Ich beginne hier ein neues Kapitel, in dem es um Methodenfragen geht, und eröffne es mit der Einschaltung eines Textes, den ich im Herbst 2009 geschrieben habe. Es handelt sich um die Rezension zweier Forschungsberichte über die Schule der „Neuen Marxlektüre“, die mich hier schon etliche Notizen hindurch beschäftigt hat und im jetzt beginnenden Kapitel noch weiter beschäftigen wird. Ursprünglich sollte die Besprechung im Freitag erscheinen, doch nachdem sie bereits eine Weile auf Halde gelegen hatte, schien mir besonders der erste Bericht, von Ingo Elbe, zu speziell, um ihn einer breiten Leserschaft unvorbereitet vorzustellen, während es sich dann ergab, dass der zweite, von Jan Hoff, in einem Freitag-Artikel über Japan auch ohne mich ganz passend vorgestellt worden war. Hier im Kontext dieses Blogs steht mein Text sicher nicht falsch, nicht unvorbereitet vor allem. Ihn an dieser Stelle mitzuteilen, scheint mir auch deshalb sinnvoll zu sein, weil er die Methodenfragen schon einmal anklingen lässt, denen ich mich zuwenden will.
Zuerst die bibliografischen Angaben: Ingo Elbe, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Akademie Verlag, 643 Seiten, Berlin 2008; Jan Hoff, Marx global. Zur Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit 1965, Akademie Verlag, 345 Seiten, Berlin 2009.
Theorie und Empirie
Marx im Westen von Ingo Elbe ist ein akribischer Bericht über eine wichtige Schule westdeutscher Marxforschung seit 1965. Worum geht es? Dass die Schulgründer ihrerseits Adorno-Schüler waren, erfahren wir recht bald, erst auf Seite 308 aber, was die „politischen Implikationen der Debatte“ sind – wogegen sie anrennt: „Wer den Zusammenhang zwischen Wert und Geld einerseits und Kapital andererseits als bloß kontingenten begreift, dem drängt sich ein marktsozialistisches Emanzipationsmodell quasi automatisch auf.“ Die Teilnehmer der „Debatte“ wollen einbleuen, dass es keinen Marktsozialismus geben kann, der nicht zugleich kapitalistisch ist, weil Ware und Geld das Kapital in seiner schlimmen Vollgestalt schon notwendig implizieren. Ob das stimmt oder nicht, ist zumal seit 1990, als die sowjetische Spielart von Sozialismus scheiterte, eine Frage von allgemeinem Interesse.
Wir können das schwer lesbare Buch nur erschließen, wenn wir uns im ersten Schritt auf völlig abstrakte Methodenfragen einlassen. Eine große Hürde gibt es vorab: Alle, die der Schule angehören, sind überzeugt, Marx habe in dem Kapitel über „Ware und Geld“, das sein Hauptwerk Das Kapital einleitet, „eine Erklärung empirisch erscheinender Reichtumsformen mittels einer nichtempirischen Theorieebene zu liefern“ beabsichtigt. Ich meine, man kann Marx nicht schärfer angreifen als mit dieser Behauptung, die sich übrigens bald in die ganz andere Behauptung verwandelt, die „Theorieebene“ sei zwar, wenn man näher hinsehe, sehr wohl empirisch, doch geschehe das aus Inkonsequenz, weshalb Marx gegen sich selbst verteidigt werden müsse.
Elbe weiß vielleicht gar nicht, wovon er spricht. Von Inkonsequenzen abgesehen, rekonstruiere Marx die „Geldform“ „nicht-preisbestimmt, also nicht-empirisch“, heißt es einmal. Der Umstand, dass es Preise gibt, ist aber gar keine Empirie, sondern nur eine sichtbare Tatsache. Empirie kommt nicht in der Natur vor, auch nicht in der gesellschaftlichen, sondern muss erst künstlich produziert werden; davon zeugt schon Galileis schiefe Ebene und noch der moderne Teilchenbeschleuniger. Davon zeugen auch die historischen Illustrationen im ersten Kapitel des Kapital, die keine Marxsche Inkonsequenz, sondern sein empirischer Verifikationsversuch sind.
Ich meine, man muss es so sehen: Wenn Marx „illustriert“, will er tatsächlich Empirie beibringen. Er argumentiert also nicht mit irgendwelchen Fakten, sondern mit künstlicher Faktizität im genannten Sinn. Die Empirie von Marx ist darin künstlich, dass seine Illustrationen nicht die Tatsächlichkeit, sondern nur die p r i n z i p i e l l e M ö g l i c h k e i t dessen aufweisen, was er zum Thema „Ware und Geld im Kapitalismus“ abstrakt behauptet. Für diesen Aufweis benötigt er gar nicht immer Illustrationen, die dem Kapitalismus selber entstammen.
