1
In der vorigen Notiz begann ich eine kleine Erörterung der Philosophie Adornos unter dem Aspekt, dass er der Stammvater einer Schule von Marx-Interpreten ist, die sich heute als „neue Marx-Lektüre“ bezeichnet und die für uns deshalb interessant ist, weil sie sich gegen jegliche Ware-Geld-Ökonomie wendet; wir haben bereits gesehen, zu unserm Erstaunen vielleicht, dass sie darin zwar mit Marx übereinstimmt, mit Adorno aber gerade nicht. Einen ersten Eindruck von Adornos Haltung zur „Tauschgesellschaft“ gewannen wir aus seinem wohl meistgenannten Buch, der Dialektik der Aufklärung, das er zusammen mit Max Horkheimer schrieb; davon kehrten wir indes mit dem Gefühl zurück, von seiner Philosophie und Soziologie noch nichts begriffen zu haben. Dies Buch bietet eine bürgerliche Früh- und archaische Vorgeschichte des Tausches, doch schon mit der davon untrennbaren Frage, welcher Begriff von Geschichtlichkeit die Verfasser leitet, lässt es uns allein.
Ich setze daher noch einmal neu an, diesmal an einer charakteristischen einzelnen Passage, die vom Eigentum handelt. Ihre Interpretation wird uns an den archimedischen Punkt dieser Philosophie führen. Sie mündet in den berühmten Satz, auf den meine Überschrift Bezug nimmt, und ich will sie zunächst einfach zitieren:
„‚Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein‘, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müsste man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu seinem Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas besitzt. Die Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, dass das Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, dass die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, dass kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; dass man aber dennoch Eigentum haben muss, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt. Aber die Thesis dieser Paradoxie führt zur Destruktion, einer lieblosen Nichtachtung für die Dinge, die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt, und die Antithesis ist schon in dem Augenblick, in dem man sie ausspricht, eine Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Minima Moralia, Erster Teil Nr. 18)
Indem die Passage mit Hausbesitz beginnt und von diesem zur Frage des Beisichselbstseins springt, scheint sie anfangs kaum von einer Passage bei Heidegger verschieden, über die sich Adorno böse belustigt: „Die eigentliche Not des Wohnens besteht nicht erst im Fehlen von Wohnungen“, zitiert er ihn, sondern „darin, dass die Sterblichen … das Wohnen erst lernen müssen.“ (in Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/M. 1964, S. 31) Sie unterscheiden sich aber doch ums Ganze, denn während der Hausbesitzer Heidegger das Wohnen als Äußerlichkeit abtut, will Adorno gerade über den Hausbesitz nachdenken. Wie er dann feststellt, kann er gerade deshalb, weil Wohnungen fehlen – nicht ihm zwar, aber anderen -, sich weder äußerlich noch innerlich beheimatet fühlen. Innerlich schon gar nicht: Der Planet, auf dem Menschen unter freiem Himmel verhungern, kann schwerlich innerliches Wohnen hervorgebracht haben, außer wenn jemand sich selbst belügt. Weil solches Wohnen aber nicht da ist, kann es auch nicht „gelernt“ werden.
2
Nach dieser Einleitung charakterisiert Adorno das Verhältnis des Einzelnen zum Eigentum in zwei Stufen; beide artikulieren Widersprüche, doch nur der erste Widerspruch scheint auflösbar, der zweite ist es nicht mehr. Auf der ersten Stufe ist die Möglichkeit einer „Fülle“ unterstellt, die einschlösse, dass alle Eigentum hätten und niemand in Not wäre, es zu verlieren. Dann wäre man vom eigenen Eigentum nicht mehr „beschränkt“, bräuchte es nicht klammernd festzuhalten, könnte es aufgeben um veränderten oder ganz anderen Eigentums willen, durch dessen Besitz man selbst ein anderer würde. Es würde einem in dem Sinn „nicht gehören“, dass man umgekehrt i h m nicht gehören würde, es ohne Angst überschreiten könnte. Dabei ist berücksichtigt, dass jeder seinem Eigentum mindestens insoweit gehört, als er nicht ohne äußerlichen Stützpunkt sein kann, in welcher individuierten Version dieser auch auftrete.
