1
Ich setze das Kapitel über die als „dialektisch“ geltende Marxsche Darstellungsmethode in Das Kapital fort. Es ist das letzte Kapitel im 3. Teil meiner Notizen (vgl. die in der 0. Notiz wiedergegebene Gesamtgliederung), nach welchem ich dann endlich, im 4. Teil, den Bau der Anderen Gesellschaft erörtern kann, das im Gesamttitel der Notizen projektierte Thema. Um den weiteren Verlauf des gegenwärtigen Kapitels hier schon einmal zu entwerfen: In Auseinandersetzung mit Vertretern der Neuen Marxlektüre, siehe zu ihnen die 51. Notiz, will ich so knapp wie möglich darlegen, was in meiner Sicht Dialektik ist. Auseinandersetzung und Darlegung gehen gut zusammen, weil sich meinen beiden Rezensionen in jener Notiz, zu den Büchern von Ingo Elbe und Jan Hoff, die beiden Begriffe von Dialektik, die ich unterscheiden will, genau zuordnen lassen.
Wie das geschieht, wird man sehen, hier sei nur so viel gesagt: Ich beginne mit dem Begriff von Dialektik, den man bei Platon findet, gehe dann zur Hegelschen Dialektik und der Art ihrer Verwendung bei Marx über; zuletzt wird erörtert, wie Dialektik in allen drei Fällen auch daran zu erkennen ist, dass die Autoren an dem ansetzen, was ihnen als „Oberfläche“ ihrer jeweiligen Problematik begegnet.
2
Zunächst führe ich meine Wiedergabe des Referats von Helmut Reichelt über die Marxsche Dialektik zuende. Reichelt hat zu rekonstruieren versucht, mit Stellen vorwiegend aus den Grundrissen, wie die ersten Schritte der Marxsche Darstellung verlaufen müssten, wenn ihr dialektischer Charakter besser hätte hervortreten sollen als in der vorliegenden Fassung von Das Kapital. Bei der Lektüre war uns nicht nur das Erwartbare aufgefallen, dass von „Widersprüchen“ und ihrer „Bewegungsform“ die Rede war, sondern auch ein gewisses wildes Schwanken der dialektischen Übergänge, von denen es abwechselnd hieß, sie „können“, „müssen“ und „müssten“ geschehen. Wir fragten uns, ob nicht nur die „Widersprüche“, sondern etwa auch diese Turbulenz zur Dialektik gehöre oder aber ihr einen Strich durch die Rechnung mache.
Die Geldform ist einerseits allgemeine Geldform, andrerseits verfügt man immer nur über eine bestimmte Geldsumme, lautet der erste Widerspruch. Er läuft darauf hinaus, dass die unendliche Bewegung der Vermehrung einsetzen „kann“. Man beachte: Wenn sie wirklich einsetzt, setzt laut der Marxschen Definition das Kapital ein. Der zweite Schritt ist einer zurück: Wie „kann“ die allgemeine Geldform denn überhaupt festgehalten werden? Wenn er nicht einmal festgehalten werden könnte, könnte er schon gar nicht vermehrt werden. Festhalten hieße, der Tauschwert, obwohl in die Zirkulation des Marktes geworfen, wo er erst einmal weggegeben, mit dem Eingetauschten vertauscht wird, „müsste“ sich in ihr auch erhalten. Dritter Schritt: Damit er das nun tut, „muss“ eine Einheit von Geld-Ware-Geld-Bewegung und Bewegung der Wertvermehrung zustande kommen.
Bis dahin waren wir gekommen, führen wir noch die letzten bei Reichelt referierten Schritte hinzu (Die Marxsche Kritik ökonomischer Kategorien, in Fetscher / Schmidt [Hg.], Emanzipation als Versöhnung, Ljubljana 2002, S. 142-189, hier S. 171 f.): Viertens, „als verselbständigter Prozess“ k a n n sich der Wert „nur erhalten, indem die sich im Prozess vermehrende Gegenständlichkeit aufrechterhalten wird von einem ‚Dritten'“, das weder Geld noch Ware ist. Fünftens, da also Geld und Ware nicht in Betracht kommen k ö n n e n , bleibt als mögliche Springquelle des Dritten nur die noch unvergegenständlichte Arbeit – im Gegensatz zur vergegenständlichten, welche die Ware ist -; der „einzige Gegensatz gegen die vergegenständliche Arbeit“, wird Marx zitiert, „ist die ungegenständliche, im Gegensatz zur objektivierten die subjektive Arbeit“.
