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Wir beginnen nun die Frage zu erörtern, ob eine Andere Gesellschaft, die nicht mehr kapitalistisch wäre, aus diesem Grund auch keinen Markt, keine Waren, kein Geld mehr dulden dürfte, außer vielleicht in der Übergangszeit ihrer Entstehung, wo sie noch mit „Muttermalen“ der alten Gesellschaft geschlagen wäre. Zugespitzt ist das die Frage, ob wenn eine Ökonomie sich entscheidend über Geld vermittelt, sie dann auch notwendigerweise kapitalistisch ist oder werden wird, sei’s erstmals oder von Neuem. Dabei gehe ich davon aus, dass Geld seinerseits in keiner Ökonomie des Warentauschs fehlen kann. Ich habe daher n u r den Satz „Wenn Geld, dann Kapital“ zu prüfen, während der vorgängige Satz „Wenn Ware, dann Geld“ zwar auch erörtert werden wird, aber nicht in kritischer Absicht.
Wie ich die Frage beantworte, war schon der 7. Notiz zu entnehmen: Nach meiner Auffassung führt Geld n i c h t notwendig zu Kapital. Ich konnte mich in der 22. Notiz auf Fernand Braudel berufen, der als Historiker dasselbe sagt. Doch kann die Historikersicht hier nicht mehr weiterhelfen. Denn es ist denkmöglich, dass zwar die vorkapitalistischen Ware-Geld-Beziehungen auf Kapitalismus nicht notwendig hätten hinauslaufen müssen, die kapitalistischen aber von der „Kapitallogik“ so sehr imprägniert sind, dass man sie davon nicht mehr anders befreien kann als durch ihre eigene gänzliche Abschaffung. Wir wollen indessen prüfen, ob es nicht auch denkmöglich ist, dass neue Ware-Geld-Beziehungen entstehen, die es so nicht geben können würde ohne den kapitalistischen Vorlauf, die aber gleichwohl mit diesem absolut und definitiv gebrochen hätten, das heißt mit allem, was an ihm kapitalistisch war. Um eine solche Untersuchung durchzuführen, haben wir uns nicht so sehr mit der Geschichte als mit dem Begriff des Geldes zu befassen.
Meine Absicht ist übrigens bescheidener, als sie vielleicht sein könnte, denn ich will nicht über „alle“ Theorien des Geldes zu urteilen versuchen, sondern hauptsächlich nur über die marxistische. Zwei oder drei andere werden immerhin gestreift. Dies Vorgehen hängt damit zusammen, dass meine Absicht nicht zuletzt auch eine politische ist: Wollte ich etwa die Geldtheorie von Keynes ausführlich erörtern, so hätte ich mich ja nicht auf Keynes-Anhänger einzustellen, die eine geldlose Gesellschaft fordern. Dieser Forderung begegnet man nur bei Marxisten häufiger. Selbst die Anhänger von Sylvio Gesell wollen nur das gänzlich andere, aber nicht gar kein Geld. Es kommt hinzu, dass gerade Marxisten politisch sehr rührige Leute sind. Wenn aus der gegenwärtigen oder nächsten großen Wirtschaftskrise eine noch größere politische Krise hervorgehen sollte, dann wird es nicht unwichtig sein, welchen Ausweg gerade sie vorschlagen. Denn sie werden den Bonus haben, als „Radikale“ zu erscheinen. Da wünscht man sich doch eine innermarxistische Debatte, die es heute schon darauf anlegt, die Geldfrage „radikal“ richtig zu beantworten.
Zwei Dinge will ich noch vorausschicken. Zum einen ist klar, dass meine Beantwortung der Geldfrage in der ganzen Anlage dieses Blogs schon vorentschieden ist. Ich habe mich in vielen Notizen über die Existenzbedingungen des Kapitals verbreitet, ohne auf die Geldfrage ein einziges Mal einzugehen: weil ich davon ausging, dass Kapital zwar Geld voraussetzt, Geld aber nicht notwendig zu Kapital führt. Andere Marxisten gehen in der Regel andersherum vor. Sie erörtern erst die Geldfrage, und wenn dann noch Forschungszeit übrig ist, versuchen sie aus ihr die Kapitalfrage zu entwickeln. Dabei stoßen sie auf das Problem, dass es schwierig ist, den Marxschen Entwicklungsversuch zu rekonstruieren und gar seine Stringenz zu erfassen. Die Lösungen, die sie vorschlagen, gehen meistens davon aus, dass die Stringenz doch jedenfalls vorhanden sein müsse. So kann man sagen, dass auch bei ihnen das Ergebnis vorentschieden ist. Und tatsächlich verschweigen sie nicht, dass sie sich keine kommunistischen Ware-Geld-Beziehungen vorstellen können noch wollen. Ich halte diese Vorentschiedenheit für legitim, in ihrem und auch in meinem Fall, weil sich beidemale das „vorausgesetzte“ Resultat durch nachträgliche Methodenreflexion noch einholen und „setzen“ und auch, wenn es sein muss, widerrufen lässt.
