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Die beiden letzten Notizen haben eine Argumentationslücke in der Marxschen Geldtheorie gezeigt, nämlich dass er der puren Quantität des Geldes die Fähigkeit zuschreibt, den Geldhaber zur unendlichen Geldmehrung zu stimulieren, dazu also, Kapitalist zu werden. Dies erschien uns als fetischistisches Denken, in dem die Frage, weshalb unendliche Geldvermehrung erst in der Neuzeit zur ökonomischen Basis der Gesellschaften wurde, völlig unbeantwortet bleibt. Eine alternative Erklärung habe ich in vielen vorausgegangenen Notizen anzubahnen versucht: Unendliche Geldvermehrung musste erst einmal überhaupt „gewollt“ werden, und nicht nur von bestimmten Personengruppen – Kaufleuten -, sondern vom Gemeinwesen, jedenfalls seinem Staat. Dies setzte den Fall der alten Religionen voraus und nahm in Europa den Verlauf, dass das antike und mittelalterliche Christentum von einer neuen, der „deistischen“ Religion erst zunehmend überformt und dann auch weithin ersetzt wurde.
Heute will ich auf eine andere Argumentationslücke der Marxschen Geldtheorie aufmerksam machen. Ich nehme dafür das so schmale wie inhaltsreiche Buch des Tübinger Soziologen Christoph Deutschmann in Anspruch: Die Verheißung des absoluten Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus, Frankfurt/Main New York 1999. Der Übergang ist fließend, denn auch Deutschmann schreibt der Quantität des Geldes jene Fähigkeit zu, die Menschen zum Vermehrungseifer anzustacheln. Ja, er rundet den Gedanken erst ab, indem er zeigt, dass „Fetisch“ nicht nur eine Metapher, sondern Geld wirklich im religiösen Kontext entstanden ist und den religiösen Charakter auch im Kapitalismus keineswegs verloren hat. Das stimmt zu meiner eigenen Untersuchung, auch wenn ich nicht wie er von den archaischen Religionen recht umstandslos zur heutigen Kapitalreligion gesprungen bin, als wäre nicht dazwischen das Christentum und sein deistischer Bastard gewesen. Deutschmann kommt am Ende zum selben Schluss wie ich, dass die bessere Zukunft nur in einer Entkapitalisierung und damit Entheiligung des Geldes liegen kann. Sie liegt also in einer Geldwirtschaft. Die Unvereinbarkeit seines Schlusses mit der vorausgegangenen Kritik der Geldquantität fällt ihm nicht auf.
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Wichtig ist Deutschmanns Hinweis, dass Geld ein Medium der Möglichkeit ist, anders als die Neoklassik in der ökonomischen Theorie und ihr folgend Parsons, Luhmann und andere es wahrhaben wollen: Diese sitzen „der schlichten Vorstellung auf, die Wirtschaft habe es mit nichts anderem zu tun mit der rationalen Allokation einer gegebenen ‚Menge‘ knapper Ressourcen. […] Das Gegenüber des Geldes ist nicht eine wie immer gegebene Güter’menge‘, sondern die Gesamtheit des in der gegebenen Situation Hergestellten und Herstellungs m ö g l i c h e n .“ (S. 72 f.) Darin liegt, dass das Geld Möglichkeit hoch zwei ist: Möglichkeit, diese oder eine andere vorhandene Ware zu kaufen, und Möglichkeit, eine mögliche Ware zur wirklichen zu machen. Wie Deutschmann sagt, erschöpft sich Geld nicht in den „Tauschoptionen der Wirtschaftssubjekte“, sondern man muss differenzieren „zwischen Geld und Geldvermögen“, das heißt „zwischen den Optionen selbst und der Option, Optionen zu haben“ (S. 48).
Wir wollen uns nicht lange dabei aufhalten, dass er hinter die Differenzierung bald zurückfällt, in die typische Konfusion: „Das Geld ist nicht nur Tauschmittel, sondern Kapital. Es ratifiziert nicht nur die Bewegung der Güter, sondern initiiert auch ihre Erzeugung.“ (S. 73) Nein, es ist mehr als Geld, nämlich Kapital, wenn es zur Erzeugung verkaufbarer Güter verwandt wird, und es ist weiter nichts als Geld, wo es „nur die Bewegung der Güter ratifiziert“. Für die Behauptung „Das Geld ist […] Kapital“ hat Deutschmann so wenig ein vorzeigbares Argument wie andere. Aber dass er den Möglichkeitscharakter des Geldes unterstreicht, führt weiter.
