(31) Endlich!

5. Das Gegenprinzip / Zweiter Teil – Die historische Besonderheit des Kapitals im Allgemeinen

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Wie in der vorigen Notiz angekündigt, geht es jetzt darum, der Unendlichkeit der Kapitalbewegung „auf derselben hohen Abstraktionsstufe das bessere Gegenprinzip zu konfrontieren“. Zur Vorbereitung rekapituliere ich noch kurz die Gedankenschritte des Kapitels über den allgemeinsten Kapitalbegriff, das mit diesem letzten Thema schließt.

Wir begannen mit der Marxschen Formel G-W-G‘ und erkannten, dass erst die ins Unendliche greifende Wiederholung der so beschriebenen warenvermittelten Geldmehrungsbewegung, also erst G..G‘..G“ und so immer weiter, das ausmacht, was Marx als Kapital bezeichnet (14. Notiz). Später stellten wir fest, dieselbe unendliche Bewegung wurde auch von Wissenschaftlern wie Keynes, Braudel und Max Weber nicht nur gesehen, sondern auch kritisiert: Es handelt sich offensichtlich nicht um eine fixe Idee allein von Marx (19. bis 22. Notiz). Doch von Anfang an sahen wir auch, so einfach ist es gar nicht, die Kapitalbewegung zu kritisieren, denn man kann sie nicht in Bausch und Bogen verdammen (zum Folgenden die 15. und 16. Notiz). Das hat Marx auch nicht getan, aus Gründen, die wir bei dem Marxisten Ernst Bloch philosophisch verallgemeinert fanden: Eine unendliche Bewegung ist zunächst einmal eine Bewegung, in der die Enge von Enden, Beendigungen, auch Sackgassen geöffnet und verlassen wird. Und dafür kann sie nicht kritisiert werden. Wenn es sich freilich um eine Bewegung handelt, die Ende um Ende überschreitet und auch da nicht haltmacht, wo überhaupt kein vernünftiger oder irgendwie nützlicher Überschreitungsgrund mehr zu sehen ist, dann wird klar, dass man ihr Einhalt gebieten muss.

Dem war nur hinzuzufügen, dass die Frage, wann die Kapitalbewegung nicht mehr vernünftig und nicht einmal mehr nützlich ist, nur von denen beantwortet werden kann, in deren Bedienung, dem „Dienst am Kunden“, der Bereitstellung von Lebensmitteln das Kapital auch seinem Selbstverständnis nach seine einzige Existenzrechtfertigung hat. Daran knüpften wir eine erste historische Betrachtung: Wir haben im 19. Jahrhundert eine „saint-simonistische“, im 20. eine „fordistische“ Marktstrategie des Kapitals ausgemacht und beide Male festgestellt, dass sie dem gerecht wurde, was die Käufer tatsächlich kaufen wollten, auch wenn keine Wahlen abgehalten wurden, in denen das formell ermittelt worden wäre. Das Problem in dieser Zeit war „nur“, dass gerade die, die das Verkaufbare produziert hatten, als Käufer besonders schlecht dastanden; sie hatten Paläste gebaut und landeten in Hütten.

Seit den 1960er Jahren jedoch ist das Konsummodell selber zunehmend umkämpft und wird in manchen Einzelheiten bereits gegen den Mehrheitswillen der Käufer erzwungen. In dieser Situation wächst die Wahrscheinlichkeit, dass hinter der Funktion, erwünschten Konsum bereitzustellen, in der man das Kapital früher vielleicht aufgehen sah, das sichtbar wird, was es eigentlich ausmacht, nämlich die unbedingte, nicht nur nutzlose sondern extrem schädliche Notwendigkeit, sich selbst ins Unendliche zu vergrößern. Es wurden allerdings auch Gegentendenzen benannt, die dem Sichtbarwerden im Weg stehen (17. und 18. Notiz): erstens die kapitalstützende Staatsmacht – wir haben uns klar gemacht, dass Staats- wie auch Wissenschaftsbezug das „Kapital im Allgemeinen“ ohnehin mitdefinieren – und zweitens die sich spontan reproduzierende Wachstumsideologie, der „Kapitalfetischismus“.

