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Wir sind dabei, Marx‘ Argumentation hinsichtlich des Geldes zu prüfen: ob es per se schon die Tendenz hat, Kapital zu werden, oder ob man sich eine Geldökonomie vorstellen könnte, die keine Kapitalökonomie wäre. Wie wir sahen, schien die Darstellung in Das Kapital, Erster Band, Marx‘ Annahme zu offenbaren, dass jene Tendenz im pur quantitativen Charakter des Geldes liege: Es sei, wenn quantitativ, dann vermehrbar, und wenn vermehrbar, dann zur Vermehrung treibend. „Zur Vermehrung treibend“ ist Kapitaleigenschaft.
Wie wir weiter sahen, übernimmt Marx die wesentlichen Argumentationsschritte von Aristoteles: den ersten, dass man auf dem Markt „neben“ W-G-W, dem geldvermittelten Warentausch, auch G-W-G‘, die warenvermittelte Geldvermehrung vorfinde, und den zweiten, dass die endlose Wiederholung von G-W-G‘, die das Kriterium des Marxschen Kapitalbegriffs ist, eine bloße Folge der Einklammerung von G-W-G‘ durch G und somit zuletzt eine Folge des pur quantitativen Geldcharakters sei. Dieser Rekurs musste uns die Sache suspekt machen, denn wie kann Aristoteles, der vom Kapital nicht in mindesten etwas wusste, der entscheidende Begründer des Kapitalbegriffs gewesen sein? Laut Marx kam er bloß noch nicht dahinter, wie aus G G‘ werden kann, durch welches vermittelnde W, er habe sich nicht antworten können, dass es die Arbeitskraft sei (vgl. MEW 23, S. 73 f.).
Der Rekurs geht übrigens noch weiter: Die Idee, dass wenn Geld vermehrbar sei, es zur Vermehrung auch treibe, kann teilweise auf die Struktur des aristotelischen Materiebegriffs zurückführt werden (die in der 32. Notiz kurz beleuchtet wurde). Wenn man nämlich Marx folgt, hat wie die Materie so das Geld die Seite des kata ton dynaton, „nach Möglichkeit“, denn es ist nicht unmöglich, zur erlangten Geldsumme immer noch mehr hinzuzutun, und die Seite des dynamei on, „in Möglichkeit seiend“, das heißt als Möglichkeit zur Wirklichkeit treibend, weil Marx eben glauben will, der Geldhaber werde durchs Geldvorhandensein zur Geldvermehrung gedrängt.
Aristoteles trägt trotzdem nicht die Verantwortung, denn hier liegt sozusagen ein Missverständnis vor. Es ist die typisch neuzeitliche Konfusion, die sich ergibt, wenn die aristotelische Philosophie mit der cusanischen gekreuzt wird. Marx konnte das nicht sehen, weil er sich mit Cusanus gar nicht beschäftigt hat: Bei dem liegt das „Sein“ der Möglichkeit nicht darin, dass sie schon dabei ist, sich zu verwirklichen, sondern n u r in ihr selber, selbst wenn es zur Verwirklichung nie kommt. Wir waren unsrerseits bei Cusanus nicht stehen geblieben, sondern haben gesehen, zunächst dass sein Gedanke metaphysisch überzogen ist, dann dass es einen realen Bezugspunkt gibt (vgl. 32. Notiz): Cusanus denkt das Sein der Möglichkeit allumfassend als Gott; wenn wir den metaphysischen Charakter des Konstrukts abstreifen und es den linguistic turn durchlaufen lassen, wandelt es sich zur Beschreibung eines begrenzten, produktiven Denkmittels, nämlich des Raums möglicher Antworten, die einer je einzelnen Frage erteilt werden können. In dieser besseren Begrifflichkeit können wir formulieren: Wahr ist zwar, dass die Frage zur Antwort treibt, insofern ist sie dynamei on, vulgo ein Willensakt, doch wahr ist auch, dass sie erst einmal nur „im Raum steht“, überhaupt nicht beantwortet werden muss; und noch wer antwortet, kann es so tun, dass er die Frage zurückweist.
