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Ich war zuletzt „bei den Anfängen“ der Entwicklung zum Kapitalismus angelangt: bei Cusanus. Also nicht irgendein Kaufmannskapitalismus, auch keine plötzlich verfügbaren Arbeiter neben hohem Kaufmannsvermögen sollen hier als „die Anfänge“ gelten, weil all das schon vorkapitalistisch vorgekommen war, auch außerhalb Europas sogar, ohne eine kapitalistische Entwicklung eingeleitet zu haben. Freilich sind es die wesentlichen Kapitalingredienzien. Doch um sie so zusammenschießen zu lassen, dass Kapitallogik daraus werden konnte, hatte noch ein „intellektueller Faktor“ hinzutreten müssen. Das soll nun nicht heißen, dass wir ihn in der cusanischen Philosophie schon hätten. Denn nicht so sehr seines intellektuellen Gehalts wegen ging Cusanisches in die Entwicklung, die zum Kapitalismus führte, ein, sondern nur deshalb, so sahen wir zuletzt, weil der Kardinal einer von denen war, die „flohen“. Giordano Bruno, der anderthalb Jahrhunderte später auch „floh“, konnte da gut auf ihn zurückgreifen. Das Mittelalter hatte sich in der Krise erschöpft. Viele ganz neue Fluchtwege wurden im 15. und frühen 16. Jahrhundert probiert. Ich habe als weiteres Beispiel Kolumbus genannt. Die meisten dieser Wege waren nicht so abstrakt-theoretisch wie der cusanische, der den Aufstieg zu Gottes Unendlichkeit bahnte.
Den Beteiligten selber erschien die Flucht als Aufbruch. Es war ja auch möglich, dass sie einer war, man braucht nur an Aeneas zu denken, den Flüchtling aus Troja, der die Stadt Alba Longa gründete. Aus Alba Longa ging Rom hervor. Dort kam er an, also war er dorthin aufgebrochen. Die Flüchtlinge der frühen Neuzeit glaubten wohl gar, die Ankunft sei nahe. „Advent“, schreibt Ernst Bloch, „ist das politisch-religiöse Licht um die so mannigfache Erregung von Rienzo bis Petrarca, von Münzer bis Grünewald, selbst Dürer, und ist das Maritime um Kolumbus“ (Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1967, S. 905). Tatsächlich kam die begonnene Fahrt aber nirgends zum Ziel. Was immer man sich während der Fahrt einredete, führte sie weder nach Indien noch zum antiken Rom zurück. Die „Renaissance“ erscheint uns heute eher als Aufbruch denn als Flucht, weil wir die starken Städte wie Florenz, die großen Kunstwerke und stolzen Medici, von denen einer sogar Papst wurde, vor Augen haben. Doch alles geschah in Italien, das sich in angespanntester Lage befand. Die Hoffnung war verzweifelt und wurde schließlich enttäuscht. In Botticellis letzten Bildern ist der Horizont vermauert, der sich vorher so weit geöffnet hatte. Dies war eben auch die Zeit Machiavells, der meinte, wenn einem das Wasser bis zum Hals stehe, sei jedes Rettungsmittel erlaubt.
Kurzum, in „den Anfängen“ spielt der intellektuelle Entstehungsfaktor kaum eine Rolle. Denn g e f l o h e n w ä r e n s i e o h n e h i n , ob künstlerisch, philosophisch, machiavellistisch, ob mit cusanischer, kolumbischer oder müntzerischer Rationalisierung, gleichviel. Man kann sagen, das Intellektuelle wird erst später zum wesentlichen Faktor, erst durch seinen Niedergang und Tod, erst in der geronnenen Diskursform nämlich. Dieser Tod teilt sich mit und Spinoza schreibt ihn auf. In seiner Zeit muss man bereits gespürt haben, dass auf Flucht immer nur Flucht folgte. Also schien Flucht selber dasselbe wie Ankunft zu sein. Der nicht endende Fluchtweg war als „die Unendlichkeit“ schon das Fluchtziel.
