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Am Ende der vorigen Notiz wurden zwei Arten, die Kategorien Möglichkeit und Wirklichkeit ins Verhältnis zu setzen, unterschieden, und ich habe behauptet, die eine Art laufe auf die unendliche Selbstverwirklichungslogik des Kapitals hinaus, aus der andern aber lasse sich hierzu auf abstraktester Ebene ein Gegenprinzip gewinnen:
Die Logik des Kapitals war uns schon länger als der „Zwang, alles zu tun, was möglich ist“, erschienen, wobei wir zu unterstellen hatten, dass es unendlich viele Möglichkeiten gab. Die Befassung mit dem Begriff, den sich Cusanus von Gott als der seienden unendlichen Möglichkeit machte, ließ uns zuletzt noch den Zusammenhang zwischen dieser Vorstellung von „allem Unendlichen, das möglich ist“, und der Annahme sehen, dass es ein Mögliches vor jeder Wirklichkeit geben könne. Dies Mögliche müsste ja die Möglichkeit der Wirklichkeit überhaupt sein, eben von „allem“, und dann bräuchte man sich, wie ein Rückblick auf Aristoteles zeigte, über seine Unendlichkeit nicht zu wundern. Als Aristoteles von der Unendlichkeit des Möglichen sprach, wollte er nur zum Ausdruck bringen, dass alles noch Unverwirklichte unter dem Vorbehalt des Mehr oder Minder steht – der Schneeball, den ich backe, w i r d einen Umfang haben, welchen aber genau, k a n n man nicht sagen (das Unendliche, sagt Aristoteles, ist begrifflich „zu fassen […] als noch fehlende Bestimmtheit“, es kommt „nur in der Weise der Möglichkeit vor“ und dort „in der Weise von Hinzusetzung“: Physik 207b, 206a) -; wendet man das auf eine Gesamtmöglichkeit an, die einer Gesamtwirklichkeit gegenübersteht wie Gott der Schöpfung in den theologischen Systemen, dann muss sich die bloße Ungenauigkeit des Mehr oder Minder in jene Gesamtunendlichkeit verwandeln, die wir heute zwischen Urknall und Entropie, Milchstraße und Elementarteilchen gedanklich durchqueren und darüber noch hinaus- wie dahinter zurückstreben.
Dem sollte nun folgendes Gegenprinzip konfrontiert werden: Dafür, dass eine Möglichkeit entstehen kann, ist Wirklichkeit immer schon vorausgesetzt – die Wirklichkeit selber, könnte man sagen, stellt sich als Möglichkeit der Möglichkeit heraus -; nun aber, wenn „das möglich Gewordene selbst wieder verwirklicht wird, entsteht eine wieder neue Möglichkeit, die auch verwirklicht werden kann, und so immer fort“. Ich verwies darauf, dass in einer solchen Kette nur einzelne Möglichkeiten vorkommen, die immer begrenzt sind, entsprechend den Wirklichkeiten, aus denen sie entspringen.
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Aber war denn damit die Logik des Unendlichen schon gebrochen? Ein Gegenprinzip zum Unendlichen, das in die Worte „und so immer fort“ ausläuft, schafft auf den ersten Blick wenig Vertrauen. Die einzelne Möglichkeit und Wirklichkeit, denkt man, mögen endlich sein, doch dafür ist eben ihre Kette unendlich. Eine solche Kette ist ja auch das Kapital, wie wir selbst festgestellt haben: Da es nicht seine Gesamtmöglichkeit „at once“, wie Gott, in seine Gesamtwirklichkeit umsetzen kann, geht es ersatzweise Schritt für Schritt voran. Ich bleibe trotzdem bei meiner Behauptung.