In solcher „Fülle“ läge es überhaupt nicht nahe, dass ich ein Eigentum, weil es mir „nicht gehört“, mit „liebloser Nichtachtung“ behandle. „Schlechtes Gewissen“ gäbe es ohnehin nicht, weil ja a l l e Eigentum hätten. Lieblosigkeit aber deshalb nicht, weil „Gehören“ nicht mehr die Bedeutung hätte, die wir kennen. Es würde sich ein Unterschied geltend machen, den ich wieder nach meinem üblichen linguistischen Modell beschreibe: Mir kann etwas in der Art gehören, wie der Gehorsam dem Befehl, oder in der Art, wie die Antwort der Frage. Wenn ich mich an mein Eigentum klammere, weil ich weiß, dass andere keins haben und ich meines nicht verlieren will, dann gehört es mir wie das Gehorsame dem Befehlenden, und dann gilt, wie wir eben sahen, auch das Umgekehrte, dass i c h i h m gehöre und eigentlich unter s e i n e m Befehl stehe. Das ist eine dumme Situation, freilich keine der Lieblosigkeit, denn ich werde meinen Besitz in Ordnung halten, und zwar in meiner Ordnung, nicht in seiner eigenen. „Schutz gegen Gehorsam“ war lange genug der Begriff von Liebe.
Aber fällt nun, wenn wir ihn aufgeben, Liebe überhaupt fort? Das ist nicht der Fall. Wenn mir etwas gehört wie die Antwort der Frage, werde ich es doch viel mehr lieben, ich werde mir sagen, dass ich jetzt erst weiß, was Liebe ist. Denn im Unterschied zum Gehorsam ist die Antwort unberechenbar. Ich weiß nicht, welche es sein wird, ich weiß nicht einmal, ob sie mich, die Frage, überhaupt stehen lässt oder mir widerspricht, mich auflöst. Ich weiß aber, selbst die mich auflösende Antwort g e h ö r t mir in dem Sinn, dass sie m i c h beantwortet, was ein höchst seltsames und seltenes Geschehen ist, eben das, was man Liebe nennt. Bizets Carmen handelt davon. Es ist nicht so, dass ich lieblos werde, wenn ich aufhöre, mich ans Eigentum meiner Frage zu klammern, sondern im Gegenteil: Gerade dann bin ich liebesfähig.
So scheint der Widerspruch vollkommen aufgelöst und die schlimme zweite Stufe ganz unnötig zu sein. Aber wir wissen, er k ö n n t e nur aufgelöst sein, ist es aber nicht. Denn erstens leben wir nicht in der „Fülle“ des Eigentums, obwohl sie möglich wäre. Und zweitens brauche ich, um liebesfähig sein zu können, eine andere Person, die auch liebesfähig sein kann. Wir werden es aber beide nur in Maßen sein, weil wir doch nicht umhin kommen, uns an unser Eigentum zu klammern, das äußerliche und deshalb auch das innerliche. So müssen wir feststellen, dass Adornos zweite Stufe die Realität beschreibt, während die erste einen Wunschtraum andeutet, den man allenfalls, wie ich sagte, i n M a ß e n umsetzen kann.
Aber gerade weil das so ist, staunen wir nun darüber, wie Adorno seinen Gedankengang zusammenfasst: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Überhaupt gar keins? Auch nicht in der Art von Romeo und Julia? Und wäre es nicht denkbar, dass sich aus dem Falschen das Richtige schrittweise entwickelt? Adornos Satz scheint gerade das ausschließen zu wollen. Denn wenn es gar nichts Richtiges im Falschen gibt, kommt man aus diesem niemals heraus. Nichts geschieht nämlich ohne Grund, und der Grund des Richtigen kann nur das Richtige sein, das wenigstens in Spuren Richtige, nicht aber das ganz Falsche. Vielleicht wollte Adorno übertreiben? Nein, er hat eine bestimmte philosophische Haltung eingenommen.