Indem das „erkannt“ wurde, war nur leider das lösungsbedürftige Problem vergessen. Verschollen die cusanische Argumentation und was zu ihr geführt hatte! Nur eine kaum lesbare Formel blieb übrig: „das höchste Wesen, dessen Essenz zugleich Existenz ist“. Man nannte es „die Natur“, denn schon die Scholastiker hatten von der „Natur Gottes“ gesprochen, und deren Struktur, Essenz und Existenz, war nun eben das, was man gerade noch erinnerte. Wie es bei Eliot heißt: These fragments I have shored against my ruins. „Diese Scherben hab ich gestrandet, meine Trümmer zu stützen.“ Später gerieten auch Essenz und Existenz in Vergessenheit oder wurden zur Spezialistensache. Zuletzt war nur noch „die Natur“ zu sehen. Was sieht man eigentlich, wenn man „die Natur“ sieht? Wahrscheinlich Hunde, die sich beriechen? Die Natur des Kapitals jedenfalls, die heute immer noch darin besteht, dass Essenz und Existenz zusammenfallen (darin, dass der unendliche Mehrwert entsteht, seinen Schatten vorauswirft, sich „aufbaut“, könnte man sagen, wie eine langsame Webseite), sieht man nicht.
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Ich möchte andeuten, wie sich der Vorgang vielleicht verallgemeinern ließe. Es könnte sich um jene Entstehungsfigur handeln, deren Logik Freud und Deleuze/Guattari beschreiben. Verschiedene Namen, die verschiedene Aspekte betonen, sind Entstehung eines „Über-Ich“ (Freud), eines „organlosen Körpers“, einer „Aufzeichnungsfläche“ (Deleuze/Guattari im Anti-Ödipus, Frankfurt/M. 1974). Zwei Vorstellungen fließen hier zum einheitlichen Modell zusammen: einmal die einer wuchernden Entwicklung, deren Auswüchse so zahlreich und so dicht werden, dass man sie zuletzt nicht mehr auseinanderhalten kann; sie nähern sich einer Ununterscheidbarkeit, auf der man „neu“ zu schreiben beginnt, weil man glauben will, da sei gar nichts außer leerem Papier. Das Papier ist aber so wenig leer, dass es in Wahrheit die Feder führt. Hier kommt die andere, Freudsche Vorstellung ins Spiel: Die Tendenz zur Ununterscheidbarkeit ist Folge einer Katastrophe, die verdrängt werden musste; aber das Verdrängte ist nicht verschwunden, sondern hat als undurchschautes „Über-Ich“ die Macht ergriffen.
Lässt sich so die Entstehung des Kapitals modellieren? Es wird der neuen Aufzeichnungsfläche einer „Neuzeit“ eingeschrieben. Einem Papier, das nicht nur geduldig ist, sondern heimliche Eigenschaften hat, die das Kapital, weil es sich dort nun einmal schreibt, zur eigenen Logik erheben muss. Die unendliche Essenz, die zum Existieren verdammt ist, diese Fluchtfigur, die man einst, wenn wir Blumenberg folgen, gegen göttliche Willkür ausgespielt hatte – sie hatte Gott berechenbar machen sollen -, wurde auf Umwegen zum „Über-Ich“ namens Kapital.
Auf Umwegen. Denn zunächst wurde die Figur vom Staat angeeignet, schon vor der Französischen Revolution. Das ist jetzt kurz zu betrachten. Danach fragen wir noch, ob die Fluchtfigur durch immanente Kritik und Auflösung in eine andere, bessere Orientierung überführt werden kann. Dies sind im Kapitel über den allgemeinsten Kapitalbegriff, das mit der 14. Notiz begann, die letzten Schritte.
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Dass der Staat hier zugriff, ist gar nicht erstaunlich, denn die in Rede stehende Figur war ja eine der Allmacht. Was konnte ihm begehrenswerter sein? Hemmungslos war schon der amerikanische Goldrausch, der vom spanischen Staat gefördert wurde, allerdings war darin die neue Figur noch nicht wirksam. Während die spanische Regierung halbherzig den amerikanischen Genozid einzudämmen versuchte, lag dieser in den Händen losgelassener Desperados, europäischer Individuen, und machte ganz von selbst Fortschritte. Mit dem vielen Gold, das der spanische Staat bekam, konnte er letztlich nicht viel anfangen, denn die europäischen Kaufleute spielten Katz und Maus mit ihm, Braudel hat das dargestellt (Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. Zweiter Band, Frankfurt/M. 1990, S. 187 ff.).