Aus drei Gründen. Erstens, es liegt zwar im Begriff einer Gesamtmöglichkeit, die sich zur Gesamtwirklichkeit verwirklicht, dass sie sich ins Unendliche verwirklichen muss, eben weil sie schon selber die Eigenschaft hat, unendlich zu sein. Es liegt aber nicht im Begriff der Kette von Einzelwirklichkeiten und -möglichkeiten, die einander ablösen, dass sie unendlich fortzulaufen hat. Eine solche Kette muss vielleicht nicht, aber „kann“ an ein Ende gelangen. Der Grund ist, dass sie j e d e r z e i t aufhören kann, beim Erreichen jeder Einzelwirklichkeit. Dies führt zur zweiten Begründung:
Wir stellen fest, dass es in den einzelnen Abschnitten der Kette, und aus solchen besteht sie nur, den Drang, ins Unendliche zu gehen, gar nicht geben kann. Denn jede Einzelmöglichkeit kann bei vollster Ausschöpfung nur bis zur Einzelwirklichkeit verwirklicht werden. Die Einzelwirklichkeit ist für die Einzelmöglichkeit „alles“, daher ist der Drang mit ihrer Verwirklichung erschöpft. Dasselbe von der andern Seite gesehen, eignet jeder Wirklichkeit, wenn sie einmal da ist, eine Beharrungskraft. Bis nämlich sichtbar wird, was sie selbst wieder ermöglicht, vergeht Zeit, und w e n n es sichtbar wurde, ist nicht deshalb schon entschieden, dass die neue mögliche Wirklichkeit der vorhandenen den Rang abläuft.
Zum Beispiel, ich konnte dieses Buch lesen und habe es getan. In ihm sind andere Bücher benannt, von denen ich nichts wusste und die ich nun auch lesen könnte. Aber darin, dass ich es könnte, liegt nichts, was mich dazu auch treibt. Mag sein, dass mich die andern Bücher später ebenfalls beschäftigen, doch im Moment fehlt jeder Anlass, und wer weiß, ob er nicht immer fehlen wird? Es gibt zwar Verwirklichungsketten, die triebhaften, bei denen sich der Anlass immer erneuert. Eine Ökonomie könnte aber so eingerichtet sein, dass sie eher den Lektüreketten als den Triebketten ähnelt.
Drittens, unsere Ausgangsfrage war doch gewesen, wie die unendliche Bewegung, „die uns aus der Enge befreit hat, denn gestoppt werden kann, ohne dass wir uns einer neuen Enge fügen“. Nun haben wir die Antwort, dass die Bewegung, die zwanghaft ins Unendliche geht, durch eine Bewegung ersetzt werden kann, bei der nach Anlass immer neu entschieden wird, ob sie weitergehen soll oder nicht. Weil auch dies noch entscheidbar geworden ist, ist die zweite Bewegung sogar weniger eng als die erste. Dass auch die Kette der Einzelwirklichkeiten und -möglichkeiten „so immer fort“ geht, ist also gerade ihre Stärke und nicht, wie wir zuerst dachten, ihre Schwäche. Denn es bedeutet, dass sie zu keiner Enge führt, ohne deshalb unendlich sein zu müssen.
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Hier muss nun endlich auffallen, wie bedeutsam und folgenreich die Konfusion ist, die allein schon in dem Ausdruck „Unendlichkeit“ liegt. Wir haben es gestreift, als wir bemerkten, dass Aristoteles im Unendlichen gleichsam nur die Ungenauigkeit sieht, das Mehr oder Minder. Aber neben diesen beiden Unendlichkeitsbegriffen, dem nahen der Ungenauigkeit und dem fernen, der noch hinters Sternenzelt greift, haben wir jetzt einen dritten, den des Un-Endes, wie ich ihn nennen will. Als Un-Ende stellt sich jede Sequenz der Kette der Einzelwirklichkeiten und -möglichkeiten dar, denn es hat immer eine vorausgegangene Sequenz gegeben, die beendet und überschritten wurde.
Wir haben also zwei Begriffe der Unendlichkeit von einen weiteren Begriff des Un-Endes unterschieden, oder anders: Wir sind auf diesen allgemeinen Begriff des Un-Endes gestoßen, der sich dreifach konkretisiert. Die Schlussfolgerung ist, dass in unserer Ablehnung einer der Konkretisierungen – der „fernen“ Unendlichkeit (der Kapitallogik, die wir auf gar keinen Fall als ökonomische Bewegungsform anerkennen) – nichts liegt, was uns veranlassen müsste, den allgemeinen Begriff des Un-Endes und seine beiden anderen Konkretisierungen ebenfalls abzulehnen. Auf ihm beharren wir, weil er das Gegenteil von Enge artikuliert.
