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Unter den am Anfang der vorigen Notiz aufgelisteten Fragen war die, was das geschichtlich Voranbringende am Kapital gewesen ist und von wann es eine Last wurde. Am Ende, nachdem ich das Kapital als eine unendliche Bewegung definiert hatte – der Tausch Geld gegen Ware, dann Ware gegen mehr Geld wird endlos wiederholt, der „Mehrwert“ dabei endlos gesteigert: so lange, dem Marxschen Kapitalbegriff gemäß, bis „das Endlose“ selbst erreicht wäre -, stellte sich dieselbe Frage in der verschärften Form, ob ein Unendliches, das „alles überwältigt“, es nicht verdiene, insgesamt angegriffen zu werden. Das war praktisch die Frage, ob es nicht am besten gewesen wäre, wenn es so etwas wie Kapital überhaupt niemals gegeben hätte. Die ökologische Krise bringt auf solche Gedanken. Der Kapitalismus als zum Wachstum verdammte Produktionsweise kommt mit den Grenzen der Erde, ihrer ökologischen Belastbarkeit, notwendig in Konflikt. Er scheint als Feind der Erde ein pures Übel zu sein.
Dieser Ansatz muss in mehreren Richtungen weitergeführt werden. So wird der Begriff des Kapitals als einer unendlichen Bewegung genauer zu prüfen sein, auch im Vergleich mit nichtmarxistischen Theorien. Wenn er sich bewährt, werden wir neben den ökologischen auch innerökonomische Krisenfolgen erörtern. Doch hier setzen wir erst einmal die Korrektheit des Ansatzes voraus und bleiben bei der Frage, ob eine Bewegung, von der wir richtig annehmen könnten, dass sie ins Unendliche tendiert, nicht schlechterdings hätte unterbleiben sollen. War es nicht gerade der unstillbare Wachstumsdurst, der das Kapital dazu trieb, neben der menschlichen Arbeitskraft auch die fossilen Energiequellen auszubeuten und in historisch kürzester Zeit zu verbrauchen, dabei auch den Treibhauseffekt zu erzeugen?
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Ernst Bloch hat die unendliche Bewegung verteidigt. Indem er ihre Anfänge mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit identifiziert, weist er darauf hin, dass es da eine Enge gab, die geöffnet werden musste (Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, S. 134 f.; Thomas Müntzer als Theologe der Revolution, Frankfurt/M. 1969, S. 163). Der Impuls ins Unendliche war zunächst nur die Übertreibung des Wunsches, eine Gruppe ganz bestimmter, historisch gegebener Grenzen zu überschreiten. Bloch treibt zwar keine Kapitalanalyse, zitiert aber etwa den frühneuzeitlichen Philosophen Giordano Bruno (vgl. Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt/M. 1972, S. 539):
„Eingedenk […] der uns innewohnenden Gottheit […] wird der Geist, sich seiner Macht bewußt, den Flug ins Unendliche wagen, wo er zuvor im engsten Kerker eingeschlossen war, […] und noch dazu waren seine Flügel gewissermaßen beschnitten mit dem Messer eines stumpfen gewohnheitsmäßigen Glaubens, der zwischen uns und der Herrlichkeit neidischer Götter eine Nebelwand bildete, ja eine Wolkenbank aus der eigenen Einbildungskraft schuf, die er selbst für aus Erz und Stahl bestehend ansah. Aber befreit von diesem Schreckbilde der Sterblichkeit […], von den Ketten grausamer Erinnyen und den Einbildungen parteiischer Liebe schwingt er sich dem Äther zu, durchschwebt das unbegrenzte Raumgebiet so großer und zahlloser Welten, besucht die Gestirne und überfliegt die eingebildeten Grenzen des Alls.“
Wie sehr der „Flug ins Unendliche“ gewagt werden musste, zeigt ja nichts klarer und schlimmer als gerade Brunos Schicksal, den eine die Enge verteidigende Kirche verbrennen ließ. In ihrer Sicht flog der Philosoph auf dem Besenstiel.
