erstrebenswertes Bewegungsziel kennt.

Wir finden den deistischen Diskurs am Ende von Jan Assmanns Buch Ägypten. Eine Sinngeschichte, Frankfurt/Main 1999 erhellend charakterisiert: Als sich um 1700 in London das Freimaurertum konstituierte, war ein gewisser John Toland mit den Thesen seines Buchs Origines Iudaicae maßgeblich beteiligt. Er stellte dort Moses, den jüdischen Religionsgründer, als aufgeklärten ägyptischen Priester dar, der bereits zu einer, so wörtlich, „spinozistischen“ Auffassung der Gottheit gelangt sei. Die nachfolgende Freimaurerliteratur wiederholt das immer wieder: Es gebe eine jüdische und schon ägyptische Volksreligion der Riten und Mysterien, doch dahinter stehe, habe damals schon gestanden die geheime Theologie des Einen, anonymen Höchsten Wesens, „in dessen Charakteristik“, so Assmann, „unschwer Spinozas natura naturans zu erkennen war“ (S. 481). Natura naturans, die schaffende Natur, ist ein scholastischer Begriff, der bei Spinoza die Bedeutung erhält, daß die Natur selber die Natur erschafft; man kann sagen, es ist Gottes Natur, aber auch, es ist die Natur als Gott. Dass „deus sive natura“ bei Spinoza austauschbare Begriffe werden, eröffnet ein neues Kapitel der Religionsgeschichte.

2

Man muss dies zunächst unterstreichen: Der Deismus oder „Pantheismus“ knüpft zwar an gewisse Lehren, die in der Kirche selbst entwickelt wurden, direkt an – darauf komme ich später noch zu sprechen -, hat jedoch mit dem biblischen Christentum praktisch nichts zu tun. Im Grunde gibt es nur die eine Übereinstimmung, dass beide, Deismus und Bibel, von einem Gott sprechen, einem einzigen Gott; aber „Gott“ ist für sich genommen ein recht leerer Begriff, der nicht viel mehr besagt, als dass man einen übergreifenden Sinn in der Menschheitsgeschichte sieht oder wenigstens erhofft. Dass „Gott“ nicht erst im Deismus, sondern schon im Christentum nur ein solcher Allgemeinbegriff, nicht aber eine Person im heutigen Wortsinn ist, kann schon daraus erkannt werden, dass diese Religion von sich aus drei „Personen“ der Gottheit benennt: Eine soll „der heilige Geist“ sein, worunter man sich doch schwerlich ein Wesen mit Kopf, Händen und Füßen vorstellen wird. Der Ausdruck „Personen“ in diesem Zusammenhang hat vielmehr den wörtlichen Sinn, den er zur Entstehungszeit der „trinitarischen“ Theologie hatte, wo persona das lateinische Wort für Maske und als solches die Übersetzung des griechischen Worts hypostasis war, das damals so viel wie menschenzugewandte Vermittlungsgestalt des Göttlichen bedeutete. Doch sind auch das noch leere Begriffe, die auf verschiedenste Weise gefüllt werden könnten.

Von einem „Glauben an Gott“ zu sprechen ist daher streng genommen unsinnig, so unsinnig, als wollte jemand sagen, er halte „das Gefährt“ für eine brauchbare Art, den Ozean zu überqueren. Man kann nur an einen „Namen“ der Gottheit glauben, wie die Theologen es ausdrücken, zum Beispiel an „den Gott Jesu Christi“. Nur wenn man das tut, ist „Glaube“ kein leeres Wort, sondern bedeutet etwas Konkretes: dass der Sinn, auf den man hofft, sich nach den biblischen Gerechtigkeitsvorstellungen buchstabiert, wie sie etwa in der Bergpredigt formuliert sind, und dass man erwartet, dieser Sinn würde eher durch Inkaufnahme von Niederlagen in die Menschheitsgeschichte eingespeist als durch wirklich oder scheinbar glanzvolle Irakfeldzüge und dergleichen. Der Gott des gekreuzigten Christus ist der Gott, der durch wohlgemerkt nichtmilitärische Niederlagen siegt: weil keine beliebige Allmacht in ihm siegen will, sondern nicht mehr und nicht weniger als die Macht der Gerechtigkeit, die im endlichen Leben der Einzelnen, aber auch der engagierten Gruppen meist nur als Ohnmacht erfahrbar wird; und doch mag sich im Engagement etwas ansammeln, das der Gerechtigkeit die Kraft gibt, in späterer Zeit das letzte Wort zu haben und zu sein.