In einer zweiten historischen Betrachtung sahen wir uns die Vorgeschichte des Kapitals seit dem Beginn der Neuzeit an. Dabei wurde die Struktur des kapitalmäßigen Unendlichkeitsstrebens deutlicher. Von einem Marxschen Satz ausgehend, der besagt, dass das Kapital die Unendlichkeit selber wolle, am liebsten sofort und nur ersatzweise mittels der unendlichen Schritt-für-Schritt-Bewegung, fanden wir denselben Gedanken klarer und ausführlicher, wenn auch ohne Kapitalbezug, denn das Kapital gab es zunächst noch nicht, bei manchen einflussreichen Philosophen, die den Renaissance-Theologen Cusanus gelesen hatten oder jedenfalls so dachten wie er. Es handelte sich um den Gedanken, dass das höchste Wesen durch seine Macht zu definieren sei – man kann auch sagen durch seinen Selbstzwang, denn es ist eine Macht auch über sich selbst -, alle unendlich vielen Möglichkeiten, über die es verfüge, auch zu verwirklichen oder schon verwirklicht zu haben. (23. bis 26. Notiz) Diese Figur eines religiösen Allmachtsdiskurses bot sich von vornherein der Aneignung durch Staaten an, denn Staaten wollen ohnehin möglichst mächtig sein, und hier wurden sie mit einem Diskurs beglückt, der sie zur unendlichen Machtsteigerung sogar auch noch von religiöser Seite anstachelte. Wir haben zuletzt ansatzweise verfolgt, wie der neue Diskurs im Staat Fuß fasste und wie der Staat seinerseits das private Kapital auf die Spur setzte. (27. bis 30. Notiz)

Doch bei all dem ist die Frage geblieben: Wie kann denn diese Bewegung, die uns aus der Enge befreit hat, gestoppt werden, ohne dass wir uns einer neuen Enge ergeben?

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Ich hatte mir vorgenommen, beim Klärungsversuch da anzusetzen, wo die religiöse Allmachtsfigur für uns Neuzeitliche zuerst Gestalt annimmt, also bei Cusanus. Nun gibt es für den kapitaltypischen „Zwang, alles Unendliche zu tun, was möglich ist“, in dieser Abstraktheit bei Cusanus kein Vorbild; er schreibt nicht davon, was an und für sich, sondern was  i h m  möglich ist, nämlich dem Gottmenschen Jesus Christus. Dies Mögliche wird dann auch getan, aber es ist etwas Bestimmtes, nämlich dass er sich kreuzigen lässt. Die Kreuzigung Jesu ist ein folgenreiches Ereignis für die weitere römische Geschichte. Die Fähigkeit und Tat des Gottmenschen liegt darin, dass er standhält in der so furchtbaren Erwartung des Ereignisses. Und nun ist man erst einmal überrascht zu hören, dass diese Möglichkeit eine unendliche sein soll. Ist es nicht vielmehr die Möglichkeit eines Mannes, ein sehr frühes Ende zu finden? Weil das näher liegt, finden wir noch lange nach Cusanus bei einem Barockdichter die Zeilen: „Endlich! oh du schönes Wort, / Du kannst alles Kreuz versüßen“, „Endlich, endlich muss es doch / Mit der Not ein Ende nehmen: / Endlich bricht das harte Joch, / Endlich schwindet Angst und Grämen“, „Ei mein Herz drum merke dies: / Endlich! endlich kommt gewiss.“ (Benjamin Schmolck, „Das Letzte, das Beste“, 1704)

Cusanus indessen interpretiert die Kreuzigung so, dass sie nur die Fähigkeit des Gottmenschen illustriert, sich in Vernunft zu verwandeln und das Körperliche zu überwinden. Diese Fähigkeit kann man sich leicht als unendliche denken, zumal die Vernunft als das definiert wird, was „bei allen Menschen […] der Möglichkeit nach alles [ist]“ (De docta ignorantia Buch III, Kap. 4) Wenn ein Gott sie hat, geht sie eben über jede Körpergrenze hinaus, und da Jesus den ärgsten körperlichen Schmerz nicht scheut, ist er dieser Gott (vgl. Kap. 6). – Das scheint klar zu sein, aber was ist das für eine Klarheit? Wir haben also einerseits Jesus, der das, was ihm möglich ist, in Gänze realisiert. Dieses ihm Mögliche ist tatsächlich ein Ende, wenn es auch eine dahinter stehende unendliche Fähigkeit illustrieren soll. Jesus ist ja auch nur der Mensch, der ins Göttliche  ü b e r g e h t , um mit dem identisch zu werden, was Gott immer schon ist. Wir haben andererseits dieses eigentlich höchste Wesen, „Gott“, dessen Definition nun tatsächlich lautet, es  s e i  immer schon das ihm mögliche Unendliche – Unendlichkeit, Möglichkeit und Sein fielen hier in Eins zusammen.