Warum gibt es Kapital?
Wenn die Schule von einer „logischen“ Methode spricht, schwebt ihr eine „Dialektik“ vor und sucht sie herauszufinden, was denn darunter nur verstanden werden könne. Laut Elbe sind alle Beiträge der Schule „aus dem berechtigten Motiv“ gespeist, „dem Missbrauch des Wortes ‚Dialektik‘ den Kampf anzusagen.“ Den Vorwurf des Hegelianismus wies sie zurück, denn nicht Hegels „idealistische“, sondern Marx‘ „materialistische“ Dialektik sei die richtige. Da sie aber behauptete, das in „materialistischer“ Dialektik verfasste Kapital von Marx beginne mit einem Kapitel über Ware und Geld, das ohne Empirie rein innerbegrifflich „ableitend“ verfahre, war der Einwand nicht leicht von der Hand zu weisen.
Nebenbei gesagt, stünde sie wohl besser da, wenn sie an den Vorarbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung anknüpft hätte. Aus dem ist sie, wie gesagt, immerhin einmal hervorgegangen. Was der frühe Habermas über Dialektik schrieb, führt zwar nicht weiter, aber von Adorno hätte die Schule Einiges lernen können.
Schließlich bildete sich folgende Argumentationslinie heraus: Marx zeige völlig ohne Empirie, dass Warentausch notwendig die Existenz von Geld bedinge, Ware und Geld aber notwendig zur Existenz von Kapital führten. Der zweite Übergang gehe so vonstatten, dass unter allen Waren auch die Ware Arbeitskraft sei, welche vom Geldeigentum notwendig gekauft werde, denn damit der Geldwert nicht verfalle, müsse er vermehrt werden, eben durch Einschaltung der Arbeitskraft. Im übrigen liege im Geld selbst eine Vermehrungstendenz, weil es rein quantitativ bestimmt und somit grenzenlos sei; die Arbeitskraft, von diesem Geld eingekauft, verwirkliche nur dessen eigene Tendenz. „Materialistisch“ sei diese „Ableitung“ aber deshalb, weil sie natürlich nur greife, wenn Warentausch und somit Geld und ferner die Arbeitskraft als Ware überhaupt historisch vorkämen, was seinerseits nicht mehr „begrifflich abgeleitet“ werden könne.
Die Schule kommt also selbst zu dem Schluss, dass nur d a s G e s c h e h e n s m ö g l i c h e „abgeleitet“ werden kann, während der Kapitalismus viel mehr ist, nämlich die historische Wirklichkeit. Hier, wo es um den entscheidenden zweiten Übergang geht, scheitert sie aber gänzlich. Denn Marx selbst hat darauf hingewiesen, dass es auch bei Vorhandensein warenförmiger Arbeitskraft und privat konzentrierten Geldvermögens zur Kapitalbildung durchaus nicht kommen muss; dies beweist die römische Geschichte, und wenn Marx die chinesische besser gekannt hätte, hätte er auch sie noch anführen können. Daran war von einem Debattenteilnehmer (Dieter Riedel) bereits erinnert worden, und doch argumentierten andere (Helmut Reichelt, Dieter Wolf) wie dargestellt.
Man könnte meinen, die Schule habe schon immer geahnt, dass ihr Ansatz an diesem Punkt einmal stolpern würde. Es ist, als ob sie deshalb jahrzehntelang zu ihm gar nicht vordrang, sondern sich lieber nur mit dem ersten Übergang vom Warentausch zum Geld befasste. Eine Debatte über den Kapitalbegriff hat überhaupt erst nach 1990 begonnen. Elbe referiert Beiträge von 1997, 2000, 2006 und 2007. Er selbst stellt noch 2008 fest, die Debatte über den „Übergang vom Geld zum Kapital“ sei „wenig entwickelt“, obgleich es sich immerhin um die „zentrale theoretische Scharnierstelle des Marxschen Werks“ handle. Das lesen wir in einem Kapitel mit der Überschrift „Exkurs zur Werttheorie als Kapitaltheorie“. Es ist elf Seiten lang, während die sonstigen „werttheoretischen Grundlagenreflexionen“ auf gut 270 Seiten ausgebreitet sind. Das Kapital als Exkurs? Es sollte doch etwas ernster genommen werden.