3
„Die Kunst bestünde darin“, setzt das ein, was ich als erste Stufe seines Gedankengangs bezeichnete. Eine Floskel nur, doch wenn wir Adornos Gesamtwerk berücksichtigen, liest sie sich zweideutig. Adorno ist in erster Linie Kunstphilosoph, am meisten Philosoph der musikalischen Komposition, zu der er selbst auch Praktisches beitrug. Er war Schüler Alban Bergs; wenn man seine Streichquartettsätze hört, denkt man, dass er auch als Komponist bedeutend geworden wäre. Wenn ich sage, er war Kunstphilosoph, will ich ihn nicht auf eine Sparte reduzieren, im Gegenteil. Reflexion über Kunst kann wie Kunst selber eine Art sein, sich mit dem Idealen oder Utopischen auseinanderzusetzen. Für Hegel war Kunst das Scheinen der Wahrheit im sinnlichen Material. Adorno, der ihn wie jeder Marxist zu Rate zog, musste sich die umgekehrte Frage stellen, durch welche Aktivität sich Kunst zu einer Wahrheit verhält, von der kein Schein ausgehen kann, weil sie noch gar nicht da ist; sie mag sich anbahnen, insofern sieht man sie, aber worin sie das tut, wohin man also zu sehen hätte, weiß niemand sicher. Es ist das platonische Paradox der „Teilhabe“: Wenn die Idee des Guten undeutlich ist (Politeia 505a), ich mich gar über sie irre, wie kann ich dann an ihr teilhaben, sie meinem Denken und Handeln zugrunde legen?
Ob die Frage überhaupt beantwortbar ist, ist das eine – ein anderes, wie sie gestellt wird. Kunst und Kunstphilosophie haben eine besondere Art, sie zu stellen. Nämlich so, dass sie für den Raum zwischen der Utopie und der Gegenwart des Teilhabenden keine Zwischenschritte vorsehen. Kunst bildet das Ideale aufs Sinnliche u n m i t t e l b a r ab. Das versteht sich von selbst, denn sinnliche Wahrnehmung ist stets Wahrnehmung von Gegenwart. Man sollte meinen, dass sich dann Zukunft und Sinnlichkeit gar nicht verbinden lassen. Die Kunst kann es aber, indem sie phantasiert. Eine vermutete Zukunft kann dargestellt werden, als wäre sie schon da. Phantasierte Zukunft und realistisch wahrgenommene Gegenwart müssen sich im Kunstwerk begegnen. Es kommt dann entweder zur Überhöhung des Gegenwärtigen, wie es sein könnte, oder dazu, dass es, gespiegelt im Idealen, seine Verzerrtheit zeigt. Unter dem Gegenwärtigen ist sowohl ein Entwicklungsstand gesellschaftlichen Lebens zu verstehen als auch ein künstlerisches Material, etwa Ton und Farbe, auf einem bestimmten Gewohnheits- und Fähigkeitsstand seiner Bearbeitung.
Es gibt andere Mittel, die Frage der „Teilhabe“ zu beantworten. Wird die vermutete zukünftige Wahrheit im Wort abgebildet, kann der Weg zu ihr in Schritte unterteilt werden. Dann trägt der „nächste Schritt“, anders als das Kunstwerk, die Last des Utopiescheins nicht allein. Die Schritte, die noch folgen müssen, tragen sie mit. Im nächsten Schritt spiegelt sich vor allem der übernächste. Politik, die von der Utopie her denkt, würde so funktionieren. Man kann sich auch eine Philosophie vorstellen, die Zwischenschritte entwirft oder eine Methode vorschlägt, sie zu entwerfen. Diese Philosophie könnte vielleicht an Hegels „Dialektik“ anknüpfen, auch wenn Hegel selbst nur Zwischenschritte der Vergangenheit darstellt, weil er glaubt, in der Zukunft schon angekommen zu sein. Doch neben diesen und anderen Weisen, „Teilhabe“ zu versuchen, gibt es die Kunstphilosophie, die, weil ihr nun gerade Kunst Modell steht, so wenig an Zwischenschritte denkt wie diese selber. Und man sage nicht, dass sie rückständig sei, auch wenn Hegel es annahm. Sie täuscht sich weniger, denn die Schritte, die sie nicht geht, können sie auch nicht irreleiten. Ob Hegel wirklich größer ist als der Kunstphilosoph Schelling, wer weiß.