Da sieht man, wie es gerade ihm genutzt hätte, sich mit der Geschichte des Christentums auseinanderzusetzen. Er wäre wie wir darauf gestoßen, dass Gott im Mittelalter als Möglichkeit gefasst und ihm im Übergang zur Neuzeit auch Unendlichkeit zugeschrieben wurde. Wie in der 31. Notiz beiläufig bemerkt wurde, enthält der Gedanke des Cusanus, Gott sei eine mögliche Gesamtunendlichkeit, der die Schöpfung als ebenso umfassende Gesamtverwirklichung gegenüberstehe, „genau das, was wir heute unter Geld verstehen“: „Das Geld, wenn man es denn hat, ist die unendliche Kaufmöglichkeit.“ Der Ton lag indes auf „heute“. H e u t e ist Geld diese unendliche Möglichkeit, denn es ist Kapital. Damit ist die Frage, was es morgen sein könnte, nicht beantwortet.
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Uns muss nun vor allem beschäftigen, dass Deutschmann den Gedanken, Geld sei unendliche Möglichkeit, nicht nur Georg Simmel zuschreibt, dessen Philosophie des Geldes aus dem Jahr 1901 ihn thematisiert und breit ausgeführt hat, sondern auch Marx. Bei Marx kommt er aber nur in den Frühschriften vor. Dass Geld Macht verleihe, unterstreichen die Pariser Manuskripte von 1844: „alles das, was du nicht kannst, das kann dein Geld: es kann essen trinken, auf den Ball, ins Theater gehen, es macht sich die Kunst, die Gelehrsamkeit, die historischen Seltenheiten, die politische Macht, es kann reisen, es kann dir das alles aneignen: es kann das alles kaufen; es ist das wahre V e r m ö g e n .“ (Zitat S. 91) Im Maß, wie Marx die ökonomische Wissenschaft studiert, verschwindet der Gedanke und macht einem anderen Platz, dem, dass Geld die „allgemeine Ware“ sei. Das wird von Deutschmann nicht nachvollzogen. Dabei ist er nahe dran, denn derselbe Vorgang fällt ihm bei Parsons auf.
Auch der hatte zunächst im Geld eine Macht und die „generalisierte ‚Kaufkraft'“ gesehen, war dann aber zur subtileren Theorie der „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien“ übergegangen, wo Geld „als eine auf das Wirtschaftssystem bezogene ‚Spezialsprache'“ erscheint, „die die wechselseitige Anschlussfähigkeit sozialer Handlungen in diesem System sicherstellt“ (S. 42 f.). Wie Deutschmann zeigt, lief es darauf hinaus, die nähere Bestimmung des Geldes der ökonomischen Wissenschaft zu überlassen (S. 44), wo man, wie gesehen, die passgenaue, möglichkeitslose Hohlform gegebener „Gütermengen“ in ihm sah. Auch bei Marx wird es zu einer solchen Form, mit den Unterschied nur, dass sie nicht bloß gegebene, sondern unendlich viele Güter in sich soll aufnehmen müssen. Es ist da wie dort eine Möglichkeit, die, weil sie sich verwirklichen m u s s , den Namen „Möglichkeit“ gar nicht verdient. Der reife Marx hütet sich denn auch, vom „Können“ des Geldes noch weiter zu sprechen. Das Geld ist nun „allgemeine Ware“, will sagen, alle Waren, die es gibt und geben kann, passen in seine Form und sollen sie ausfüllen.
Dass Geld überhaupt Ware ist, hat Deutschmann unterstrichen. In der deutschen Marxrezeption ist es bestritten worden. Weil Geld keine Golddeckung mehr hat und ihrer, wie es scheint, auch nicht bedarf, schließt Michael Heinrich, es sei nicht Ware sondern „Zeichen“ (Die Wissenschaft vom Wert, Hamburg 1991, S. 188 ff.). Deutschmann erinnert indes daran, dass Geld „knapp“ gehalten werden muss: „seine ‚Menge‘ muss auch da, wo die Goldbindung abgeschafft ist, durch eine Zentralbank reguliert werden. Das aber heißt nichts anderes als: Es muss stets so behandelt werden, a l s o b es eine Ware wäre.“ (S. 58 f.) Dies kann man auch so ausdrücken, dass es die m ö g l i c h e Ware ist, nicht nur die „allgemeine“. Die Als ob-Ware wird wahlweise mit der einen oder andern wirklichen Ware vertauscht. Wer sie aber in Mengen hat, kann die eigentliche Möglichkeits-Ware kaufen, die warenfundierende, damit auch geldfundierende Ware, die Arbeitskraft.