Aufs Geld übertragen heißt das: Wenn, erstens, dessen pure Existenz die Frage seiner Vermehrung aufwirft und wenn, zweitens, in dieser Frage, wie nicht zu leugnen, bereits ein „treibendes“ Willensmoment liegt, dann kann der Wille doch ebenso gut die Nichtvermehrung wie die Vermehrung wollen. Das Geld wirft allerdings d i e F r a g e auf, ob es „Kapital wird“. Doch der Glaube, sie b e a n t w o r t e sich „von selbst“, ist aus der Luft gegriffen. Das heißt aus dem Wolkenheim und ideologischen Überbau des Kapitalismus.
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Meiner Ankündigung gemäß will ich nun die Parallel-Passage in den „Grundrissen“ vorstellen und kommentieren (Ausg. Berlin 1953, S. 180 ff.). Sie geht vom Geld aus und geht zugleich nicht von ihm aus. Von vornherein wird nämlich gesagt, nicht „Geld […] in seiner Bestimmung als solches, sondern als K a p i t a l “ stehe zur Debatte. Geld als Kapital sei ein sich erhaltender Wert, und zwar könne es sich nur durch Vermehrung erhalten. Die Frage ist, wie ihm dazu verholfen wird. Antwort: Es braucht Gebrauchswerte, die ihm zur Selbsterhaltung durch Selbstvermehrung verhelfen. Nur Dinge, die das tun, sind fürs Kapital Gebrauchswerte. Von welchen kann man sagen, dass sie sich eignen? Es folgt noch einmal die Abgrenzung vom „Geld als solchem“, das sich offenbar n i c h t eignet, denn man weiß ja, es ist dazu da, gegen Waren getauscht und somit, wie man sagt, ausgegeben zu werden. Das Geld ist dann weg, und daraus ergibt sich ja schon, dass Kapital nicht Geld ist, obwohl umgekehrt Geld Kapital sein kann und zu ihm auch wird, dies aber nur dann, w e n n Kapital es zum Verkörperungsmedium macht.
Nachdem Marx die Nichteignung des Geldes bemerkt hat, stellt er fest, dass es sich doch eignet: „Wir haben schon gesehn beim Geld, wie der als solches verselbständigte Wert – oder die allgemeine Form des Reichtums – keiner andren Bewegung fähig ist, als einer quantitativen; sich zu vermehren. Seinem Begriff nach ist er der Inbegriff aller Gebrauchswerte; aber als immer nur ein bestimmtes Quantum Geld (hier Kapital) ist seine quantitative Schranke im Widerspruch zu seiner Qualität. Es liegt daher in seiner Natur beständig über seine eigne Schranke hinauszutreiben. (Als genießender Reichtum, z.B. in der römischen Kaiserzeit, erscheint er daher als grenzenlose Verschwendung, die auch den Genuss in die eingebildete Grenzenlosigkeit zu erheben sucht, durch Verschlingen von Perlsalat etc.)“
Wir finden nichts, was wir beanstanden könnten. Jedes Geld ist der Vermehrung „fähig“, es k a n n vermehrt werden. Aber nur vom „Geld (hier Kapital)“ sagt Marx, Vermehrung liege in seiner „Natur“. Der „Perlsalat“ muss im Zusammenhang mit anderen Passagen gelesen werden, wo Marx betont, dass die Vermehrung von Kapital keine Sache des Genusses ist. Wo es sich um Genussvermehrung handelt, wird früher oder später ein Sättigungspunkt erreicht, selbst in der spätrömischen Dekadenz, das Kapital aber findet niemals ein Ende.
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Die Fortsetzung des Gedankengangs läuft konsequent in den Bahnen des Geldes als Kapital, nicht des Geldes als solchem. „Für den Wert, der an sich als Wert festhält, fällt schon deswegen Vermehren mit Selbsterhalten zusammen“: Das ist nicht Geld als solches, denn von dem war zwar gesagt, es sei „verselbständigter“ Wert, nicht aber, es sei ein Wert, der an „sich festhält“, der also zum Selbst des „Selbsterhaltens“ geworden ist. Das ist Geld als Kapital.