Der Gott des Deismus stellt sich sehr anders dar. Spinozas Gott hat auch eine Ethik, aber es ist eine der Selbsterhaltung, nicht der Inkaufnahme von Niederlagen, und als Macht Gottes wird uns das denkbar Inhaltsleerste präsentiert. So leer ist diese Macht, dass sie überhaupt nur daraus erkannt werden kann, dass sie die größtmögliche ist. Dies ist der springende Punkt, denn hier sind wir bei Gottes „Unendlichkeit“ angelangt. Ginge es, wie in der Bergpredigt, um die Macht, so etwas wie Feindschaft menschheitsübergreifend zu überwinden („Liebt eure Feinde!“), dann könnte das keine unendliche Macht sein, da eine solche die Feindschaft zwar immer überwinden würde, sie aber nie zum Verschwinden bringen dürfte, weil es sonst mit ihrer Unendlichkeit vorbei wäre – sie wäre ja gegenstandslos geworden, also gäbe es sie nicht mehr, und damit wäre Gott selbst am Ende, er soll aber nach Voraussetzung „unendlich“ sein.

Hier sind wir der Kapitalismus-Problematik schon sehr nahe, denn ebenso unendlich, inhaltsleer und ziellos wie die deistische Gottheit ist das Kapital, und wenn wir nun noch mit Marx annehmen, dass es am liebsten „die Unendlichkeit at once“ wäre, ist die Übereinstimmung sogar vollkommen. Sie bedeutet dann einfach, dass es sich zu einem Gott macht, zum neuen Gott, wie Marx das auch immer wieder andeutet und anklingen läßt.

Der Gott der Bibel ist aber wirklich am Ende. „Ich bin das Alpha und das Omega“, lässt die Johannes-Offenbarung ihn sagen, „der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“ (Kap. 22, Vs. 13) Man kann auch „der Anfang und das Ziel“ übersetzen, denn in dem griechischen Wort telos, wie übrigens auch in einigen deutschen Wörtern: Beschluss, Schlussfolgerung, Reichsdeputationshauptschluss, sind Ziel und Ende dasselbe. Theologen hatten zwar selten Mut oder Einsicht genug, den endlichen Gott als solchen zu benennen. Doch einer der größten des 20. Jahrhunderts hat es gewagt. Karl Barth schreibt, man dürfe „sich auch das Sein Gottes nicht als das Sein in einer grenzenlosen immerwährenden Zeit vorstellen“ (Die kirchliche Dogmatik III/2, Zollikon-Zürich 1948, S. 686).

Aber was ist der „Name“ der deistischen Gottheit, woran wird hier geglaubt? Wir haben es gehört: an die Natur und daran, dass die Natur die Natur schafft, natura naturans; diese seltsame Verdopplung, die uns an den Zirkel des Kapitals erinnert – das Kapital ist nach dem Marxschen Satz, der zitiert wurde, unendliches Werden und ist es deshalb, weil es zum unendlichen Sein strebt, aus keinem anderen Grund -, gilt es nun zu begreifen.

3

Auch der Deismus, sagte ich, kennt die Unendlichkeit als erstrebenswertes Bewegungsziel. Das sehen wir an Spinozas Ethik, die schon deshalb „more geometrico“ sein muss, weil sich sonst das für ihn Zentrale, eben die Unendlichkeit, die als quantitative, mathematische Kategorie begriffen wird, nicht artikulieren ließe. Die Unendlichkeit als Ziel ergibt sich aber aus dem Zirkel, den ich soeben benannt habe. Er ist die philosophische Grundentscheidung, als welche Spinoza ihn bereits im ersten Satz der Ethica Ordine Geometrico demonstrata, „Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt“, offenlegt: Es gibt etwas, „dessen Essenz Existenz einschließt, anders formuliert […], dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann“ (I. Teil 1. Definition), wobei man aber, noch anders formuliert, von der existierenden Natur die Natur selber dennoch unterscheiden soll. Diese Sache ist unendlich und wird Gott genannt: „Unter Gott verstehe ich ein unbedingt unendliches Seiendes, d.h. eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt“ (6. Definition). Unter „ewig“ haben wir „die Existenz selbst“ zu verstehen, „insofern sie als etwas begriffen wird, das aus der bloßen Definition eines ewigen Dinges notwendigerweise folgt“ (8. Definition).

Hierin liegt die Struktur, nach der wir suchen. Wir haben es mit einem „Ding“ zu tun, das alles, was es qua definitionem sein kann, auch tatsächlich ist, und da es unendlich viel sein kann, ist eben dies Unendliche dasjenige, was es zur Existenz bringt oder vielmehr schon gebracht hat, denn, so hörten wir ja, es „schließt“ Existenz bereits „ein“.