Sechstens und zusammenfassend, ein weiteres, besonders aufschlussreiches Marx-Zitat: „Aus der Betrachtung der einfachen Zirkulation ergab sich für u n s der allgemeine Begriff des Kapitals, weil innerhalb der bürgerlichen Produktionsweise die einfache Zirkulation selbst nur als Voraussetzung des Kapitals und es voraussetzend existiert.“ Womit Marx selbst einräumt, dass Geld nicht zu Kapital führt, vielmehr Kapital zu kapitalistischem Geld. „Das Ergeben derselben“ – der Umstand, dass die einfache Zirkulation, Ware und Geld, sich als Voraussetzung „ergab“ – „macht“ daher „das Kapital nicht zur Inkarnation einer ewigen Idee; sondern zeigt es, wie es in der Wirklichkeit erst, nur als n o t w e n d i g e F o r m , in die Tauschwertsetzende Arbeit, auf dem Tauschwert beruhnde Produktion münden muss.“ Die Hervorhebungen, „uns“ und „notwendige Form“, sind von Marx‘ Hand.
Er räumt ein, dass Geld nicht Kapital impliziert, will es aber doch nicht wahrhaben. Dass im „Begriff“ das eine zum andern führt, beweise nichts, versucht er zu argumentieren, vielmehr sei umgekehrt gezeigt, dass das Kapital sich Ware und Geld, die es zur Voraussetzung braucht, erst schaffen m ü s s e . „Als notwendige Form“. Also was nun? Das Notwendige muss erst geschaffen werden, ist also, seltsam genug, nur möglich. „Muss“ das Mögliche wirklich werden, ist das eine „Notwendigkeit“? Bis hierher scheint es, als breche mit dem „Können“ und „Müssen“ die Dialektik schier zusammen. Marx scheint das selbst so zu sehen: „Es zeigt sich an diesem Punkt bestimmt, wie die dialektische Form der Darstellung nur richtig ist, wenn sie ihre Grenzen kennt.“ Seine Überlegung ist inkonsequent und geradezu wirr, man fragt sich, warum Dialektik hier nur auf „Grenzen“ gestoßen sein soll, statt vollkommen widerlegt worden zu sein.
Innerhalb der Grenzen scheint sie richtig zu sein. Man scheint sagen zu dürfen, dass es zwar in einem ersten Schritt dialektisch richtig sei, Kapital aus Geld abzuleiten, in einem zweiten jedoch das Wirkliche als bloße Eingrenzung der Richtigkeit – die Behauptung bliebe immer noch richtig – hinzugefügt werden müsse. Das ist, als wenn man behauptet, der Mord sei die Voraussetzung des Küchenmessers, um dann fortzufahren, in Wirklichkeit sei es zwar umgekehrt, „begrifflich“ jedoch bleibe die Behauptung richtig, nur zeige sich eben, dass der Begriff der Verwirklichung harre. Behauptungen solcher Art sind ja nicht immer absurd. Es stimmt, dass die Mutter begrifflich das Kind voraussetzt, obwohl kein Kind früher da ist als seine Mutter.
Reichelts Deutung der Marxschen Wirrnis ist langweilig: „Marx stellt fest“, liest er nur heraus, „dass die dialektische Entwicklung nicht unmittelbar zu parallelisieren ist mit der historischen Entwicklung“. Das ist die in der Neuen Marxlektüre übliche Abgrenzung von Friedrich Engels, der die Marxsche Darstellung in Das Kapital als Frucht einer „logisch-historischen Methode“ zu deuten versucht hatte. Laut Engels ist die Marxsche Dialektik eine abgekürzt „logische“ Zusammenfassung des wirklichen historischen Prozesses: eine Deutung, die mit der oben zitierten Selbstdeutung von Marx tatsächlich unvereinbar ist, denn Marx sieht nicht die Wirklichkeit in der Dialektik aufgehoben, sondern die Dialektik durch die Wirklichkeit begrenzt, was etwas ganz anderes ist. Doch was nützt es, darauf herumzureiten? Die Vertreter der Neuen Marxlektüre wundern sich selbst darüber, dass Marx der Engelsschen Deutung gar nicht widersprochen hat; woran liegt das? Man könnte doch erwägen, ob nicht beide, Marx wie Engels, auf ein richtiges Problem gestoßen sind, das sie nicht zu bewältigen vermochten. Was Engels schreibt, ist nicht plausibel, ebenso wenig aber, was Marx schreibt. Sollen wir uns nun in einem „Marxismus“ einbunkern, der, statt an der Lösung des Problems zu arbeiten, vielmehr die beiden befreundeten Forscher gegeneinander ausspielt?