Zum andern: Wenn ich jetzt anfange, den Satz „Wenn Geld, dann Kapital“ zu bestreiten, dann vergesse ich nicht, dass Geld auch schon für sich genommen, ob es nun Kapital impliziert oder nicht, für unerträglich oder vielleicht für überflüssig gehalten werden könnte. Auch das gehört zur „Geldfrage“ und wird später erörtert.
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Die Passage bei Marx, von der wir auszugehen haben, wurde in der 14. Notiz schon zitiert: „Im Kauf für den Verkauf sind Anfang und Ende dasselbe“, man kauft nämlich mit Geld und schlägt am Ende aus dem Verkauf der Waren, die mit den gekauften Waren produziert wurden, wieder Geld heraus, „und schon dadurch“, fährt Marx fort – schon weil Geld den Vorgang einklammert – „ist die Bewegung endlos.“ Wir finden den Satz in demjenigen Kapitel des Marxschen Hauptwerks, das „Die Verwandlung von Geld in Kapital“ überschrieben ist, da also, wo wir die definitive theoretische Klärung der Frage erwarten (MEW 23, S. 166). Erinnern wir uns: Was Marx als die „endlose Bewegung“ von Warenkauf und -verkauf bezeichnet, ist nichts anderes als das Kapital selber. Diese „rastlose Bewegung des Gewinnens“ (S. 168) wird hier auf weiter nichts als das Beteiligtsein von Geld und den strukturellen Ort zurückgeführt, den es im Warentausch einnimmt: Es gibt Kapital, erstens weil es Geld gibt und zweitens weil Geld in der Formel G-W-G‘, deren „endlose“ Wiederholung den Kapitalbegriff definiert, das A und O ist.
Also, ganz allein aus der Geldtatsache kann Kapital nicht folgen, das will auch Marx nicht behaupten. Im Gegenteil liegt das ganze Gewicht seiner Argumentation auf dem, w o v o n Geld das A und O ist, nämlich auf den damit gekauften Waren, den Produktionsfaktoren, und auf den nach der Produktion zu verkaufenden Waren, kurz es liegt auf dem W in G-W-G‘. Denn nur dieses erklärt, dass es zur Geldvermehrung kommen kann. So gesehen hätte Marx nur gesagt, dass Geld nicht als Geld Kapital wird, sondern dann, wenn Produktionsfaktoren mit ihm gekauft werden und es im Rahmen der „rastlosen Bewegung des Gewinnens“ geschieht. Aber das ist nur die eine Seite des Arguments. Sie allein würde den Schluss, dass es in der Anderen Gesellschaft kein Geld geben darf, nicht im mindesten nahe legen. Hören wir daher die andere Seite: Das Geld selber, das „in seiner Bewegung diese […] Zirkulation“ G-W-G‘ „beschreibt, verwandelt sich in Kapital, wird Kapital und ist schon seiner Bestimmung nach Kapital“ (S. 162).
