(29) Wissen ist Macht

4. Die Herkunftsfigur kapitalistischer Endlosigkeit von Cusanus bis zur Industriellen Revolution / Zweiter Teil – Die historische Besonderheit des Kapitals im Allgemeinen

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Bei der Suche, wie ein gewisser neuzeitlicher Allmachtsdiskurs, in den sich der Zwang einschreibt, „alles Unendliche zu tun, das möglich ist“, zur Kapitallogik hat werden können, waren wir zuletzt auf die Vermittlungsrolle des absolutistischen Staates gestoßen. Michel Foucault zufolge entstand hier ein neuer Eifer, alle verfügbaren Kräfte zu erfassen und um der Staatraison willen total auszureizen. Einer „neue[n] historische[n] Wahrnehmung“ habe er sich verdankt, „die nicht mehr auf das Ende der Zeit und die Vereinigung aller partikularen Herrschaften im Reich der Endzeit ausgerichtet war, sondern sich einer unbegrenzten Zeit öffnete“ (Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt/M. 2006, S. 522). Foucaults Werk ist leicht zugänglich und allemal lesenswert, ich konnte daher auf eine detailliertere Erörterung verzichten. Nur um den Stellenwert deutlich zu machen, sei hier noch ergänzt: Dieselbe Figur der Erfassung und Ausreizung von Kräften hatte Foucault schon vorher behandelt als die neue ökonomische „Disziplin“, die im 18. Jahrhundert entdeckt worden sei. Gerade auf die Art, wie die Figur in die Ökonomie gelangte, und zwar vom Staat her, war er zuerst aufmerksam geworden.

Dazu lesen wir nämlich schon in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1977: „Die ‚Erfindung‘ dieser neuen politischen Anatomie ist nicht als plötzliche Entdeckung zu verstehen. […] Man findet sie sehr früh in den Kollegs; später in den Elementarschulen; sie haben langsam den Raum des Spitals eingekreist; und binnen weniger Jahrzehnte haben sie das Militärwesen umgestaltet […]; manchmal wanderten sie langsam und diskret (schleichende Militarisierung der großen Werkstätten).“ (S. 177) Man findet sie, anders gesagt, erst im einen, dann im andern Staatsapparat und zuletzt in der Ökonomie, den „großen Werkstätten“ (Manufakturen), die damals nicht schon privatisiert, sondern ebenfalls noch staatlich sind. Jedesmal geht es darum, den Körper „im Detail zu bearbeiten; auf ihn einen fein abgestimmten Zwang auszuüben; die Zugriffe auf der Ebene der Mechanik ins Kleinste gehen zu lassen: Bewegungen, Gesten, Haltungen, Schnelligkeit. Eine infinitesimale Gewalt über den tätigen Körper.“ (S. 175)

Unter Disziplin stellt man sich sonst etwas wie Selbstbeherrschung vor, also dass man nicht mehr als nötig isst, nicht zu spät ins Bett geht und so weiter. Was Foucault als „Disziplin“ bezeichnet, ist das Gegenteil davon. Hier werden dem Körper nicht bloß Grenzen gesetzt – das auch -, sondern er wird zur Entgrenzung gezwungen.

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So viel zum Absolutismus. Doch nicht in Frankreich oder Preußen, sondern im nichtabsolutistischen England ist der Industriekapitalismus entstanden. Wie kam es dazu? Wenn wir weit zurückgehen, stoßen wir auf ein Wort, das dem zeitweiligen Lordkanzler Francis Bacon (1561 bis 1626) zugeschrieben wird: „Wissen ist Macht“. Er selbst schreibt: „Wissen und Können fällt bei dem Menschen in Eins, weil die Unkenntniss der Ursache die Wirkung verfehlen lässt. Die Natur wird nur durch Gehorsam besiegt; was bei der Betrachtung als Ursache gilt, das gilt bei der Ausführung als Regel.“ (Novum Organon Aph. 3) Kürzer sagt es sein Zeitgenosse Campanella: tantum possumus, quantum scimus. „Wir können so viel, wie wir wissen.“ Nun gut, das hat schon immer gestimmt. Aber hier ist es ein Element in einem besonderen Diskurs.