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Bruno hat gleichsam das Mittelalter beendet. Sein „Flug ins Unendliche“ übertreibt diesen Schritt und unterstreicht ihn drastisch. Beim Kapital wird daraus eine Methode. Ihm genügt kein einzelner Schritt. Es häuft Ende um Ende aufeinander. „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“, schreiben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest. Sie sind fasziniert, denn auch diese unendliche Bewegung zeigt sich als Öffnung einer Enge: „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ (MEW 4, S. 465)
Aber mögen die Enden sich auch häufen, auf „das Unendliche“ wird weder die erste noch die zweite, dritte und n-te Beendigung hinauslaufen. Im Gegenteil kann der Bewegung des Kapitals vorausgesagt werden, dass sie selbst ein Ende haben wird, eben weil sich zwar eine Enge öffnen, aber kein Tor zur „Unendlichkeit“ aufstoßen lässt. Ganz sicher stellt sich das irgendwann heraus, und mehr noch, schon vor dem Ende wird die Bewegung irgendwann aufhören, „weiterführend“ zu sein. Man wird sie auf einmal sinnlos und destruktiv finden. Ja, manche werden behaupten, das sei sie schon immer gewesen. Und dann? Dann muss eben Schluss sein. Will sagen, dann braucht man eine andere Bewegungsform. Aber bis dahin ist es gut, dass es die „unendliche“ Bewegung gibt.
Diese Überlegung hat auch vor der ökologischen Krise Bestand. Es waren doch die Ökologen selber, die in den 1970er Jahren warnten, wenn nicht bald „Grenzen des Wachstums“ eingezogen würden, werde die Erde unheilbar verletzt. Das heißt, bis dahin hatte sich das Wachstum in gerade noch zuträglichen Grenzen bewegt. „In vernünftigen Grenzen“ kann man nicht sagen. Die fossilen Energiequellen waren rücksichtslos dezimiert worden. Doch es gab die Möglichkeit, in Zukunft die unerschöpfliche Sonnenenergie zu nutzen. Zur Bilanz gehört auch die andere Seite: Die Gesellschaft hat sich in anderthalb Jahrhunderten eine technische Basis verschafft, von der frühere Generationen nur träumen konnten. Gewiß sind die Errungenschaften dieser Technik erst noch gerecht zu verteilen. Auch ist manches an ihr schädlich und muss umgebaut werden. Doch in vieler Hinsicht „erleichterte“ sie tatsächlich, wie Galilei auf Brechts Bühne sagt, „die Mühsal der menschlichen Existenz“.
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Mit Galilei war aus Brunos Philosophie naturwissenschaftliche Forschung geworden. Bruno und Galilei waren keine Kapitalisten, doch es ist ihr Impuls, der später im Kapital weiterlebt. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine geistige Verwandtschaft. So etwas wie eine Untrennbarkeit des Kapitals von Galilei und Bruno liegt vielmehr schon im Kapitalbegriff, wie ihn jedenfalls Marx gebildet hat: Die kapitalistische Produktionsweise, schreibt er, habe sich erst „als eine Produktionsweise sui generis gestaltet“, als es zur „Anwendung von Wissenschaft und Maschinerie auf die unmittelbare Produktion“ gekommen sei (Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt/M. 1969, S. 61). Darin liegt, dass die Anwendung von Maschinerie die Anwendung von Wissenschaft ist. Es sei die „direkt aus der Wissenschaft entspringende Analyse und Anwendung mechanischer und chemischer Gesetze“, schreibt Marx in den „Grundrissen“, „welche die Maschine befähigt dieselbe Arbeit zu verrichten, die früher der Arbeiter verrichtete“ (Ausg. Berlin 1953, S. 591). Solche Wissenschaft hat mit Pionieren wie Galilei und Bruno begonnen.