Man wird sagen, in diesem Satz sei Geld zwar Subjekt und Kapital sein Prädikat geworden, ausgesagt werde aber doch wieder nur, dass solches zutreffe, w e n n Geld die Zirkulation G-W-G‘ „beschreibt“. Aber es bleibt, dass Marx das Geld zum Subjekt macht. Das würde er nicht tun, wenn er nicht die Kapitaltendenz in ihm angelegt sähe. Besonders in seinem Rekurs auf Aristoteles, den er zustimmend referiert, wird es deutlich (S. 167): „Mit der Erfindung des Geldes musste sich der Tauschhandel notwendig […] zum Warenhandel entwickeln, und dieser, im Widerspruch zu seiner ursprünglichen Tendenz, bildet sich zur Chrematistik aus, zur Kunst, Geld zu machen.“ In der „Chrematistik“ scheint sich alles ums Geld zu drehen, „denn das Geld ist der Anfang und das Ende dieser Art von Austausch“. Diese Formulierung, von der wir ausgegangen sind, hat Marx von Aristoteles übernommen (er zitiert sie sogar griechisch: to gar nomisma stocheion kai peras tes allagis estin), zusammen mit der aristotelischen Schlussfolgerung: „Daher ist auch der Reichtum, wie ihn die Chrematistik anstrebt, unbegrenzt“. Und es folgt die aristotelische Begründung: „Wie nämlich jede Kunst, der ihr Ziel nicht als Mittel, sondern als letzter Endzweck gilt, unbegrenzt in ihrem Streben ist, denn sie sucht sich ihm stets mehr zu nähern, […] so gibt es auch für diese Chrematistik keine Schranke ihres Ziels, sondern ihr Ziel ist absolute Bereicherung.“
„Die Ökonomik, nicht die Chrematistik, hat eine Grenze“, wird Aristoteles weiter zitiert, denn „die erstere bezweckt ein vom Gelde selbst Verschiedenes, die andere seine Vermehrung“. Ohne diesen Satz versteht man den vorigen nicht, denn man fragt sich, warum, wenn jede Kunst sich einem Ziel „unbegrenzt nähert“, um dann, wenn es erreicht ist, natürlich h a l t z u m a c h e n , oder was sonst?, dies beides nicht auch vom Gelderwerbsziel gilt – sowohl die Näherung als auch das Haltmachen. Warum gibt es bei der Geldkunst nur Näherung, aber „keine Schranke ihres Ziels“? Oder besser umgekehrt gefragt: Wie kann die „Bereicherung“, die immerzu noch im Fluss ist, überhaupt ein Ziel sein, wenn doch ein Ziel, wie wir wissen, ein Ende ist? Hier wird die Geldunendlichkeit selber, mehr und immer mehr Geld, als seiender Reichtum imaginiert. Unser Traum vom Paradies mit Konturen, die wir in irgendeinem letzten Akt begreifen und umarmen könnten – Fehlanzeige. Deshalb sagt Marx ja auch, dass Anfang und Ende der Formel G-W-G‘ „denselben Beruf haben, sich dem Reichtum schlechthin durch Größenausdehnung anzunähern“ (S. 166), was ich ebenfalls schon in der 14. Notiz zitiert hatte.
Nun, es ist klar, weshalb Geld „Ziel“ und Endlosigkeit in Einem ist, so klar, dass Marx es nicht einmal aussprechen muss: Geld ist pure Quantität und findet daher so wenig ein Ende wie die Zahl, weshalb man ja auch vom „Zahlen“ spricht. Man „zählt“ ins Unendliche, um sich einer seienden aktualen Unendlichkeit der Zahlen zu nähern, und man „zahlt“ ins Unendliche, um eine andere aktuale Unendlichkeit zu erschaffen, nämlich das Kapital. Der Satz „Ich will Geld haben“ ist schon gleichbedeutend mit dem Satz „Ich will mehr Geld haben“, dann aber auch, so scheint es, mit dem Satz „Ich will i m m e r mehr Geld haben“, also mit Kapitallogik. Durch seine pure Quantität also scheint das Geld auf die Spur gesetzt, Kapital werden zu müssen. Es muss nur noch die Zirkulationsform G-W-G‘ vorfinden, nur dies W in der Formelmitte zur Ergänzung seiner selbst, damit es seinen Kapitalberuf ergreifen kann, den es aber immer schon in sich trug. Diese Ergänzung einbegriffen, kann es sich nun vermehren, nicht nur dem Begriff und „Beruf“ nach, sondern wirklich. Es vermehrt sich nun so, wie ein Vampir seine Stunden fristet: indem es aus W gewissermaßen Blut saugt – Marx wird das Bild tatsächlich gebrauchen -, und daran sieht man, von diesem Vampir oder vulgo dem Geld geht die Ziel- und Endlosigkeit des Prozesses aus.