Bacon bringt eine neue „induktive Gesinnung“ ein, die zum Markenzeichen europäischer Wissenschaft werden wird: „Fortschritt, mit unendlicher Heilserwartung“ verbunden, ist die neue Orientierung (so Klaus Heinrich, tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik, Basel Frankfurt/M. 1981, S. 112 ff.). Induktion, der Schluss vom Einzelnen aufs Allgemeine, hatte vor der Renaissance als minderwertig gegolten, während die technische Heilserwartung selber nicht neu ist, wir treffen sie schon bei Bacons Namensvetter, dem Franziskaner Roger Bacon an. Die Schwäche der Induktion war seit Aristoteles bekannt: Zur sicheren Schlussfolgerung könne sie nur dann führen, wenn ausnahmslos alle Einzelheiten bekannt würden, aus denen sich ein Allgemeines zusammensetze (Erste Analytik 68b, bei Heinrich S. 89). Doch wenn man geglaubt hatte, eine solche Herbeiführung sei meistens unmöglich, hatte man sich getäuscht.

Die wahre Erklärung der Natur, sagt Bacon nämlich auch, vollzieht sich nur durch Einzelfälle „und passende Versuche“, also Experimente, die „über die Natur und den Gegenstand selbst das Urteil sprechen“ (Aph. 50). Da nun jedes Experiment Produktion ist, manchmal gigantische – man denke nur an CERN -, kann man im Anschluss an Bacon auf die Idee kommen, umgekehrt sei das Produzieren ein ständiges Experimentieren und die beste Methode der Naturerklärung. Wie es Friedrich Engels in Worte fassen wird: „Wenn wir die Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsern Zwecken dienstbar werden lassen […].“ (MEW 21, S. 276) Er ist bestimmt nicht der einzige, der so denkt, und es handelt sich bestimmt nicht um eine Haltung speziell von Marxisten. Eine Sache ist erkannt, wenn sie produziert werden kann: Dies  i s t  die Erkenntnis des Allgemeinen aus seinen sämtlichen Einzelheiten. Wenn auch nur eine fehlt, funktioniert es nicht. Es ist Induktion statt Deduktion, schlusssicher durch Produktion.

Diese Formel benennt einen Zusammenhang von Naturwissenschaft und Technik: Alles, was man erkennen will, muss man „herbeiführen“, und zwar nicht bloß logisch, sondern praktisch.  D e s h a l b  liegt es „im Wesen der Wissenschaft […], jeden einmal eingeschlagenen Weg bis an sein Ende zu verfolgen“, wie wir bei Hannah Arendt gelesen haben (in der 26. Notiz). Wir können so viel, wie wir wissen, sagt Campanella; aber das Umgekehrte gilt auch: Wir wissen so viel, wie wir können; aber was wir können, zeigt sich erst durch unser Tun; also wissen wir desto mehr, je mehr wir alles verwirklichen, was möglich ist. Was heißt aber „alles“? Werfen wir einen Blick aufs Titelbild des Novum Organon in der Erstausgabe (1620): Da hat ein Schiff die Säulen des Herkules passiert, nimmt Kurs auf den grenzenlos scheinenden Ozean. Es ist der Kontext von Kolumbus, ins Wissenschaftliche gewendet. Noch Nietzsche wird sich daran erinnern (vgl. 24. Notiz). Die Botschaft ist klar: Der Prozess der theoretischen Neugierde geht immer weiter, mag er auch darauf aus sein, neue Ufer zu entdecken. Das zu erkennende „alles“ – das „All“ – ist unermesslich.

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Die Idee der Ausreizung der Wissensmöglichkeiten bleibt nicht auf Bacon beschränkt. Sie ist Englands wichtigster Beitrag zur Entstehung des Kapitalismus. Wir haben ja gesehen, von entwickeltem Kapitalismus kann erst da die Rede sein, wo Naturwissenschaft in die Kapitallogik eingespeist wird. Anders wäre „relativer Mehrwert“, Mehrwert aus dem Ersatz menschlicher durch Maschinenarbeit, nicht denkbar. Wir haben auch erfahren, wie es in England zur industriellen Revolution kam: dadurch, dass Handwerker-Unternehmer und Naturwissenschaftler kooperierten (vgl. 15. Notiz).