Eine kantische Kritik
Weil man von der Neuen Marxlektüre im Detail viel lernen kann, ist Elbes Forschungsbericht trotz der genannten Probleme, über die er hinweggeht, sehr verdienstvoll, zumal wir auch über Beiträge zur „Staatsableitung“ und zur „Krise der Revolutionstheorie“ ausführlich informiert werden. Noch verdienstvoller, dabei auch lesefreundlicher ist Marx global, das Buch von Jan Hoff, der seine Ankündigung, er wolle „die internationale Entwicklungsgeschichte einer bestimmten Richtung nachzeichnen“, nämlich der von Elbe behandelten, zum Glück nicht einlöst. Er zeigt vielmehr ganz allgemein, wie sich der Marxismus im Zuge der Revolten der späten 1960er Jahre interkontinental ausbreitete und vielerorts auch akademisch verankern konnte. Er macht darauf aufmerksam, „dass mit der Edition der Marx-Engels Collected Works, die u.a. auch für die englischsprachigen Länder der sog. Dritten Welt konzipiert waren, erst in den 1970er Jahren begonnen worden ist“.
Eine Reihe internationaler Namen ist geläufig: Althusser in Frankreich, Colletti in Italien, Thompson in England, Dussel in Lateinamerika, Itoh in Japan und so weiter. Allein das ist schon nützlich, solche Autoren in Beziehung gesetzt zu sehen. Der Althusserianismus, erfahren wir dabei, „scheint die am ehesten wirklich globale Theorieströmung zu sein“. Die Überraschung jedoch, die das Buch birgt, ist die hohe Bedeutsamkeit, die es über Itoh hinaus der j a p a n i s c h e n F o r s c h u n g zuschreiben muss. Schon deren Umfang ist beeindruckend: In den späten 60er Jahren waren mehr als die Hälfte der Professoren für Ökonomie marxistisch orientiert, und noch zwischen 1975 und 1998 wurden mehr als 4000 Arbeiten zur Marxschen ökonomischen Theorie veröffentlicht. Übrigens ist China nicht weit, die japanische Literatur wird dort fleißig rezipiert.
Warum ist sie bedeutsam? Weil die Japaner, die sich mit der „Formanalyse“ von Ware und Geld längst vor den Deutschen beschäftigt haben, danach auch Interpreten des Marxschen Kapitalbegriffs geworden sind. Genau deshalb setzte die Frage nach Marx‘ Hegelianismus in Japan ganz andere und viel produktivere Überlegungen frei als in Deutschland.
So schreibt der in Kanada lehrende Japaner Thomas Sekine, man könne im Marxschen Hauptwerk „das materialistische Substitut für das Hegelsche Absolute“ dargestellt finden, denn die Dialektik des Kapitals, wie Marx sie aufweise, „spiele“ genau dessen „Rolle“. Ebenso äußert der Philosoph Kojin Karatani, Marx habe die kapitalistische Ökonomie beschrieben, als wäre sie eine Selbstverwirklichung des Hegelschen absoluten Geistes. Dieser Geist strebt ins Unendliche und kommt der Hegelschen Behauptung zufolge dort auch an; das Kapital jedoch, so Karatani, „kann niemals über seine eigene Grenze hinausgehen“. Wer die Marxsche Darlegung so charakterisiert, rückt ihn noch näher an Kant als an Hegel, und tatsächlich fordert der japanische Philosoph dazu auf, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie überkreuz mit Kants Kritik der reinen Vernunft zu lesen. Denn was Marx vorlege, sei „eine kantische Kritik des maßlosen Triebs der Kapital-Vernunft, sich selbst jenseits seiner Grenzen zu verwirklichen“.
Hoff merkt gar nicht, dass er den Gedanken schon vorher gefunden und referiert hat: bei dem Adorno-Schüler Hans Jürgen Krahl. „Die Hegelsche Logik ist nach Marx die metaphysische Verkleidung der Selbstbewegung des Kapitals“, war als Krahl-Satz zitiert worden. Michael Heinrich jedoch, ein Schulhaupt der Neuen Marxlektüre, hatte widersprochen. Hegels „Formen“ ließen sich nicht beliebig auf einen anderen „Inhalt“ anwenden. Aber Krahl hatte es doch gerade gesagt: dass Hegels „Formen“ nicht aus Hegels Kopf kommen, sondern aus dem „Inhalt“, den die Wirklichkeit dort hineingetan hat. Aus der Selbstbewegung des Kapitals. Japan, du hast es besser.