(26) Der Zwang, alles zu tun, was möglich ist

3. Herkunft und Charakter der Figur kapitalistischer Endlosigkeit / Zweiter Teil – Die historische Besonderheit des Kapitals im Allgemeinen

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Die Frage nach dem intellektuellen Entstehungsfaktor des Kapitalismus führte uns in der letzten Notiz zu Spinoza, dem Gewährsmann des Deismus und Freimaurertums: Es sprang ins Auge, dass Spinozas Beschreibung eines unendlichen höchsten Wesens, von dem die Dinge der Natur „auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung“ haben „hervorgebracht werden können, als sie hervorgebracht worden sind“, sowie eines am höchsten Wesen sich orientierenden menschlichen „Streben[s], sich selbst zu erhalten“, welches eine Kraft ist, „das zu tun, was aus seiner Natur notwendigerweise folgt“, der Marxschen Kapitaldefinition genau strukturanalog ist. Denn Marx stellt das Kapital als eine Bewegung vor, die nicht ruhen noch ihrer selbst gewiss sein kann, bis sie den unendlichen Mehrwert erreicht hätte. Ihm zufolge kann kein Einzelkapital sich anders selbst erhalten als so, dass es sich der Bewegung anvertraut und sie nach Kräften vorantreibt. Wir sehen nach dem Vergleich klarer: Diese Definition betont den Zwang eines von Marx so genannten „automatischen Subjekts“, alles unendlich Viele, das ihm möglich ist, auch wirklich zu tun, am besten „at once“ und ersatzweise in einem unendlichen Regress.

Ich habe gleichwohl gesagt, Spinoza sei nur eine Spur. Denn wir konnten den Inhalt seiner „Lehrsätze“ nur so aufnehmen, wie er uns zu lesen gegeben wurde: als Faktum. Wie sich das Faktum erklärt, blieb unsichtbar. Der nächste Schritt ist, sich klarzumachen, dass derselbe Inhalt an vielen Stellen der Philosophiegeschichte zutage tritt. Es handelt sich nicht um die Philosophie eines Einzelnen, sondern um einen ganzen Diskurs. Zu klären wäre die Herkunft dieses Diskurses, den es vor der Neuzeit nicht gab. In der Neuzeit gibt es auch andere Diskurse, aber die Rolle, die gerade er spielt, ist zentral.

So lesen wir noch bei Hannah Arendt, die Menschen seien die „Sklaven“ ihres „eigenen Erkenntnisvermögens geworden“, „die sich hilflos jedem Apparat ausgeliefert sehen, den sie überhaupt nur herstellen können, ganz gleich wie verrückt oder wie mörderisch er sich auswirken möge“. Das heißt, sie müssen alles herstellen, was sie vermögen, genauer was ihre Erkenntnis, ihre Wissenschaft vermag. Denn „es [liegt] im Wesen der Wissenschaft […], jeden einmal eingeschlagenen Weg bis an sein Ende zu verfolgen“. (Vita activa oder Vom tätigen Leben, München Zürich 1981, S. 9 f.)

Bei Nietzsche muss jedes Lebewesen alles tun, was in seiner Natur liegt, und die ganze Welt ist nur eine Summe von Kräften, die alles Mögliche aus sich herausholen, weil sie unter dem Verwirklichungszwang stehen – „Geschehen und nothwendig Geschehen ist eine Tautologie“ (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe [Hg. Colli / Montinari], Bd. 12, München 1980, S. 536) -; wenn nichts mehr herauszuholen bleibt, beginnt das Ganze von vorn, was Nietzsche „die ewige Wiederkunft des Gleichen“ nennt.

Bei Fichte ist das Ich ein Vermögen, sich seiner eigenen Unendlichkeit anzunähern, woraus sich „Ich = Ich“ ergibt, als „Sollen“ freilich nur; hier „soll“ nun aber alles, was möglich ist, auch wirklich werden. Das scheint der Kapitalstruktur, wie Marx sie fasst, besonders nahe zu sein. Hegel kritisiert es, aber er kritisiert nicht die Struktur der Verwirklichung, sondern das Sollen – dass Fichte den zwingenden Verwirklichungserfolg nicht aufzeigen kann. (Vgl. Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 2, Frankfurt/Main 1970, S. 9-51, hier S. 50)