Aber das ist in keiner Weise überzeugend. Wenn wir glauben würden, dass ein Ding uns grenzenlos machen kann durch eine ihm anhaftende Dimension der Grenzenlosigkeit, dann wären wir ja selbst diejenigen, die das Ding zum „Fetisch“ gemacht hätten, während wir uns doch vielmehr auf die Enthüllung, Beschreibung und Auflösung des Fetischs etwas zugute halten. Nun ist Geld kein bloßes Ding, sondern eine gesellschaftliche Institution, und wäre dieser die Unendlichkeit immer schon eingeschrieben, dann könnte allerdings gesagt werden, es sei unser Führer in die Unendlichkeit. Ich selbst sage es ja von der gesellschaftlichen Institution Kapital. Vom Geld behaupte ich aber, ihm sei erst im Zuge der Neuzeit Unendlichkeit eingeschrieben worden, vom Kapital und seinem Staat, seiner Wissenschaft. Hier bei Aristoteles und Marx stellt es sich dagegen so dar, als sei Unendlichkeit eine Naturgabe des Geldes, die sich in den Charakter des Geldes als einer Institution unmittelbar übersetze. Diesen Schluss vom Natürlichen aufs Gesellschaftliche darf man zurückweisen. Wenn ich ein Feuer mitansehe, das einen unabsehbaren Wald auffrisst, liegt nichts darin, was mir selber das pausenlose Fressen auch nur nahe legen könnte. Ebenso kann es nicht die Quantität des Geldes sein, die mich zur Kapitalbildung motiviert.
Individuen mögen den Wunsch haben, immer mehr Geld zu scheffeln, weil Haltlosigkeit in ihrer individuellen Natur liegt. Das ist ein beliebtes psychologisches und auch philosophisches Thema. Aber daraus kann allenfalls erklärt werden, dass es Händler gibt und vielleicht noch Händlerstadtstaaten, Karthago, Genua, Venedig; Kapital gibt es deshalb noch lange nicht. Denn das Händlergebaren wird Jahrtausende lang in Schranken gehalten, und auch die Händlerstadtstaaten können die Gesamtgesellschaft nicht prägen. Kapital gibt es erst dann, wenn die Staatlichkeit selber sich das „Ziel“ der unendlichen Reichtumsvermehrung zueigen macht. Es wäre nun aber absurd zu glauben, die Staaten der Neuzeit wären deshalb zur Politik der Reichtumsvermehrung übergegangen, weil sie auf einmal den quantitativen Charakter des Geldes entdeckt hätten. Und weil das nicht der Grund gewesen sein kann, ist auch nicht abzusehen, weshalb Geld in der Anderen Gesellschaft immer noch zwangsläufig Kapital begründen sollte. Wir werden doch eher annehmen, dass wenn die wirklichen Gründe der Kapitalbildung weggefallen sind, von dem bloßen Umstand, dass Quantität vermehrbar ist, keine Gefahr mehr ausgeht.
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Es ist auffällig, dass Marx sich in der betrachteten Passage so stark an Aristoteles anlehnt. Schon die Unterscheidung der beiden Zirkulationsformen, W-G-W (geldvermittelter Warentausch) und G-W-G‘ (warenvermittelte Geldvermehrung), hat er in der aristotelischen Politik fertig vorgefunden (vgl. dort 1257a). Das ist der Grund, weshalb er, von Hegelscher Begründungsbrillanz weit entfernt, einfach darauf hinweist, dass man neben der einen Form auch die andere antreffe, zwei Arten einer Gattung gleichsam. Es folgt, wie wir sahen, die Wiedergabe des aristotelischen Geldbegriffs. Bereits in einem früheren Kapitel hat er moniert, dass Aristoteles nicht erklären kann, wie es zur wertmäßigen Gleichsetzung ganz verschiedener Waren kommt. Dabei übersieht er, dass Aristoteles gar nicht mit zweigliedrigen Wertgleichungen rechnet wie er selbst („x Ware A = y Ware B“), sondern, da es noch keine Gleichungsmathematik gab, mit viergliedrigen Proportionen (Handwerk A verhält sich zu Handwerk B wie Ware C zu Ware D [Nikomachische Ethik 1133a]). Kurzum, das sind suboptimale Passagen. Marx hat ein philosophisches Koordinatensystem gesucht: Er fand nicht Cusanus, sondern Aristoteles.
Doch hier wurde nur e i n e Ausführung seines Satzes „Wenn Geld, dann Kapital“ besprochen. In den „Grundrissen“ gibt es eine Parallelstelle, in der Marx stringenter argumentiert. Wir erörtern sie in der nächsten Notiz.