Und jetzt sehen wir, die Kapitallogik ist in einer bestimmten naturwissenschaftlichen Logik schon vorgezeichnet, genauso wie sie in einem bestimmten staatlichen Allmachtsdiskurs vorgezeichnet ist. Das Kapital, sagt Marx, hätte am liebsten „den unendlichen Mehrwert at once“: Dem entspricht, dass Staaten die Körperkräfte optimieren und Gelehrte in den Ozean des Wissens stechen, Dinge, die sich ereignen, lange  b e v o r  es Kapital gibt. Das ist ein Kausalzusammenhang: Nur wenn ein Staat solcher Art, eine Naturwissenschaft solcher Art mitspielen, kann das von Marx analysierte „Kapital im allgemeinen“ entstehen (vgl. 17. Notiz), und nur wenn „Kapital“ dieser allgemeine gesellschaftliche Sachverhalt ist, sind Einzelkapitale möglich, Unternehmer als Kapitalisten. Dass die Naturwissenschaft mitspielt, ist vor allem England zu verdanken.

Aber warum England? Es hatte sich schon in der mittelalterlichen Scholastik angebahnt. Da wurde nämlich der „Nominalismus“, die Lehre, dass es Allgemeines nur im menschlichen Kopf gebe, während die Wirklichkeit nur aus Einzelheiten bestehe, von englischen Franziskanern hochgehalten. Es ist diese Lehre, die den Franziskaner Wilhelm von Ockham zu der Behauptung veranlasst, man würde Gottes Allmacht einschränken, gäbe man ihm nicht das Recht, mit beliebigen Einzeltaten („Wundern“) in den Weltlauf jederzeit einzugreifen. Wir haben gesehen, dass Hans Blumenberg hierin den Skandal sah, durch den Renaissance-Denker wie Cusanus zum neuzeitlichen Befreiungsschlag veranlasst wurden (vgl. 26. Notiz). Neuzeitlich war jedoch auch die eigene englische Reaktion, die darin bestand, dies Recht, das Ockham Gott zusprach, vielmehr der Natur zuzusprechen. Die Natur hat seit Francis Bacon das Recht, mit ihren Einzelheiten, der experimentell herstellbaren und so erfahrbaren „Empirie“, in die uns vorschwebenden allgemeinen Naturbilder jederzeit einzugreifen und sie gegebenenfalls zu stürzen.

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Wissenschaft ist nicht nur Empirie, auch die ebenso neue Unendlichkeits-Mathematik muss in sie eingehen. Der hatte Cusanus vorgearbeitet. Die Verbindung ist entscheidend. Bei Isaak Newton ist sie voll ausgebildet. Was Newton unter Wissenschaft versteht, verstehen wir noch heute darunter, auch wenn sein „Paradigma“, wie man heute sagt, durch Einsteins „wissenschaftliche Revolution“ überholt wurde. Man muss aber auch sagen, dass seine Wissenschaft noch eine Mischform alter und neuer Diskurse ist, insofern als er explizit theologisch argumentiert, während man sich heute einbildet, Wissenschaft und Theologie hätten gar nichts miteinander zu tun. Zu seiner Zeit pflegten die Gelehrten einander noch falsche Gottesbilder vorzuwerfen. So meinte Newton, Descartes‘ Philosophie führe zu atheistischen Konsequenzen, weil Gott in ihr nur anfangs, nicht ständig die Welt erschaffe. Um es besser zu machen, führte er zum Beispiel die Gravitation ein, die, wenn es sie gäbe, ein nicht materielles aktives Prinzip wäre, das sich über große räumliche Distanzen hinweg auswirkt (vgl. Wolfhard Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, Göttingen 1991, S. 66 f.). Als er dies indessen zuende dachte und den Raum das sensorium Dei nannte, warf ihm wiederum Leibniz vor, er sei ein Pantheist. So kam es zum Streit zwischen Leibniz und Clarke. Clarke verteidigte Newton mit der Behauptung, der Raum sei dasselbe wie Gottes Unermesslichkeit (immensitas), und Newton fügte hinzu, die Zeit sei ebenso unermesslich. (Vgl. Bd. 1, Göttingen 1988, S. 446 f.)