Spinoza trägt kein Bedenken,  d e n  Z w a n g  zu formulieren, unter dem ein solches „Ding“ steht: „Alles, was aus der unbedingten Natur irgendeines Attributes Gottes folgt, hat immer existieren und unendlich sein müssen“ (I. Teil Lehrsatz 21). Der Attribute gibt es unendlich viele, doch ausgerechnet die Willensfreiheit gehört nicht dazu: „Hieraus folgt erstens, dass Gott nicht aus Freiheit des Willens etwas bewirkt.“ (Lehrsatz 32 Folgesatz 1) „Die Dinge haben auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden können, als sie hervorgebracht worden sind.“ (Lehrsatz 33) So viel zu Gott; aber da sich Gottes „Ewigkeit“ jenseits der Zeit, in der alles immer schon vollbracht ist, für uns Menschen, die wir uns an Gott orientieren, als Zeitablauf darstellt, wird aus dem Gotteszirkel von „Essenz“ und „Existenz“ die unendliche Bewegung der menschlichen Gottesannäherung.

Das Vorbild, das uns Gott gibt, ist das seiner „Vollkommenheit“, die darin besteht, dass „jenes ewige und unendliche Seiende, das wir Gott oder Natur nennen, […] aus derselben Notwendigkeit heraus [handelt], aus der es existiert“, dass also „der Grund oder die Ursache, warum Gott, d.h. die Natur, handelt und warum er existiert, ein und dieselbe [ist]“. (IV. Teil, Vorwort) Vom menschlichen Handeln gilt im Prinzip dasselbe. Es ist „das Streben, sich selbst zu erhalten“. Darin unterscheidet er sich zwar von Gott, der nicht erst zu streben braucht, da er immer schon ist, was er ist. Aber eigentlich ist das Streben auch beim Menschen nur ein scheinbares, man braucht ihm so wenig wie Gott „Werde, was du bist“ zuzurufen, da er und Gott demselben Zwangsgebot unterliegen, dass „Essenz“ und „Existenz“ identisch zu sein haben. Es geschieht doch alles von selbst: „Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, wird allein von des Dinges Essenz her definiert […], und allein daraus, dass diese [Essenz] gegeben ist, […] folgt notwendigerweise […], dass ein jeder sein Sein zu erhalten strebt.“ (IV. Teil, Lehrsatz 25, Beweis)

Der Unterschied ist wirklich nur, dass der Mensch die Zwangsidentität seiner Essenz und Existenz tagtäglich erlebt, indem er nicht umhin kommt, sich als das zeitliche Ding, das er ist, mit zeitlosem Bewusstsein zu beobachten, während Gott diese unangenehme doppelte Buchführung immer schon hinter sich hat. Spinoza kann es nicht oft genug sagen: „Das Streben, sich selbst zu erhalten, ist nichts weiter als die Essenz des Dinges selbst […], das, insofern es existiert, wie es ist, als etwas begriffen wird, das eine Kraft hat, im Existieren zu verharren […] und das zu tun, was aus seiner Natur notwendigerweise folgt“ (Lehrsatz 26, Beweis, auf derselben Seite). Hier kann ein Verdacht aufkommen, wenn man nämlich bedenkt, dass die „Dinge“, die erörtert werden, doch alle sterblich sind und sich insofern durchaus nicht „erhalten“: Der ganze „Unendlichkeits“-Diskurs sei nur eine Methode, von Endlichkeit nicht sprechen zu müssen, der eigenen Endlichkeit, also Todesangst zu verdrängen; es werde als Verdrängtes beständig wiederholt (man kennt das); – jetzt müsste es noch die Therapeuten geben, die mit Symptomen zu kommunizieren wissen. Leider gibt es sie nicht.

Mein bisheriges Referat kann nicht beanspruchen, die skizzierte Struktur – „Identität von Essenz und Existenz“, bei Gott als Sein, bei uns als Werden – schon irgendwie verständlich gemacht zu haben. Was wir sahen, war lediglich die Analogie zur Kapitalstruktur, die sich, wenn wir Marx folgen, als eine gottmenschliche Mischung darstellt, indem das Kapital einerseits ein Unendliches ist, als ob es Gott wäre, und andererseits nach Menschenart erst wird, was es ist, statt es wie Gott immer schon „at once“ zu sein. Das ist nun vielleicht etwas deutlicher beschrieben als in dem Marxschen Satz, den ich mehrfach zitiert habe, aber es hat immer noch den Status einer bloßen Tatsache, über die wir gestolpert sind. Spinoza ist auch nur eine Spur. Die Frage, wer oder was sie gelegt hat, bleibt der nächsten Notiz aufgegeben.