Auch die Händler-Stadtstaaten wie Genua und Venedig, deren größte Zeit nun erst begann, zeigen noch keine „cusanischen“ Spuren. Die politische Logik, die damals in Italien erfunden wurde, war eine des Gleichgewichts der Mächte, und da stand sicher auch die Waage des Kaufmanns Modell. Nur ist ein Kaufmann noch kein Kapitalist und strebt der wahre Kapitalist nicht nach Gleichgewichten, sondern nach Extraprofiten und feindlichen Übernahmen. Man darf auch annehmen, dass Machiavelli nachgewirkt hat. Aber so fatal sein Diskurs vielen bis heute erscheint, war es kein Diskurs der unendlichen Allmacht. Nein, er sehnte sich zur antiken römischen Macht zurück. Indem er viel eher Maßnahmen der Machtsicherung als der Machteroberung vorschlug, erwies er sich gewiss als „bürgerlich“ denkender Mensch – „keinesfalls“, bleut er dem Herrscher auch ein, „darf er das Eigentum anderer antasten“ (Der Fürst, Stuttgart 1978, S. 69) -, deshalb aber noch lange nicht als frühkapitalistisch denkender Mensch.
Denn zur Unendlichkeit hat er gar keine Beziehung. Unendlichkeit ist Ziellosigkeit, er aber schreibt, und das ist ja gerade der „Machiavellismus“: „Ihr müsst euch nämlich darüber im klaren sein, dass es zweierlei Arten der Auseinandersetzung gibt: die mit Hilfe des Rechts und die mit Gewalt. Die erstere entspricht dem Menschen, die letztere den Tieren. Da die erstere oft nicht zum Ziele führt, ist es nötig, zur zweiten zu greifen. Deshalb muss ein Herrscher gut verstehen, die Natur des Tieres und des Menschen anzunehmen.“ (S. 71 f.) Nietzsche, der im Unendlichkeitsdiskurs denkt, hätte nicht geschrieben „da sie nicht zum Ziele führt“, sondern „da sie nicht zur Kraftentfaltung führt“: Sein „dionysisches“ Ideal waren Menschen, die am Ende zerbrechen, da, wo die Kraft am Ende ist. Bei ihm geht es nicht mehr um Ziele, wenn es ums Ende geht.
Sowohl der Gleichgewichtsdiskurs als auch der Diskurs der Wiedergeburt Roms haben bis ins 20. Jahrhundert nachgewirkt, wurden aber immer mehr zur Ideologie, hinter der sich ganz andere Triebkräfte der Staaten verbargen. Wenn jemand das Gleichgewicht so nackt über Bord warf wie Napoleon, waren freilich alle empört, aber der Imperialismus, in den sie sich wenige Jahrzehnte später stürzten, stellte Napoleons Machtstreben weit in den Schatten. Den Diskurs der Wiedergeburt Roms, den schon Marx als Maskerade verlachte (MEW 8, S. 115 f.), haben noch Mussolini und Hitler hochgehalten (Ivone Kirkpatrick, Mussolini, Berlin 1997, S. 150; Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt/M. Berlin Wien 1976, S. 148), aber wir haben schon gesehen (in der 27. Notiz), dass letzterer hinsichtlich der Kraftentfaltung wie Nietzsche dachte.