Im nächsten Schritt stellt Marx fest, dass Geld zwar Geld als Kapital sein mag, damit aber noch „keineswegs die Fähigkeit [hat], die es seinem allgemeinen Begriff nach haben soll, alle Genüsse, alle Waren, die Totalität der materiellen Reichtumssubstanzen zu kaufen“. Es folgt die Kapitaldefinition: „Als Reichtum festgehalten, als allgemeine Form des Reichtums, als Wert, der als Wert gilt, ist es also der beständige Trieb über seine quantitative Schranke fortzugehn; endloser Prozess.“ „Wert, der als Wert gilt“ ist nun bereits eine unklare Formulierung. In Anbetracht der Sätze zuvor wird man übersetzen „Wert, der nicht nur verselbständigt ist, sondern an sich als verselbständigtem Wert auch festhält“, wie ein nie aufhörender Sturm. Aber hat auch Marx so unterschieden?
Die Undeutlichkeit trägt den Sieg davon, denn am Ende heißt es: „Das Geld als Geldsumme ist gemessen durch seine Quantität. Dies Gemessensein widerspricht seiner Bestimmung, die auf das Maßlose gerichtet sein muss. Alles das, was hier vom Geld gesagt ist, gilt noch mehr vom Kapital, worin das Geld in seiner vollendetsten Bestimmung sich eigentlich erst entwickelt. Als Gebrauchswert, d.h. als nützlich, kann dem Kapital als solchem gegenüber nur das es Vermehrende, Vervielfältigende, und daher als Kapital Erhaltende stehn.“ Hier wird zwar immer noch Geld als solches und Geld als Kapital unterschieden. Doch nun ist Geld als solches nicht mehr nur, wie oben, „fähig“, vermehrt zu werden, sondern Vermehrung ist seine „Bestimmung“ geworden; es kann nicht mehr nur, sondern „muss“ auf Maßlosigkeit hinauslaufen. Sehen wir näher hin, hält Marx selbst jetzt noch eine feine Differenz aufrecht, indem er zwischen Bestimmung und „vollendetster“ Bestimmung des Geldes unterscheidet: Erst wenn Geld „am vollendtsten“ ist, „muss“ es „auf das Maßlose gerichtet sein“.
Ist es nur erst irgendwie vollendet, kann es wohl auch mit Maß einhergehen. Oder? Der Marxsche Gedankengang ist an diesem Punkt konfus geworden. Die Aussage, dass vollendetes Geld sich als Kapital noch mehr vollende, bis dahin, einen „vollendetsten“ Zustand zu erreichen, worin sich aber nur zeige, dass Kapital schon in der ersten Vollendung, dem ursprünglichen Geld gesteckt habe, ist offenbar unsinnig.
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Es bleibt konfus, aber nun wird die Konfusion fruchtbar:
„Zweitens. Das Kapital seinem Begriff nach ist Geld, aber Geld, das nicht mehr in der einfachen Form von Gold und Silber, auch nicht mehr als Geld im Gegensatz zur Zirkulation existiert“ – will sagen, das auch nicht als Schatz im Sparstrumpf vom Markt ferngehalten wird (der Markt wird zu Marx‘ Zeit gern mit dem Blutkreislauf verglichen, deshalb „Zirkulation“) -, „sondern in der Form aller Substanzen – Waren. Insofern steht es als Kapital daher nicht im Gegensatz zum Gebrauchswert, sondern existiert außer dem Geld eben nur in Gebrauchswerten.“
Man kann doch nicht im Ernst sagen, Geld „existiere in der Form“ a l l e r Waren. Denn dann müssten a l l e Waren Geld sein. Tatsächlich sind aber nur die Waren „Gold und Silber“ Geld. Indem Marx für alle und diese besonderen Waren denselben Ausdruck „Geld“ verwendet, spricht er konfus. Aber die Konfusion ist fruchtbar, weil sie aufgelöst werden kann und dann eine Unterscheidung herausspringt: Es gibt die „einfache Form“ des Geldes, und es gibt Geld „in der Form aller Substanzen“. Dieses Geld aber, das sich so unterscheiden lässt, ist hier eindeutig und von Anfang an als Kapital bezeichnet worden. Wir sind deshalb berechtigt, überall da, wo Marx „Geld“ sagt, den Ausdruck „Kapital“ zu substituieren. Dann verschwindet die Konfusion. Dann wird ausgesagt, dass K a p i t a l nicht nur im Gold und Silber „existiert“, also in der „einfachen“ Geldform, sondern auch „in der Form aller Waren“.