Dass die Engländer Raum und Zeit unermesslich statt unendlich nennen, ist bezeichnend. „Unermesslich“ heißt, es ist unmöglich, ein Ende abzusehen. „Unendlich“ heißt,  e s  g i b t  kein Ende. Das erste kann Newton als Empiriker behaupten, das zweite nicht. In der weiteren Entwicklung der Wissenschaft gerät die kleine Nuance in Vergessenheit, auch wenn Kant sie wieder anzumahnen versucht. Kant, der sich von einem anderen Empiristen, David Hume, in seinem „dogmatischen Schlummer“ unterbrochen sah! Da ich schon einmal dabei bin, Zusammenhänge anzudeuten: Hume weist den Diskurs der Unendlichkeit, der ihm in Gestalt der Idee der unendlichen Teilbarkeit begegnet, ausdrücklich zurück (vgl. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1993, S. 182 ff.) Hume und Adam Smith bilden philosophisch wie ökonomisch eine einzige Schule, abgesehen davon, dass sie auch Freunde sind. Wenn Marx dem Kapital eine Unendlichkeitsstrategie zuschreibt, hat er das nicht bei Smith gefunden.

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Ich habe gesagt, die Kapitallogik ist „in einer bestimmten“ naturwissenschaftlichen Logik vorgezeichnet. Worin liegt diese Bestimmtheit? Das würde ich gern klar angeben können, damit nicht der Eindruck entsteht, ich wolle „die Wissenschaft“ kritisieren. Davon bin ich nämlich weit entfernt. Wenn ich Hannah Arendt zustimme: Jeden Weg bis ans Ende zu verfolgen, liege im Wesen „der Wissenschaft“, dann mit der stillschweigenden Einschränkung, es sei hier von einer Wissenschaft mit Muttermalen die Rede – mögen es auch welche sein, von denen sie bisher ständig gezeichnet war.

Zum Beispiel, es spricht gar nichts dafür, das wissenschaftliche Experiment zur Rechtfertigung des Produzierens überhaupt, sie sei ja immer auch ein Experimentieren und diene also der Erkenntnis, weiterzudenken. Das liegt nicht in „der Wissenschaft“, sondern davon wird sie heimgesucht, wenn sie in jener Logik der Flucht befangen ist, die wir als Geisteshaltung im Ausgang des Mittelalters diagnostiziert haben (vgl. 27., 28. Notiz) und die sich im Lauf der Neuzeit zur Kapitallogik verdichtet.

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Wissenschaft ist eine Veranstaltung, Behauptungen empirisch zu prüfen und in logisch kohärenten Zusammenhang zu bringen oder so von vornherein vorzutragen. Behauptungen, die diesen beiden Anforderungen genügen, sind „Aussagen“. Wissenschaftliche Theorien bestehen aus Aussagen. Hieran ist absolut nichts zu kritisieren. Deshalb ist absolut nichts an „der Wissenschaft“ zu kritisieren. Aber eine Aussage fällt nicht vom Dach herunter. Sie muss vielmehr geantwortet werden, auf eine Frage. Eine Frage zu kritisieren, das möchte schon manchmal sinnvoll sein. Zum Beispiel die Frage, wie man Fluchtwege zum Himmel findet oder allererst produziert.

Die bisherige Naturwissenschaft „ist“ kein endloser Wissenstrieb, aber  s i e  f r a g t  weithin nach dem Endlosen: Das ist es, worüber kritisch debattiert werden sollte. Denn nicht durch die allgemeine Tatsache, dass es Naturwissenschaft gibt, sondern durch diese ganz bestimmte Frage kann sich das Kapital getragen fühlen. Zum Beispiel Newtons Gravitationsbehauptung: Da hätte nicht nur die logische Stimmigkeit und empirische Richtigkeit geprüft werden sollen, sondern schon die zugrunde liegenden Frage zurückzuweisen, wie Gott in seinem unermesslichen Sensorium die Schöpfung fortsetze, wäre möglich gewesen. Da hätte man nicht auf Einstein warten müssen. Man muss solche Wege nicht bis zum bitteren sei’s logischen oder empirischen Ende aushalten. Vom Kapital gilt das ja auch: Es „ist“ keine unendliche Bewegung, es nähert sich nicht wirklich „dem unendlichen Mehrwert“. Aber  e s  f r a g t  danach. Es wird deshalb so lange weitermarschieren, bis entweder „alles in Scherben fällt“ oder man dahin gelangt, die Frage selber ans Licht zu ziehen, grell auszuleuchten und im öffentlichen Bewusstsein zu diskreditieren.