Da wir Brunos „zahllose Welten“ noch im Ohr haben, können wir uns an dieser Stelle fragen, ob etwa gerade in der Wissenschaft etwas liegt, wovon das Kapital ins Unendliche getrieben wird. Soweit ich weiß, ist Marx der Frage nirgends nachgegangen. Er inspiriert aber zu einer bejahenden Antwort, wenn er in den „Grundrissen“ schreibt, dass die Maschine „am vollständigsten ihrem Begriffe [entspräche]“, wenn sie „ein perpetuum mobile [wäre]“ (a.a.O., S. 652).
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Der „Unternehmer“, wie er am Ende des 18. Jahrhunderts auftritt, ist die Synthese von Kapitalist und wissenschaftlich orientiertem Techniker. Er prägt im ganzen 19. Jahrhundert die „Akkumulationsgeschichte“ des Kapitals. Mit technischen Träumen, die es schon zu Brunos Zeiten gab – man denke an die Maschinen, die Leonardo da Vinci zeichnete, man gehe weiter zurück zu den Technik-Phantasien des Franziskaners Roger Bacon -, wird jetzt ernst gemacht. Warum gerade jetzt? Die allgemeinste Erklärung liegt vielleicht in der Gründung der USA. Diese bewirkte einerseits einen Aufschwung des englischen Handels, der das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Aufrüstung der englischen Handwerkerkunst weckte. Andererseits zog die amerikanische Revolution die französische nach sich. Mit dieser fielen in Kontinentaleuropa mentale Barrieren gegen das Projekt einer technischen Neuerschaffung der Welt. Der Ballonflug der Brüder Montgolfier wurde von vielen als das Symbol der französischen Revolution angesehen.
In England entstand ein Klima, in dem Unternehmer auf Wissenschafter zugingen und umgekehrt. Dies geschah häufig in gelehrten Gesellschaften, zum Beispiel der Literal and Philosophical Society in Manchester, wo man sich besonders für Chemie und Mechanik interessierte und einen Kurs über die Techniken des Bleichens, Färbens und Bedruckens von Baumwolle einrichtete. Die Existenz solcher Gesellschaften ist sicher vom Staat gefördert worden, der an allem, was mit den USA zusammenhing, und so auch mit dem diesbezüglichen Textilhandel, besonders interessiert war, schon weil er zunächst versuchte, die nordamerikanische Kolonie am Unabhängigwerden zu hindern. Der Beispiele für ein Zusammenwirken von Unternehmern und Wissenschaftlern gibt es viele, zum Beispiel konnte James Watt die Dampfmaschine nur deshalb vervollkommnen, weil er sich von den thermodynamischen Forschungen Joseph Blacks inspirieren ließ. (Louis Bergeron, Die Industrielle Revolution in England am Ende des 18. Jahrhunderts, in Fischer Weltgeschichte 26, Frankfurt/M. 1969, S. 13-30)
Im revolutionären Frankreich wird Henri Comte de Saint-Simon zum „utopischen Sozialisten“. Bloch sagt von ihm, er habe noch nicht zwischen Arbeiter und Unternehmer unterschieden (Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., S. 656). In der Tat geht sein Blick mehr aufs bevorstehende technische Paradies, das gemeinsame Produkt beider Klassen. Aber so „utopisch“ war er gar nicht. Bloch selbst unterstreicht, dass Pläne für den Suez- und Panama-Kanal zuerst von seinen Schülern ausgedacht wurden (a.a.O., S. 657). Saint-Simon ist vor allem deshalb interessant, weil er sowohl die Unternehmer als auch die Arbeiterbewegung inspirierte. Das letzte weiß man, er wird ja nicht erst von Bloch, sondern schon im Kommunistischen Manifest kritisch gewürdigt. Weniger bekannt ist das erste. Auf Saint-Simon berufen sich die Brüder Peronel, die in Frankreich eine große Bank zum Zweck der Kapitalausleihe an Industrielle gründen. Sie müssen diese neue Funktion einer Bank den traditionellen Banken erst aufzwingen und werden dabei von Louis Bonaparte unterstützt, der schon in seiner Jugend auf Saint-Simons Ideen gestoßen war. (Vgl. Patrick Verley, Kapitel 2 und 4 in Fischer Weltgeschichte 27, Frankfurt/M. 1974, S. 113 ff., 122, 252)