3
Mir scheint es sich nicht so zu verhalten, dass die Darstellung in Das Kapital verglichen mit der früheren, in den Grundrissen vorgeführten Dialektik ein methodischer Rückfall sei. Im Gegenteil. Gerade wo am Anfang dieser Darstellung das Wörtchen „kann“ seine Rolle spielt oder andere Wörter es nur variieren, wird die Marxsche Erörterung besonders aufregend plausibel. Da ist das „kann“ kein Dokument eines Schwankens mehr, sondern hat genauen Sinn, ist methodisch ganz unverzichtbar. Ich habe drei Passagen im Auge, zum einen die, wo sinngemäß ausgeführt wird, Geld könne zu Kapital werden und werde es, indem es frei verfügbare Arbeitskraft vorfinde. Dies haben wir schon erörtert. Es war dem etwas hinzuzufügen gewesen: Auch wenn Geld Arbeitskraft vorfindet, k a n n es nur, muss aber nicht Kapital werden. Es gibt historische Erfahrung, die das beweist, Marx selbst hat es andernorts eingestanden. Doch wenn er hier zu kurz springt, dann nicht in m e t h o d i s c h e r Hinsicht. Es ist ganz richtig, Dinge logisch abzuleiten, die geschehen können.
An die Passage über das Auseinandertreten von Ware und Geld will ich etwas ausführlicher erinnern. Marx schreibt: Das „Dogma, die Warenzirkulation bedinge ein notwendiges Gleichgewicht der Verkäufe und Käufe“, solle „beweisen, dass der Verkäufer seinen eignen Käufer zu Markt führt“, das sei aber nicht richtig. „Keiner kann verkaufen, ohne dass ein anderer kauft. Aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen, weil er selbst verkauft hat. […] Diese Formen schließen daher die Möglichkeit, aber auch nur die Möglichkeit der Krisen ein.“ Ware und Geld k ö n n e n also derart sich trennen, dass sie nicht mehr zueinander finden – heißt das aber, es sei möglich, dass sie nie wirklich auseinander treten? Dass es also zu dem, was wir Wirtschaftskrise nennen, zwar kommen kann, aber nicht muss? I n d i e s e m F a l l nein, denn Marx hat Anlass, fortzufahren: „Die Entwicklung dieser Möglichkeit zur Wirklichkeit erfordert einen ganzen Umkreis von Verhältnissen, die vom Standpunkt der einfachen Warenzirkulation noch gar nicht existieren.“ (MEW 23, S. 127 f.) An sich muss etwas nur deshalb, weil es möglich ist, nicht wirklich werden. Hier aber haben wir es mit einer Möglichkeit zu tun, die immer schon determiniert ist von tiefer liegenden Verhältnissen, deren Oberfläche sie nur ist. Deshalb, nur deshalb wird d i e s e Möglichkeit wirklich.
Als tiefstes Verhältnis wird Marx im dritten Kapital-Band den „tendenziellen Fall der Profitrate“ entwickeln. Dann geht es nicht mehr darum, ob überhaupt Wirtschaftskrisen geschehen können, was ja niemand bestreitet, da sie längst eingetreten sind, sondern ob es, früher oder später, zu einer solchen Wirtschaftskrise kommt – kommen kann und auch muss -, aus der kein Ausweg mehr gefunden wird. Dies wird nun freilich bestritten, doch Marx, der die Frage bejaht, hat ein plausibles Argument: „Der Markt muss […] beständig ausgedehnt werden, so dass seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden.“ (MEW 25, S. 254 f.) Er m u s s ausgedehnt werden, weil das Kapital den unendlichen Mehrwert anstrebt; dies führt zu immer komplexeren Ware-Geld-Beziehungen; irgendwann wird die Komplexität so groß, dass sie nicht mehr beherrscht werden k a n n . Das ist nur logisch. Wie man mit Recht betont hat, ist die Technik von Atomkraftwerken zu komplex, als dass sie jederzeit sicher beherrscht werden könnte; man stelle sich nun AKWs vor, die noch immer komplexer würden, dann hat man eine Anschauung von der Krisenwirklichkeit des Kapitals.