Diese Hinweise mögen genügen. Doch wir müssen noch auf Marx zu sprechen kommen. Obwohl es Marx‘ Leistung ist, jene Zwangsstruktur beim Kapital zu entdecken, unterliegt er ihr seinerseits. Wer kennt nicht seine Behauptung: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist“ (MEW 13, S. 9)? Also alles, was insofern kapitalistisch möglich ist, wird auch geschehen, sich zwangsläufig verwirklichen? Warum glaubt man, das sei eine tiefe Einsicht? Weil, wer die Behauptung liest, von der Heiligkeit jenes Diskurses angeweht wird. Ich sehe aber nicht, welches Argument für sie sprechen sollte. Müssen wir wirklich warten, bis der Kapitalismus das Produktivpotential zur Vernichtung des ganzen Weltalls angehäuft hat, nach dem Traum des Professors Tipler, den ich in der 8. Notiz referiert habe, und dürfen dann erst die Andere Gesellschaft herbeiführen?

Der skizzierte Diskurs ist dafür verantwortlich, dass Marx gelegentlich, hier zum Beispiel und auch anderswo, aber nicht immer, mit einer deterministischen Geschichtsauffassung kokettiert und ihr unterliegt. Ich meine, es ist gerade diese ständige Versuchung, die ihm Augen für den Kapitaldeterminismus gab. Nicht von außen, sondern weil er mit sich selbst ringt, gelingt ihm die große Entdeckung.

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Zu den ersten, die den Diskurs sprachen, gehörte Giordano Bruno, den ich schon einschlägig zitiert habe. Bei ihm wird allerdings der Zwang noch nicht als solcher kenntlich, sondern die Verwirklichung des unendlich Möglichen erscheint als Freiheit: „Eingedenk […] der uns innewohnenden Gottheit […] wird der Geist, sich seiner Macht bewusst, den Flug ins Unendliche wagen, wo er zuvor im engsten Kerker eingeschlossen war“, und so weiter (vgl. 15. Notiz).

Es ist ein wesentliches Element dieses Diskurses, dass der Zwang in ihm als Freiheit erscheint. So glauben Kapitalisten, sie seien die freiesten Menschen: weil niemand sie hindert, ihr Kapital bis zum Grenznutzen auszureizen. Tatsächlich zwingt sie aber die Konkurrenz. Und Bruno versuchte zu fliehen, das war Freiheit und Gezwungensein gleichzeitig. Freiheit erweist sich als zweideutig. Davon handeln Schillers Dramen, schon Die Räuber. Es ist nur erst eine Zwangsfreiheit erreicht, solange ein Karl Moor weiter nichts tut, als dem unendlichen Drang zu folgen, den „die Natur“ ihm eingibt. Moors erster wirklicher Freiheitsakt besteht darin, dass er sich der Polizei stellt. Denn dies verstand sich nicht von selbst, sondern da hat er gewählt. Freiheit ist erst als Wahlfreiheit unzweideutig. Man kann nicht immer wählen, „Triebe“, denen zu folgen man gezwungen ist, gibt es wirklich. Das kann auch Spaß machen. Aber dann macht Gezwungensein Spaß, nicht Freiheit, die in vielen wichtigen Fällen auch möglich ist.

Was Bruno angeht, so muss man bedenken, dass wenn er vom „Geist“ spricht, der „sich seiner Macht bewusst“ sei, er im lateinischen Text die Vokabel potentia benutzt, die Macht und zugleich Möglichkeit bedeutet. Tatsächlich ist man desto mächtiger, je mehr Möglichkeiten man hat, das heißt aber: je mehr Mögliches man verwirklichen kann, und das wiederum heißt: je mehr wirkliche Handlungen andere darauf schließen lassen, dass es einem möglich ist, so zu handeln, wie man handelt. Dies erklärt den seltsamen Gedanken, den Luhmann irgendwo äußert: Macht vermindere sich in dem Maß, wie sie eingesetzt werde. Das Modell ist etwa der grüne Heinrich bei Gottfried Keller, der seine Mitschüler durch Geldausgeben beeindruckt, bis sie merken, dass er es sich gar nicht „leisten“ kann. Aber Luhmann greift natürlich zu kurz, denn es gibt eine Weise, Macht einzusetzen, wodurch sie sich nicht vermindert, sondern vermehrt: die Kapitalinvestition. Und ein Wesen kann gedacht werden, das alles einsetzt und immer gewinnt, weil es die Allmacht selber ist, Gott, „die Natur“, „der Mensch“ oder das Kapital.