Der nächste Schritt ist, dass wir den metaphysischen Schleier dieser Begriffswelt des Möglichen und Wirklichen abstreifen.
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An Cusanus haben wir bewundert, dass er das Sein der unverwirklichten Möglichkeit als solches festhielt. Doch was wissen wir schon vom „Sein“? Können wir uns wirklich hinstellen und behaupten, in einer realen Welt außerhalb unseres Bewusstseins kämen unverwirklichte Möglichkeiten vor? Bei Kant ist „Möglichkeit“ zur Kategorie des Verstandes geworden: Wenn wir die reale Welt in ihrem Licht sehen, heißt das nach seiner Lehre nicht, dass sie selber so sein müsse. Erst einmal treffen wir Möglichkeiten nur in unserem Bewusstsein an. Wir überlegen, ob wir dies oder das tun, eine Sache so oder anders interpretieren. Dann glauben wir wohl gar, der Sache selber sei etwas möglich. In Wahrheit kann vielleicht nicht einmal unser Bewusstsein anders sein als es ist, sondern unsere eigenen Möglichkeiten, die wir zu sehen glauben, sind nur scheinbare, und die Wahl, die wir zu treffen glauben, ist immer schon getroffen. Eine Metaphysik der Möglichkeit kann diesen Verdacht niemals entkräften, nicht einmal in Kants Version. Deshalb muss man über Kant hinausgehen und hat es auch getan. Die Beschreibung dessen, was erst einmal nur in uns selbst ist, muss empirischer ausfallen.
Als Weg dazu hat sich der so genannte linguistic turn erwiesen: die Einsicht, dass „Bewusstsein“ von Wissen kommt, Wissen aber an Sprache gebunden ist. Ob wir Möglichkeiten haben, die wir als solche festhalten, mag man bezweifeln. Außer Zweifel steht aber, dass wir fragen und antworten. Ich wechsle nicht das Thema, denn eine Frage ist als Raum m ö g l i c h e r Antworten definiert. Sie ist ein Möglichkeitsraum, sie läuft auf Auswahl hinaus. Von Fragen zu reden, ist keine Metaphysik. Es gibt sie wirklich, und in ihnen sind Möglichkeit und Wirklichkeit wirklich unterschieden. Dass wir damit operieren, lässt sich auch von neurologischer Seite nicht bestreiten. Mit dem Hammer schlagen wir Nägel ein und indem wir fragen, bringen wir „seiende“ Möglichkeiten ins Spiel. Ich kann antworten, es sei drei Uhr, obwohl es fünf Uhr ist. Meine Wahrheitsliebe mag mich zwingen, es nicht zu tun, in der Frage aber, wie spät es ist, liegt kein solcher Zwang, vielmehr macht sie so viele Antworten möglich, wie es Uhrzeiten gibt. Es liegt daher freilich ein Zwang in ihr, nicht „27 Uhr“ und dergleichen zu antworten. Der Möglichkeitsraum der Frage ist endlich.
Wir können alles, was wir über „Möglichkeit und Wirklichkeit“ gesagt haben, in „Frage und Antwort“ übersetzen. Dass eine Möglichkeit ein Sein habe, ist dann keine Metaphysik mehr, sondern eine frühe, undeutliche Art, über Fragen und Antworten und deren Projektion auf die Welt zu reden. Es ist klar, dass jede Frage unabhängig davon, ob und wie sie beantwortet wird, ein „Sein“ hat. Wenn ich die Uhrzeit wissen will und niemand naht, der sie mir sagen könnte, dann bleibt es eben beim „Sein der Möglichkeit“ der Antwort als solcher. Ich brauche es gar nicht cusanisch zu denken, sondern weiß einfach: Die Frage bleibt offen. Ebenso klar ist, dass „aus einer Einzelwirklichkeit neue Einzelmöglichkeiten hervorgehen“, nämlich aus einer Antwort neue Fragen. Erst wenn mir jemand antwortet, es sei dreiviertel Sieben, frage ich mich, ob ich den Einkauf noch mache. Da der Laden um Acht schließt, würde die Zeit gerade noch reichen.