Drittens habe ich die Wertformanalyse im Auge, wo wir lesen: „In der ersten Form: 20 Ellen Leinwand = 1 Rock kann es zufällige Tatsache sein, dass diese zwei Waren in einem bestimmten quantitativen Verhältnisse austauschbar sind.“ (MEW 23, S. 78) Eine dem entsprechende Stelle in den Grundrissen lautet, dass der Preis „ursprünglich mehr konventionell und traditionell, nach und nach ökonomisch bestimmt wird, erst durch das Verhältnis von Nachfrage und Zufuhr, schließlich durch die Produktionskosten“ (Ausg. Berlin 1953, S. 371). Man sieht, dass auch die Wertformanalyse, deren reine Logik manche so gern betonen, an die Grenze des „kann“ stößt. Diese Grenze betrifft nicht den Umstand, dass Warentausch mit Notwendigkeit Geld impliziert, wohl aber verhindert sie, dass jede Ware-Geld-Beziehung zum berechenbaren Austauschverhältnis wird, dem letztendlich die Produktionskosten zugrunde liegen. Solches geschieht erst im Kapitalismus, zu dem die Ware-Geld-Beziehung führen k a n n , aber nicht muss. Sie führt ihn nicht „logisch“ herbei.
In allen drei Passagen, die ich betrachtet habe, entscheidet erst die Geschichte darüber, ob das, was logisch geschehen kann, auch wirklich geschieht. Das gilt vermittelt auch für die zweite Passage, denn zwar muss es zum Auseinandertreten von Ware und Geld wirklich kommen, dies aber nur deshalb, weil sie sich als Oberfläche der unendlichen Bewegung des Kapitals darstellen. Das heißt: w e n n sie das tun. Wenn sie so dargestellt worden sind. Zur Kapitalbewegung ihrerseits kann es kommen, muss aber nicht. Sehen wir hier nicht einer „logisch-historischen“ Methode zu? Nicht in der Art, wie Engels es verstanden hat, aber dem Wortsinn nach eben doch? Auch Marx hat es, in den Grundrissen jedenfalls, nicht verstanden. Denn Geschichte b e g r e n z t nicht nur die Logik, sondern s p i e l t s e l b s t eine logische Rolle, die sich eben im Wörtchen „kann“ niederschlägt. „Kann“ ist ein logisches Wort; man muss es systematisch gebrauchen, wo Geschichte eine Rolle spielt, weil es sie repräsentiert.
4
Hier will ich, wie angekündigt, Platon ins Spiel bringen, oder besser gesagt Sokrates. Platon ist derjenige, der von Dialektik zu sprechen anfängt; wenn wir uns ansehen, was er damit meint, entdecken wir, dass „kann“ ein logisches, aber mehr noch, dass es ein dialektisches Wort ist. Das sagt Platon nicht so direkt – er spricht überhaupt nicht direkt vom Möglichen, sondern ist erst dabei, es zu entdecken, besser gesagt sich seiner bewusst zu werden -, doch getrieben von Sokrates, dem Lehrer, spricht er immerzu direkt von der Frage. Überall, wo er von der Frage spricht, spricht er f a k t i s c h vom „kann“; die Frage ist gerade das, woran das „kann“ entdeckt werden kann, denn wo gefragt wird, k a n n geantwortet werden mit der einen, aber auch mit der andern Antwort, und ebenso kann die Frage auch zurückgewiesen, durch eine andere ersetzt werden.
Die Vorstellung, dass „diese“ Ursache zwangsläufig „diese“ Folge haben muss, wie sie sich vor Platon im Satz des Anaximander ausspricht – „aus welchen [seienden Dingen] die seienden Dinge ihr Entstehen haben, dorthin findet auch ihr Vergehen statt, wie es in der Ordnung ist, denn sie leisten einander Recht und Strafe für das Unrecht, gemäß der zeitlichen Ordnung“ -, wird durch die Entdeckung gebrochen, dass wir Anfang und Folge nur im Innenraum unsers Fragens und Antwortens denken können. Die sind zwar auch etwas wie Ursache und Wirkung, nicht dergestalt aber, dass eine Frage auf eine b e s t i m m t e Wirkung, vulgo Antwort führen m u s s ; vielmehr kann sie es nur und legt neben der einen Antwort auch andere nahe. Das ist bei Platon vorbereitet, und er nennt es „Dialektik“. Dialektik ist bei ihm nicht Logik des Widerspruchs, sondern des Fragens. So erklärt sich die Wortbedeutung: Zum Fragen und Antworten gehören Zwei, es ist d i a lektisch statt m o n o logisch. Was nicht ausschließt, dass man sich zur Selbstfrage und -beantwortung schulen kann.