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Von Bruno gelangen wir zu Cusanus, der mit deutschem Namen Nikolaus von Kusa heißt. Bruno ist von diesem Theologen des 15. Jahrhunderts direkt beeinflusst. Cusanuslektüre bei Späteren wie Leibniz und Spinoza lässt sich nicht nachweisen, auch wenn Einige sie annehmen, indessen glaubt man immer wieder, die cusanische Spur zu sehen. Aber es ist gar nicht nötig, „Einflüsse“ zu rekonstruieren, denn wir wollen nicht die Herkunft einzelner Philosophien entdecken, sondern eines Diskurses. Da genügt es, auf dessen erste Ausarbeitung zu stoßen; die leistet Cusanus.

Bei der ersten Ausarbeitung ist der Diskurs noch kein Diskurs, sondern eine Theorie, die sich aus Argumenten zusammensetzt. Unter einem Diskurs ist ja eine Gruppe zusammenhängender Sinnelemente und -effekte zu verstehen, auf die man beim Argumentieren immer wieder zurückfällt, ohne es zu wollen und oft ohne es zu merken, bei denen also das Argumentieren gerade aufhört und der Zwangssinn beginnt. Kein Sinn kommt aber als Zwangssinn schon auf die Welt, sondern der etabliert sich, wenn das Argumentieren in eine Sackgasse geraten ist. Wollen wir aus ihr wieder herauskommen, müssen wir die Argumente suchen, die in sie hineingeführt haben. Denn ein Diskurs lässt sich nicht widerlegen, wohl aber diese Argumente. Zu einem Diskurs gibt es keine Alternative, weil man ihn gar nicht sieht, die Argumente aber, die zu ihm führten, lassen sich auflösen und verändern.

Wie Cusanus zu dem Schluss kommt, dass es wenigstens einen Menschen gibt, der alle Möglichkeiten des Menschseins ausgeschöpft hat und zwar so, dass er sich den unendlichen Möglichkeiten des höchsten Wesens angenähert und sie erreicht hat und daher dieses Wesen selber ist; ferner dass alle Menschen diesem einen Gottmenschen nachfolgen können und auch sollen: das kann argumentativ nachvollzogen werden. Es wurde deshalb zu seiner Zeit diskutiert und bestritten. Cusanus war ein nicht unwichtiger Kardinal, er gehörte zu der Delegation, die nach Byzanz reiste, um Unionsverhandlungen mit der orthodoxen Kirche zu führen. Wenn wir Hans Blumenberg folgen, sind seine Annahmen die Antwort auf eine Argumentationskrise der mittelalterlichen Theologie.

Allgemeine Voraussetzung ist, dass die Kirche seit ihren Anfängen bestrebt war, die biblische Lehre mit dem Denkmittel der Zeit, das war die griechische Philosophie, als vernünftig zu erweisen und im gleichen Vorgang das Denkmittel selber so zu verändern, dass aus der griechischen eine christliche Philosophie werden konnte. Dieser Vorgang ist es, der in die Argumentationskrise gerät. Im griechischen Denken gilt die Wirklichkeit als Verwirklichung der Möglichkeit, und so hatte Thomas von Aquin sagen können, Gott sei die Möglichkeit aller Dinge: Alle Dinge existieren deshalb, weil Gott sie geschaffen hat. Am Ende des Mittelalters nahm dieser Gedanke die Form an, dass es die Allmacht dieses Gottes verlange, ihm unendlich viele Möglichkeiten zuzusprechen, darunter auch solche zu ganz unvorhersehbaren, ja furchtbaren Wirklichkeiten. Schon wer der Schöpfung irgendeine Art von Ordnung zuspreche, an die Gott gebunden sei, schränke seine Allmacht unzulässig ein. Die Krise bestand darin, dass Mensch und Erde in solcher Argumentation zu Nullitäten herabsanken. Und man wird sich sagen, auch wenn das bei Blumenberg kein Thema ist, dass einem Ordnungszusammenbruch in der Theologie wohl ein realer innerweltlicher Ordnungszusammenbruch vorausgegangen sein dürfte.