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Dass bei Marx etwas nicht stimmt, sieht man an seiner Behauptung, es sei bereits eine Verrücktheit, wenn in einer Ökonomie neben besonderen Waren noch das Geld als die allgemeine Ware vorkomme, denn das sei so, als gäbe es neben allen Tieren noch das Tier als solches. Es ist aber überhaupt nicht verrückt, zwischen allen Tieren und dem m ö g l i c h e n Tier zu unterscheiden. Ich möchte ein Haustier haben: Da es welche gibt, ist das möglich. Ich muss es nur holen, entweder vom Bauernhof, wenn mir einer gehört, oder vom Markt, in welchem Fall ich mich des „möglichen Haustiers“ bediene – des Geldes. Dann scheint das Tier vom Geld herbeigeholt zu werden. In Wahrheit tun es natürlich Arbeiter, und hier kann die Polemik ansetzen: Das Geld scheine zu „können“, was doch nur der Arbeiter „gekonnt“ habe. Eins kann das Geld aber wirklich: mir eine Wahl erlauben. Es ist möglicher Pudel, aber es ist auch mögliche Pekinese. Ob ich den einen oder anderen Hund wähle, hängt nur von meiner Wenigkeit ab, und von erschwingbarem Geld. In einer arbeitsteiligen Wirtschaft, wo ich nicht alles selbst produziere, was ich genießen will, ist das nicht gering zu schätzen.
Gewiss brauche ich mehr ökonomischen Freiheitsraum als diesen bescheidenen. Ich darf zwischen Hundesorten wählen oder bei dickerem Portemonnaie zwischen VW und Opel, doch ob die Autoindustrie auf Kosten des Schienenverkehrs wächst oder umgekehrt, entscheiden andere. Um auch hier wählen zu können, braucht es mehr als Geld, nämlich eine Wirtschaftsdemokratie. Das ändert aber nichts daran, dass ich nicht nur die große gesellschaftliche Freiheit brauche, sondern auch diese kleine, die es mir selbst überlässt, den Hund zu wählen, oder sagen wir die Wohnung. Als einzelnes Individuum bin ich klein und brauche einen auf mich zugeschnittenen kleinen Freiheitsraum. Wenn mir den nicht das Geld verschafft, gibt es ja nur noch diese Alternative: Eine Instanz teilt mir die Wohnung zu, oder Wohnungen wie überhaupt alles, wozwischen ich wählen will, ist im Überfluss da und wird kostenlos verteilt. Nun wird man sich schnell einigen, dass solche Kostenlosigkeit das erstrebenswerte Ziel wäre, auch dass dann Geld und bürokratische Zwangsverteilung gleich überflüssig würden. Dass dies aber ziemlich trivial ist, hat der polnische kommunistische Ökonom Oskar Lange vorgerechnet:
„Wenn die Verteilung eines Teils der Waren und Dienstleistungen kostenlos erfolgt, braucht sich das Preissystem nur auf die restlichen zu beschränken. […] Dies bedeutet lediglich, dass die freie Verteilung sozusagen einen ’sozialisierten Sektor‘ der Konsumption darstellt, deren Kosten durch Besteuerung gedeckt werden (denn die Reduzierung der Geldeinkommen der Konsumenten ist genau die Besteuerung zur Deckung der Konsumption durch kostenlose Verteilung).“ Man mag sich nun vorstellen, die Gesellschaft werde nach und nach so produktiv, dass immer weniger Individuen, die abwechselnd produzieren, so dass alle beteiligt sind, immer mehr Steuern abführen: bis ihnen zuletzt überhaupt nichts mehr ausgezahlt wird, sie dafür aber, als Gegenleistung, auf die ganze Fülle der Güter kostenlos zugreifen können. Das wäre „der Kommunismus“. Bevor er aber erreicht ist, ist man mit der genannten Alternative konfrontiert: bürokratische Verteilung oder Geld. Und da ist Geld besser. (Zur ökonomischen Theorie des Sozialismus [1936/37], in: Ökonomisch-theoretische Studien, Frankfurt/M. Köln 1977, S. 259-322, hier S. 319 f.)