Wir können drittens die beiden aristotelischen Möglichkeitsbegriffe übersetzen, von denen in der 31. Notiz die Rede war: dynamei on, „in Möglichkeit seiend“ und zur Wirklichkeit drängend, ist die Frage als Willensakt; da sie nicht alle Antworten zulässt, sondern nur bestimmte – wie wir jetzt noch betrachten -, ist sie kata ton dynaton, „nach Möglichkeit“.
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Die Terminologie des Fragen und Antwortens ist wirklichkeitsnäher, weil differenzierter als die Terminologie des Möglichen und Wirklichen. Besonders eins springt ins Auge und wird für unser Gesamtthema wichtig: dass es nicht nur möglich ist, auf eine Frage mit Ja oder Nein zu antworten, sondern auch, sie selber als Frage anzuerkennen oder zurückzuweisen. Wenn man erkennt, dass eine Frage konfus gestellt ist, dadurch dass mehrere gegenläufige Fragen sich in ihr überlagern, hat man das anerkannte Recht, ihr zu widersprechen, indem man den Versuch macht, die Konfusion zu benennen und aufzulösen. Man bedient sich immer wieder dieses Verfahrens, ich habe es zum Beispiel oben getan, als ich sinngemäß schrieb, die Frage, ob wir uns nicht beengen, wenn wir aus der unendlichen Bewegung aussteigen, könne gar nicht gestellt werden ohne die vorgängige Frage, was denn gemeint sei: die ferne oder nahe Unendlichkeit oder das Un-Ende des Möglichkeitsraums einer Frage, von dem aus man die Fragezurückweisung versuchen kann. Wir haben vorher nur Einzelmöglichkeit und Einzelwirklichkeit unterschieden, jetzt sehen wir, es gibt zwei ganz verschiedene Typen der Einzelmöglichkeit: Die Frage kann so oder anders beantwortet werden, und man kann sie im Ganzen anerkennen oder bestreiten.
Wenn Marx schreibt, die Menschheit stelle sich „immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind“ (MEW 13, S. 9), so können wir das einerseits in unserer Sprache noch einmal sagen: „Die Frage entspringt nur, wo die Möglichkeit der Beantwortung schon vorhanden ist“, denn sie ist selbst diese Möglichkeit. Wenn es die Skala der Uhrzeiten nicht gäbe, würde niemand nach der Uhrzeit fragen. Aber andererseits können wir mehr sagen, als Marx ausdrücklich sagt: dass nicht nur e i n e Lösung möglich ist, sondern mehrere, und dass es vielleicht eher darum geht, die Aufgabe z u v e r w e r f e n , die sich zu stellen scheint. Wir könnten eine Konfusion in der Aufgabenstellung entdecken und werden sie dann durch eine andere ersetzen. Auch dafür mögen „materielle Bedingungen vorhanden sein“.
Die kapitalistische Fragestellung kann uns nicht unter Zwang setzen, sie so zu beantworten, wie sie sich selber meint. Wir sind frei, ihren Möglichkeitsraum zu verlassen. In diesem Raum wird uns zwar die ferne Unendlichkeit vorgegaukelt, aber der Raum als solcher ist endlich wie jeder Frageraum. Wir können ihn daher von außen erörtern, als konfus erweisen und öffentlich diskreditieren. Das bedarf formal keiner weiteren Begründung. Eine Frage ist nun einmal kein Befehl. Man gehorcht ihr nur so lange, wie man sie plausibel findet. „Wann wird dieser Briefkasten geleert?“ „Das ist ein toter Briefkasten.“ Wenn es so steht, was soll er mir dann noch bedeuten?
Die Logik von Frage und Antwort wird uns als gesellschaftliches Organisationsprinzip noch viel beschäftigen. Eine politische Wahl zum Beispiel ist die Beantwortung einer Frage. Ebenso könnte es eine Wahl des ökonomischen Entwicklungswegs geben, an dem die ganze Gesellschaft teilnimmt. Mit dieser Ankündigung beendige ich das Kapitel über den allgemeinsten Kapitalbegriff. Unser nächstes Thema ist die Frage, ob zwischen Kapital und Geld ein notwendiger und sogar untrennbarer Zusammenhang besteht.
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Ich bitte auch um Beachtung der gleichzeitig ins Netz gestellten Notiz (0): Man findet dort eine Gliederung des Blogs „Die Andere Gesellschaft“ in Kapitel, ferner ein Tagebuch.