Wie ich das in der 24. Notiz erörtert habe, wird die intellektuelle Reaktion auf den realen Zusammenbruch darin bestanden haben, dass man bei den Fragestellungen blieb, die schon vorher gegolten hatten, und sie nun anders, eben mit Rücksicht auf das neue Reale beantwortete. Das geschah aber nicht nur so, dass Gottes schreckliche Allmacht herausgestrichen wurde, wie das laut Blumenberg Wilhelm von Ockham tat, sondern wenig später fand Cusanus im Raum derselben Frage eine ebenfalls neue Antwort, die wieder zur Hoffnung berechtigte. Und zwar sei es ihm gelungen, Mensch und Erde einerseits wieder aufzuwerten und dies andererseits gegen mögliche theologische Kritik dadurch zu sichern, dass er gleichzeitig auch Gottes Allmacht noch steigerte (Die Legitimität der Neuzeit, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1988, S. 559).

Was letzteres angeht, so war der „Explosivstoff“ seines Verfahrens „der Unendlichkeitsbegriff“ (S. 567). Tatsächlich ist Cusanus der erste, bei dem Gott über die Unendlichkeit des Möglichen nicht nur verfügt, sondern sie als die „Größtheit“ (maximitas) selber ist. Die Vorgänger, auch Ockham, hatten immer betont, solche Zuschreibungen seien nur menschliche Gleichnisse und man könne Gott, wie er selbst sei, nicht verstehen. Dass man Gott nicht verstehe, wird auch Cusanus nicht müde zu betonen, doch er kann sagen, das nicht Verstehbare sei eben Gottes Unendlichkeit. Es sei indessen von der Bibel her verständlich, dass  e i n  größter  M e n s c h , der natürlich Jesus Christus ist, mit Gottes Unendlichkeit direkt gleichziehe. Ihm könnten alle Menschen nachfolgen, und so ist der Mensch als Mensch aufgewertet, und mit ihm die Erde. Wir finden in diesem Kontext die Figur argumentativ herbeigeführt, die zur Kapitalstruktur werden wird: Erstens, von allen Wesen ist der Mensch nach Gott das größte. Zweitens, Christus schöpft alle Möglichkeiten aus, die im Menschenwesen liegen, und ist  d a d u r c h  das größte Exemplar seiner Gattung. Drittens wird die Regel eingeführt, dass jede Gattung da, wo ihre Möglichkeiten voll verwirklicht sind, in die nächsthöhere direkt übergeht. Christus als restlos verwirklichter Mensch geht daher in die Gattung Gott über, das heißt er wird und ist Gott.

Viel später macht Ludwig Feuerbach Christus zum Argument, den Menschen noch mehr zu erhöhen: „Das Geheimnis der Inkarnation ist […] das Geheimnis der Liebe des Menschen zu sich selbst.“ Es geht immer noch um die Inkarnation von Gottes Unendlichkeit: „in dem unendlichen Wesen, dem Gegenstande der Religion, ist dem Menschen nur sein eignes unendliches Wesen Gegenstand“ (Das Wesen des Christentums, Stuttgart 1974, S. 434, 413). Doch längst vor Feuerbach hat sich die andere Seite der cusanischen Erbschaft verselbständigt, diese Figur des Zwangs, alles zu tun, was möglich ist. Zählt man beides zusammen, kommt heraus, dass „der Mensch“ nicht nur die Möglichkeit hat, sondern unter dem Zwang steht, das Unendliche zu tun. Der Mensch? Blumenberg schwebt unwillkürlich der wirtschaftende Mensch vor, schon wenn er Cusanus liest: Bei dem habe Gott keine Wahl mehr, irgendeine Möglichkeit noch zurückzuhalten, und so sei ihm alle schreckliche Willkür ausgetrieben, und Weltschöpfung sei nun „ein Akt“ geworden, „in den die Essenz des Urhebers unausweichlich  i n v e s t i e r t  werden musste“ (S. 589, meine Hervorhebung). Blumenberg bedenkt nicht, dass ein Gott, der nicht „ausweichen“ kann, der also unter Zwang steht, dem aber sonst alles möglich ist und der alles verwirklicht, noch schrecklicher wäre als ein Gott der Willkür. Stünde er doch jenseits von gut und böse.