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Gehen wir noch einmal zu Parsons zurück. Der hatte sich also nicht damit begnügt, im Geld eine „Kraft“, „Kaufkraft“ zu sehen, sondern ging zu seiner Theorie der „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien“ über, wo Geld, ich zitiere es noch einmal, „als eine auf das Wirtschaftssystem bezogene ‚Spezialsprache'“ erscheint, „die die wechselseitige Anschlussfähigkeit sozialer Handlungen in diesem System sicherstellt“. Ich habe oben gesagt, Deutschmann zeige, wie Parsons im Zuge dessen „die nähere Bestimmung des Geldes der ökonomischen Wissenschaft […] überlassen“ habe. Doch er zeigt es nicht hinreichend. Schon dass man den Eindruck gewinnt, Parsons hätte bei der „Kraft“ bleiben sollen, weil sie Simmels und Deutschmanns Terminologie des Geldes als der Möglichkeit nahe kommt, ist problematisch. Denn im Tausch ist keine Warengravitation wirksam. Wir gewinnen nichts, wenn wir uns ihm physikalistisch mit „Kraft“ausdrücken nähern. Eine „Spezialsprache“ zu unterstellen, ist wirklich besser. Gut tut Deutschmann daran, in Erinnerung zu rufen, dass schon Marx von der Sprache der Waren sprach. Hier müsste dann aber gezeigt werden, worin das Spezielle der „Spezialsprache“ besteht und ob sie alternativlos ist.
Welche Sprache sprechen die Waren bei Marx? Die der Gleichungsmathematik: „x Ware A = y Ware B“. Nicht anders in der Neoklassik oder bei Keynes. Aber diese Modellierung wird den Tatsachen nicht voll gerecht. Wenn Geld Medium der Möglichkeit ist, ist es nicht nur das Gleiche wie eine, mehrere oder alle Waren, sondern auch das, womit man aus mehreren oder allen Waren wählt. Es wird nur im Grenzfall der einen einzigen Ware gegenüberstehen, die gewählt werden muss, wo der Tausch also nicht ernsthaft ein Wahlakt ist. Man kann sich nun eine ganze Wirtschaft denken, die dazu zwingt a l l e Waren zu „wählen“, vorhandene wie noch mögliche. Ihr wäre das Gleichungszeichen hinreichend, würde es doch zum Ausdruck bringen, dass alles, was gekauft werden kann, wirklich gekauft wird oder es andernfalls zur Krise kommt. Wir haben diese Figur des „Zwangs, alles zu tun, was möglich ist“, bereits kennen gelernt: Es ist die Formel des Kapitals. Jene Tauschlogik, auf die das Gleichungszeichen paßt, kann man sich nicht nur denken, sondern sie ist da. Aber dann ist die Sprache d e s K a p i t a l s gleichungsmathematisch, nicht die des Geldes, oder des Geldes eben nur dann, wenn es „Geld als Kapital“ ist.
„Geld als Geld“ spricht eine andere Sprache, die des Fragespiels. Es steht für meine Frage, ob ich Ware A oder Ware B wähle. Ich kann auch fragen, ob ich „alles“ wählen will. So wie ich fragen könnte, ob es alle Uhrzeiten gleichzeitig spät ist. Doch da nicht Frage = Antwort, muss ich nicht Ja sagen. Mit andern Worten muss es kein Kapital geben. Das „Geld als Geld“ jedenfalls nötigt nicht dazu. Ich möchte jetzt nur eine einzige Schlussfolgerung ziehen, in aller Kürze: Es sind offenbar ganz verschiedene ökonomische R a t i o n a l i t ä t e n möglich, sei’s alternativ, sei’s nebeneinander, zum Beispiel die gleichungsmathematische und die des Fragespiels. Auch dem wird man Rationalität doch nicht absprechen. Wer weiß, vielleicht ist es die höhere? Ich setze diese Betrachtung in der nächsten Notiz fort. „Rational Choice“ wird eine passende Überschrift sein.