Wenn man die eben zitierte erste große Schrift des Cusanus liest, findet man noch Stellen, bei denen schwer zu entscheiden ist, ob er wirklich annimmt, dass auch „Gottvater“ einerseits Möglichkeiten hat und sie andererseits alle verwirklicht, Stück für Stück, oder ob er dies nur von Jesus aussagen will. Dass seine Aussage, beim höchsten Wesen fielen Möglichkeit und Sein zusammen, auch anders interpretiert werden kann, wird aber schon deutlich. Ja, er scheint selbst noch darüber nachzudenken, vielleicht auch erst beim Niederschreiben auf das Problem gestoßen zu sein, manche Bemerkungen wollen das wohl andeuten. In späteren Schriften hat er sich aber klar entschieden, zuerst in De possest, Über das Können-Ist, wo schon die Überschrift das Problem formuliert. Da präsentiert er in aller Deutlichkeit die Lösung, dass es nicht zu sagen gelte, das höchste Wesen verwirkliche seine Möglichkeiten, sondern vielmehr, seine Wirklichkeit  b e s t e h e  d a r i n , diese Möglichkeiten  z u  s e i n  und nichts zu sein als diese Möglichkeiten.

Mit andern Worten, es gibt zwar den Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit, und er bedeutet, dass die Wirklichkeit etwas anderes als die Möglichkeit ist, aber nichtsdestoweniger ist die Möglichkeit schon selber, in all ihrem Verschiedensein von der Wirklichkeit, eine Wirklichkeit sui generis. Sie ist für sich genommen schon wirklich, obwohl sie noch unwirklich ist. Das ist paradox, aber wer wollte es bestreiten?

Ich vermute, dass die Philosophie Heideggers hierin wurzelt: Es gibt ein „Sein“, das sich vom „Seienden“ unterscheidet, und dieses Sein ist das Sein der unverwirklichten Möglichkeit. „Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit“, lesen wir in Sein und Zeit (Tübingen 1979, S. 38). Heideggers Appell geht dahin, man solle dem Sein der Möglichkeit die Treue halten, und er kritisiert die abendländische Philosophie dafür, dass sie immer schon beim Seienden angesetzt habe; darüber sei das Sein selbst vergessen und verschüttet worden. Wir finden eine linke Adaption bei Thomas Seibert, der herausliest (in Krise und Ereignis, Hamburg 2009), dass es zu früheren Ereignissen zurückzukehren gelte, konkret zum Mai 68, um sie zu wiederholen, das heißt um das in ihnen  m ö g l i c h  Gewesene noch einmal und nun anders, besser zu verwirklichen. So sehen wir, für Heidegger und schon für die cusanische Überlegung scheint etwas zu sprechen. Aber gerade hier, glaube ich, sind wir am tiefsten Punkt einer Konfusion angelangt, die es aufzulösen gilt.

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Dass das Mögliche als solches schon „ist“, ist zweifellos ein großer und wichtiger Erkenntnisgewinn. Es hat geradezu anthropologische Bedeutung. Wenn wir nämlich von hier aus alle Natur klassifizieren wollten, dann würde sich ergeben, dass den meisten Weltkörpern nur genau das möglich ist, worin von vornherein ihre Wirklichkeit besteht – zum Beispiel kann der Stein nicht anders, als nach dem Fallgesetz zu fallen -, während einige, die Lebewesen, eine Möglichkeit zum Aufschub der Verwirklichung des ihnen Möglichen erlangen, manche sogar eine begrenzte Wahlfreiheit im Raum des Aufschubs gewinnen, und eines schließlich, der Mensch, diesen Gewinn sogar ausdrücklich  f e s t – s t e l l t , indem er das Mögliche und Wirkliche unterscheidet und mit dem Unterschied operiert. Der Mensch wird oft für das bewundert oder gefürchtet, was er  v e r w i r k l i c h t  (so in den berühmten Versen des Sophokles, wo es heißt, die Welt berge zwar viel Unheimliches, am unheimlichsten aber sei der Mensch, dem eigentlich alles gelinge, Gutes wie Böses, „nur vor dem Hades blieb Rettung verborgen“), man kann jedoch auch hervorheben, dass er das Wesen der  “ V e r m ö g l i c h u n g “  ist: Da, wo die Natur zunächst gar kein Mögliches kannte, das nicht immer schon wirklich war, da, wo sie es später unterschied, aber blind unterschied, hat er, der Mensch, auf das Mögliche seine „Macht“ gegründet und seine Aufmerksamkeit focussiert.