In Deutschland, wie man weiß, werden Revolutionen erst einmal gedanklich ausgetragen. Da sieht man umso deutlicher, dass all die technischen und unternehmerischen Erfindungen Bruchstücke einer großen Konfession sind: „All jene […] verwüstenden Orkane“, lesen wir bei Fichte, „jene Erdbeben, jene Vulkane können nichts anderes sein, denn das letzte Sträuben der wilden Masse gegen den gesetzmäßig fortschreitenden, belebenden und zweckmäßigen Gang […] – nichts, denn die letzten erschütternden Striche der sich erst vollendenden Ausbildung unseres Erdballes“; „jene Ausbildung muss endlich vollendet, und das uns bestimmte Wohnhaus fertig werden“. „Im Andrange der Not zuerst geweckt, soll späterhin besonnener und ruhig die Wissenschaft eindringen in die unverrückbaren Gesetze der Natur“, und so soll „die erleuchtete und durch ihre Erfindungen bewaffnete menschliche Kraft […] ohne Mühe dieselbe beherrschen, und die einmal gemachte Eroberung friedlich behaupten. Es soll allmählich keines größern Aufwandes an mechanischer Arbeit bedürfen, als ihrer der menschliche Körper bedarf zu seiner Entwicklung, Ausbildung und Gesundheit, und diese Arbeit soll aufhören Last zu sein; – denn das vernünftige Wesen ist nicht zum Lastträger bestimmt.“ (Die Bestimmung des Menschen, erschienen 1799/1800, zitiert aus Werke I, hg. von Wilhelm G. Jacobs, Frankfurt/M. 1997, S. 323 f.)
Wir sehen alles in allem, dass der entwickelte Kapitalismus keineswegs mit blinder Gleichgültigkeit gegen den Gebrauchswert der Produkte beginnt. Im Gegenteil, er wurde von Unternehmern getragen, die ein populäres Gebrauchswertprogramm zu realisieren versuchten. Hätten damals allgemeine, freie und gleiche Wahlen über den einzuschlagenden Produktionsweg stattgefunden, es ist gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass gerade dieses Programm gewählt worden wäre. Mit andern Worten, nicht freie Konsumwahlen waren es, an denen es damals vor allem anderen mangelte. Marx kritisiert denn auch nirgends das Gebrauchswertprogramm. Warum sollte er? Er glaubt ja ebenso wie Fichte, dass es darin besteht, eine Eroberung „einmal“ zu machen. Auch ihm geht es darum, die Bildung der Erde zu „vollenden“. Und nicht darum, die Erde unendlich umzubilden. Da er aber sieht, dass das Gebrauchswertprogramm unter der Leitung von Kapitalisten realisiert wird, die zwanghaft ins Unendliche streben, weiß er, es kann mit einer „Vollendung“ nicht aufhören, sondern verhält sich wie der Besen des Zauberlehrlings bei Goethe.
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Die kapitalistische Leitung, zunächst segensreich für die Produkte, wenn auch nicht für die ausgebeuteten Produzenten, wird spätestens nach jener „Vollendung“ zur Last. Dann muss man sie abschütteln. Denn das vernünftige Wesen ist nicht zum Lastträger bestimmt. Das heißt nicht, dass sich danach gar nichts mehr weiterentwickeln soll. Aber die Weiterentwicklung wird nicht den „Flug ins Unendliche“ fortsetzen, sondern wenn das saint-simonistische Programm seine guten Gründe hatte, wird man auch nur aus guten Gründen über es hinausgehen – nicht ins Unendliche, sondern fallweise.