Kapital gibt es in Geldform und sonstiger Warenform. Es ist nicht Geld, Geld ist vielmehr gegebenenfalls eine seiner beiden Verkörperungen. Damit man nicht meint, das sei Metaphysik, sei an den Anfang der Marxschen Überlegung erinnert: Das war die Frage, welcher Gebrauchswerte sich das Kapital bedienen kann, um sich zu vermehren. Wir haben jetzt die Antwort: Es kann sich des Geldes und der sonstigen Waren bedienen. Das lässt sich auch so ausdrücken, dass das Kapital ein Kreislauf ist, nicht G allein und auch nicht W allein, sondern G-W-G‘ in „endloser“ Wiederholung.
Diese Bewegung, mit der sich Marx in die Konfusion wagt und sie dann auflöst, ist genau das, was man Denken nennt. Es ist noch nicht fertig. Denn wie Marx sieht, hat die Auflösung nur eine neue Konfusion heraufbeschworen: Wenn alles Geld und alle Waren immer schon Kapital sind (was sie nicht sein müssen, aber sein können), dann bleibt weiter die Frage offen, wie Kapital überhaupt möglich ist, das heißt seinem Vermehrungszwang gehorchen kann. Alles Geld, alle Waren nützen ihm ja nichts, wenn unterstellt ist, dass sie schon Kapital s i n d , als solches immer schon funktionieren. Wie w e r d e n sie es aber? Worauf soll sich das Kapital denn sonst noch stützen können, um es selbst zu werden? Was gibt es über Geld und Waren hinaus? Ein „Gegensatz zum Kapital“ wird gebraucht, weil es nicht autark ist, sondern eine Zufuhr braucht, die ihm die Selbstvermehrung erst erlaubt. Diese Zufuhr ist natürlich die Arbeit.
Indem er das sagt, hat Marx auch die zweite Konfusion aufgelöst: Da alle Waren Kapital sind, scheint keine Kapital e r z e u g e n zu können – „Nach dieser Seite hin kann das Gegenteil des Kapitals nicht selbst wieder eine besondre Ware sein“ -, man kann es aber so betrachten, dass Waren „vergegenständlichte Arbeit“ sind, und dann ist man eben bei der Arbeit. Arbeit ist keine Ware, doch da sie Verausgabung von Arbeitskraft ist, kann diese zur Ware gemacht werden. „Der einzige Gebrauchswert daher, der einen Gegensatz zum Kapital bilden kann, ist die Arbeit“. Damit ist die Ausgangsfrage beantwortet, welche Gebrauchswerte sich eignen, dem Kapital zur Selbsterhaltung durch Selbstvermehrung zu verhelfen.
Wir haben das Protokoll eines unabgeschlossenen Denkens erörtert. Es ist auf einen zentralen Punkt gestoßen, der erst noch entfaltet werden muss. Marx ist sich dessen bewusst: „Diese Nebenbemerkung ist vorweggenommen, muss erst entwickelt werden; by and by.“ Aber damit meint er nun schon die Frage, wie sich Kapital und Arbeit zueinander verhalten. Die Frage, was Geld als solches von Geld als Kapital unterscheidet, wird er nicht „entwickeln“, sondern eher vergessen.
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Solche Textexegesen machen sicher niemandem Spaß. Aber wir haben etwas gewonnen: Wenn, so sahen wir, Geld „als Kapital“ schon vorausgesetzt ist, dann kann Kapital aus Geld auch gefolgert werden. Wenn nicht, dann nicht, oder nur um den Preis der Konfusion. Mit dieser Einsicht in eine Tautologie, mehr ist es nicht, werden wir zu einem späteren Zeitpunkt die Auslegung derer prüfen, die sagen, Marx habe sich im Kapital, Erster Band, einer „logischen“ Darstellungsmethode bedient; die gleichzeitig sagen, Marx habe von vornherein kapitalistisches Geld unterstellt; und die zuletzt gegen jede überhaupt denkbare, vor- wie nachkapitalistische Geldform polemisieren, wie Marx selber das auch tut. Im Begriff eines nachkapitalistischen Geldes sehen sie einen Widerspruch, der nicht aufgelöst werden kann. Wie können sie das aber begründen? Wo wäre im Ersten Band das „logische“ Argument? Es ist keins zu sehen.