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Einen staatlich wirksamen Diskurs der unendlichen Allmacht finden wir zuerst im „Absolutismus“, jedenfalls im absolutistischen Frankreich. Ich brauche hier nur ein paar Sätze Michel Foucaults zu zitieren: „Mit der Entwicklung der Staatsraison“, schreibt er in der Zusammenfassung der Vorlesung „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“, „verschwand auch das Thema des Kaisers. Das Römische Reich brach endlich zusammen. Es entstand eine neue historische Wahrnehmung, die nicht mehr auf das Ende der Zeit und die Vereinigung aller partikularen Herrschaften im Reich der Endzeit ausgerichtet war, sondern sich einer unbegrenzten Zeit öffnete, in der die Staaten gegeneinander kämpfen mussten, um ihr eigenes Überleben zu sichern.“ So begann der Konkurrenz-Etatismus, bevor es noch den Konkurrenzkapitalismus gab. „Wichtiger als die Frage der legitimen Herrschaft über ein Territorium wurde hier das Problem, die Kräfte eines Staates zu erkennen und zu entwickeln“. Und so „wurde nun zum Hauptproblem die Dynamik der Kräfte und rationalen Techniken, die es gestatteten, dort einzugreifen“. (Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt/M. 2006, S. 522)
Deshalb „bildete“ aber „die Verbindung aus Bevölkerung und Reichtum […] zur Zeit des Merkantilismus und der Kameralistik das bevorzugte Objekt vernünftigen Regierens“: „Die Arbeit an diesem Problem der Bevölkerung und des Reichtums […] gehörte zu den Voraussetzungen für die Entwicklung der Politischen Ökonomie. Sie entstand, als man erkannte, dass die Verwaltung des Verhältnisses zwischen Ressourcen und Bevölkerung nicht mehr ausschließlich über ein erzwungenes Regelungssystem erfolgen konnte“ (S. 523), ein „freier Markt“, wie man das heute nennt, war besser. In dieser Zeit staatlicher Manufakturen und halbstaatlicher Handelsgesellschaften dominierte durchaus noch das „Regelungssystem“, doch alles lief nun darauf hinaus, aus Staatsraison das Kapital auf die Spur zu setzen (vgl. auch MEW 25, S. 793). Nun hatte also der Staat seine intellektuelle Reform erfahren. Das Weltbild der deistischen Philosophie war zum Weltbild des Staates geworden.
Übrigens war Frankreich, was den Aufschwung des Kapitalismus angeht, eher ein Nebengleis. Noch im 19. Jahrhundert ging es hier nicht so dynamisch voran wie anderswo, anscheinend gerade wegen der Großen Revolution, durch welche die französischen Bauern nach kapitalistischem Maßstab zu sehr gestärkt wurden. Ein weiterer Aspekt ist, dass der französische Absolutismus zwar die staatliche Dimension dessen, was wir mit Marx „das Kapital im allgemeinen“ nennen, entwickelt hat, weniger aber die naturwissenschaftliche Dimension, die auch nicht fehlen durfte. Für sie gab es im politisch freieren England bessere Bedingungen. Immerhin was den unverzichtbaren Mythos der Maschine angeht, verdankt der Kapitalismus Frankreich viel. Man darf nicht vergessen: Die Maschine als Komplexkörper (im Unterschied zu dem, was vormals „Maschine“ genannt worden war, Hebel, schiefe Ebene und so weiter) hatte zunächst nicht die unmenschliche Konnotation. Auch ein Musikorchester war eine Maschine, in gewisser Weise auch ein Ballett. Eine Maschine war dann auch, worauf Marx hinwies, die Manufaktur. Es ging jedesmal um quasi mathematisch genaues arbeitsteiliges Zusammenspiel menschlicher Elemente. Da hat Frankreich Einiges geleistet.
Schon Descartes wird falsch verstanden, wenn man heute glaubt, er habe „den Menschen als Maschine aufgefasst“, denn mindestens ebenso richtig ist es zu sagen, dass das, was er Maschine nannte, eben der Mensch war (vgl. Claus Zittel, Menschenbilder – Maschinenbilder. Ein Bilderstreit um Descartes‘ „De l’homme“, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5/2008). Aber es ist überhaupt so, dass wir hier an eine Konfusion rühren, dieselbe Konfusion, die auch das Nachdenken übers Kapital erschwert. Denn statt zu fragen, ob die Maschine menschlich oder unmenschlich ist, sollten wir lieber fragen, ob sie über Wahlfreiheit verfügt oder unter eben dem Zwang steht, der uns hier ständig beschäftigt. Eine Maschine, die das Gute wählen könnte statt des Bösen, wäre natürlich einem Menschen vorzuziehen, der nur „pflichttreu“ ist wie eine aufgezogene Uhr! (Thomas Mann: „Das Werk der Weckuhr schnappte ein und rasselte pflichttreu und grausam.“)
Die aufgezogene Uhr war das damals bestaunte Wunderwerk. Sie hatte zwar keine menschliche, dafür aber eine göttliche Konnotation, denn sie illustrierte aufs Beste – in ihrem „Zwang, alles zu tun, was möglich ist“ – den deistischen und spinozistischen Gott.
Bleibt England, dazu die nächste Notiz.