Platon zitiert, was Sokrates in dem Prozess sagt, der mit seiner Verurteilung zum Tod endet: „Ich richtete also an mich selbst im Namen des Orakels die Frage, was ich vorziehen würde: der zu bleiben, der ich bisher war, also weder weise zu sein auf die Art dieser Handwerker noch auch ihren Unverstand zu teilen, oder aber beides mit ihnen zu teilen. Die Antwort, die ich mir und dem Orakel gab, lautete dahin, es sei besser für mich, zu bleiben wie ich bin.“ (Apologie 22) Dem Sokrates, schreibt Platon, ist „das Fragen und Antworten […] zur anderen Natur geworden“ (Kriton 50). Indem er aber fragt und antwortet, kann er von der Möglichkeit, einer Frage zu w i d e r s p r e c h e n , Gebrauch machen; in dieser Weise kommt der Widerspruch ins Spiel. Er wird zum Beispiel gefragt, ob die „guten Redner“ nicht Macht hätten. Der Fragende meint, niemand könne umhin, das zu bejahen, und habe dann eingeräumt, dass Gutsein Machthaben bedeute – wer mächtig sei, sei gut. Doch Sokrates ist nicht Nietzsche, er sagt: „Ich behaupte nun also, dass dies zwei Fragen sind, und ich werde dir auf beide antworten. Denn meiner Meinung nach, mein Polos, haben die Redner und die Tyrannen in den Staaten eine verschwindend kleine Macht […]; tun sie doch sozusagen gar nichts, was sie (wirklich) w o l l e n , dagegen tun sie, was ihnen das Beste zu sein d ü n k t .“ (Gorgias 466)
Das heißt, wir wissen gar nicht, was ein guter Redner wäre, und er selbst weiß es nicht – was gut täte, ihm und gar seinen Zuhörern -; wir können daher nicht gleich mit der Frage anfangen, ob er Macht hat oder hätte in dem, worin er g u t ist oder wäre. Hatte Hitler als g u t e r Redner Macht? Eher doch als böser. Wer mächtig ist, muss keineswegs gut sein. Ob Dialektik eine Logik des Widerspruchs sei, steht noch dahin, nur so viel ist bei Platon, jedenfalls bei Sokrates klar, sie ist eine Logik des Widersprechens. Sie zeigt, dass man fragen und antworten und dass die Antwort der Frage widersprechen kann. Denn das ist Platons Verallgemeinerung: „Wer sich […] auf das Fragen und Antworten versteht, den nennst du doch wohl einen Dialektiker?“ (Kratylos 390)
5
Unterstreichen wir noch einmal das von Reichelt zitierte Marx-Wort: Die dialektische Darstellung des Kapitals soll nicht dazu führen, dass man es für die „Inkarnation einer ewigen Idee“ halten kann; es ist kein S e l b s t l a u f , sondern wird nur von der Geschichte – eine Zeit lang – am Laufen gehalten. Daher führt die Rekonstruktion der „Kapitallogik“ nur auf mögliche Stringenzen, die zwar dicht genug, aber doch nicht zwangsläufig sind; oft genug im Einzelnen unterbrochen, werden sie irgendwann auch im Ganzen scheitern. Wenn das so ist, muss das Wörtchen „kann“ eine zentrale Rolle spielen. Überall, wo Marx es gebraucht, bewegt er sich faktisch in einer Logik der Frage. Wenn die Geldform allgemein ist, man aber je nur über eine bestimmte Geldsumme verfügt, s t e l l t s i c h d i e F r a g e , ob nun eine unendliche Bewegung der Geldvermehrung einsetzt. Sie kann bejaht wie auch verneint werden. Und so in den weiteren dialektischen Schritten. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hat Marx bis dahin nur auf Platons Dialektik rekurriert. Und was verbindet ihn mit Hegel? Was ist Hegelsche Dialektik? Dazu die folgende Notiz.