Die Sache ist freilich noch komplizierter. Es gibt Wortkunst, da kann auch der Kunst die Gestaltung von Zwischenschritten nicht völlig versperrt sein. Man sieht es am Roman und auch an neuzeitlicher Musik, die der Wortkunst darin ähnelt, dass sie Signifikanten zur Zeitfolge ordnet. Unmittelbarkeit des Utopiebezugs unterscheidet trotzdem auch sie von den nichtkünstlerischen „Teilhabe“-Formen. Die Zeitfolge selber ist es hier, die idealisiert wird oder die Ferne vom Ideal darstellt. Wir stellen nun aber fest, dass die neuere Kunst sich von der Möglichkeit, die selbst sie hat, Zwischenschritte zu gestalten, wieder abwendet. Vielleicht ist das der tiefste Sinn des Satzes, den Thomas Mann einen Komponisten sagen lässt, dessen Werke er Adorno auf dem Romanpapier entwerfen ließ: Er, Adrian Leverkühn, nehme die Neunte von Beethoven zurück. Seit dem Zweiten Weltkrieg hören sich Kompositionen so an, als seien sie Bauwerke, Statuen oder Gemälde, von denen jener Grundbegriff von Kunst abgezogen ist, sie sei das Scheinen der Wahrheit im sinnlichen Material. Man nimmt sie als halb gerundete, halb zerstörte Gegenwart wahr; man hört sie, als fielen Blicke hintereinander auf Teile einer „Konstruktion“, wie denn auch das Schlüsselwort von Adornos Ästhetischer Theorie lautet. Wenn das erst seit dem Zweiten Weltkrieg so ist, wird es auch mit ihm zusammenhängen.
Adorno sieht das so. Er schreibt: „Durch unversöhnliche Absage an den Schein von Versöhnung hält sie“, die neue Kunst, „diese fest inmitten des Unversöhnten, richtiges Bewusstsein einer Epoche, darin die reale Möglichkeit von Utopie – dass die Erde, nach dem Stand der Produktivkräfte, jetzt, hier, unmittelbar das Paradies sein könnte – auf einer äußersten Spitze mit der Möglichkeit der totalen Katastrophe sich vereint.“ (Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973, S. 55 f.) Selbst in einer solchen Epoche müsste Philosophie nicht den Entwurf des nächsten Schritts schuldig bleiben, und Politik würde es niemals tun; Adorno aber sieht, wie die zeitgenössische Kunst reagiert, und überträgt, was er mit guten Gründen für ihr Selbstverständnis hält, auf Philosophie überhaupt. „Zum Ende“ der Minima Moralia, Dritter Teil Nr. 153, schreibt er ganz allgemein:
„Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird.“
Ich bin begeistert von solcher Radikalität. Aber man stelle sich vor, was geschehen würde oder tatsächlich geschehen ist, wenn Menschen diese Perspektive eines Künstlers und Kunstphilosophen auf alle Kultur, Ökonomie und Politik unmittelbar zu übertragen versuchen. Die Antwort ist klar: Dann gibt es „kein richtiges Leben im falschen“ und dann führt nichts aus dem falschen heraus. Einen nächsten Schritt würden solche Menschen nicht vorschlagen, und wenn andere es tun, würden sie beweisen, dass der nächste Schritt so falsch ist wie der vorige, womit sie in ihrer Perspektive auch Recht hätten. Man kann von Adorno viel lernen – ich setze mein Referat noch fort -, nur das eine nicht, Strategie, sei’s politische oder ökonomische. Das müsste jedem klar sein, der sich in seine Nachfolge stellt.