Es gibt aber ein großes Problem: So, wie Cusanus von Gott als der Möglichkeit spricht, scheint es eine einzige umfassende Möglichkeit zu geben, der eine einzige ebenso umfassende Wirklichkeit gegenübersteht. In diesem Punkt hat er sich nicht von einer Tradition gelöst, die bis zu Aristoteles zurückreicht. Denn der Begriff „der“ Möglichkeit ist eine wenn auch reduzierte Form, den Begriff „der“ Materie weiterzudenken. Man kann das von Ernst Bloch lernen, der oft unterstreicht, was die beiden Seiten der aristotelischen Materie sind: dynamei on, in Möglichkeit seiend und damit von sich aus zur Verwirklichung drängend, und kata ton dynaton, „nach Möglichkeit“, das Mögliche also vom Unmöglichen scheidend. Aristoteles argumentiert, dass diese doppelte Möglichkeit eine unendliche sei, weil sie immer ein Mehr oder Weniger zulasse.

Das heißt umgekehrt, sein Begriff von Unendlichkeit erfasst eigentlich nur das Mehr oder Weniger. Es ist, als ob wir Modernen einen Menschen unendlich nennen würden, weil er es an Pünktlichkeit fehlen und nicht etwa weil er sich kreuzigen lässt. Aus diesem Grund kennt Aristoteles nur „maßvolle“ Verwirklichungen des Möglichen, zum Beispiel „diesen Tisch“. Wenn jedoch Thomas von Aquin Gott, weil er „der“ Schöpfer ist, mit „der“ Möglichkeit identifiziert, dann wird eine ganz andere Vorstellung von „der“ Verwirklichung möglich, nämlich eben die, dass es eine mögliche Gesamtunendlichkeit gibt, deren Verwirklichung nur ebenso umfassend sein kann wie sie, indem sie, „überm Sternenzelt“ und noch unter den Elementarteilchen, alles Gute und Böse in jeder denkbaren Intensität vereint. Dass dies ein fataler Gedanke ist, dürfte wohl auf der Hand liegen. Und um es so kurz wie möglich zu sagen: Dieser Gedanke erfasst genau das, was wir heute unter  G e l d  verstehen. Das Geld, wenn man es denn hat, ist die unendliche Kaufmöglichkeit.

Man kann dem Gedanken widersprechen. Das liegt schon im eben Gesagten. Ich habe formuliert: Nachdem Thomas diese Interpretationstat getan hat, ist dies und das möglich geworden. Hier sehen wir doch ein ganz anderes Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit: Dadurch, dass etwas wirklich wurde, wird etwas möglich; wenn, weitergedacht, das möglich Gewordene selbst wieder verwirklicht wird, entsteht eine wieder neue Möglichkeit, die auch verwirklicht werden kann, und so immer fort. Diese Möglichkeit, das Wort Möglichkeit zu verwenden – Cusanus sieht sie, bezieht sie aber nur auf die „Schöpfung“, nicht auf Gott -, wirft die Frage auf, ob jene andere Verwendungsweise, wonach es „die“ Möglichkeit geben soll, der noch keine Wirklichkeit vorausgegangen wäre und die eben deshalb unendlich zu sein scheint, überhaupt zulässig ist. Wenn es uns gelingt, die Frage begründet zu verneinen – und ich füge gleich hinzu: in einer weniger metaphysischen Sprache -, dann haben wir das gesuchte „Gegenprinzip“. Die 32. Notiz, die letzte im Kapitel über den allgemeinsten Kapitalbegriff, gilt diesem Versuch.