(54) Hegel

5. Theorien über den Wert: Die dialektische Methode

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Mit der Hervorhebung einer platonischen Schicht im Begriff von Dialektik überhaupt und auch tatsächlich in der Marxschen dialektischen Darstellung im Kapital, seinem Hauptwerk, haben wir uns fernab der üblichen Debatten über dieses Thema bewegt. Die Marx-Zitate und -Paraphrasen, die man in Beiträgen der Neuen Marxlektüre findet, präsentieren es aber faktisch: eine Marxsche logische Herleitung von  M ö g l i c h k e i t e n , zu deren Verwirklichung es durch geschichtliche Kräfte kam, die auch anders gekonnt hätten. Wo solches geschah, war erneut der Ausgangspunkt einer logischen Herleitung gegeben, die wieder nur, in der Marxschen Darstellung, bis zu einer Möglichkeit führen konnte, und so immer weiter. Wir erkannten in dieser Bewegung die Struktur des Fragens und Antwortens, das eben von Platon „Dialektik“ genannt wird: Das logisch Herleitbare sind Fragen, die sich geschichtlich stellen; geschichtliche Kräfte geben eine der Antworten, die zum Fragezeitpunkt geschichtlich möglich sind.

Jetzt soll es um Hegel gehen. Hegel hat einen besonderen Gegenstand, dem sich seine Dialektik speziell anschmiegt, nämlich das Verhältnis des Unendlichen und Endlichen. „Dialektik“ heißt also nicht wie bei Platon, dass an und für sich gefragt, geantwortet und wieder gefragt wird, sondern dass es hierauf bezogen geschieht. Hegels programmatische Frühschriften, zunächst die von 1801, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, machen das sehr deutlich.

Bevor ich einige Sätze daraus zitiere, will ich in Erinnerung rufen, dass es uns längst nicht mehr überraschen kann, wenn einer wie Hegel nach dem Unendlichen fragt. Denn in vielen vorausgegangenen Notizen wurde dargestellt, dass die neuzeitliche Philosophie von Anfang an um das Thema des unendlichen Gottes beziehungsweise der unendlichen Natur kreiste. Ich hatte auch untersucht, wie so eine Frage überhaupt aufkommen kann, und allerlei ideelle wie auch materielle Gründe angeführt. Das braucht hier nicht wiederholt zu werden. Wir könnten uns fast darauf beschränken, Hegels Beitrag, der eben in der Art und Weise besteht, wie er die Frage „dialektisch“ beantwortet, als eine gewissermaßen bloß technisch verbesserte Version einer in den Grundlinien längst geläufigen Bewältigung des Themas zu betrachten – wenn nicht auch die Frage zu stellen wäre, wie sich sein Beitrag zur Französischen Revolution verhält. Denn nach ihr ging es nicht as usual weiter.

Zu antworten ist, dass die Frage zunächst nicht Hegel, sondern Fichte betrifft. Der war es nämlich, der die neueste Neuzeit philosophisch einläutete: indem er aufhörte, den unendlichen Gott als immer schon vorhandenen Grund unter unsern Köpfen und Füßen zu suggerieren. Dieser Gott wurde zur bloßen Hoffnung. Unendlich war jetzt vor allem die Suchbewegung zu ihm hin. Das heißt, der Mensch war der Unendliche geworden. Natürlich ging das von Kant aus, den Fichte „nur“ radikalisierte. Wie es mit der Revolution zusammenhing, dürfte auf der Hand liegen. Das also ist der Kontext, in dem Hegel von Fichte ausging, um dessen Radikalität ein wenig zu beschneiden. Hegel versuchte, den in der älteren Neuzeit konzipierten Gott, deus sive natura, mit der neuen revolutionären Suchbewegung zu versöhnen. Das war die inhaltliche Seite seines Verfahrens. Die Revolution sollte nicht ausufern. Sie sollte „passiv“ werden, hätte Antonio Gramsci gesagt. Erfolgreich kann man den Versuch übrigens nicht nennen, denn die Zeit ging über Hegel hinweg: Beethoven und Marx, Feuerbach und Kierkegaard orientierten sich weniger an ihm als wieder an Fichte.

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Doch betrachten wir sein vergebliches Stoppschild, das für Marx trotz allem äußerst wichtig werden sollte. In der genannten Frühschrift wendet er gegen Fichtes Philosophie ein, sie enthalte „die ganze Totalität der Beschränkungen […], nur das Absolute selbst nicht“; ein Mangel, den sie auch dadurch nicht behebe, dass sie „alles, was dem Menschen wert und heilig ist, […] in die Unendlichkeit aus[denkt]“ (Werke Bd. 2, Frankfurt/M. 1970, S. 20). Halten wir zunächst fest, „Totalität“, selbst „unendliche“, ist hier nicht der höchste Begriff. Adorno scheint das zu glauben, denkt darüber nicht hinaus, das heißt, er begreift Hegels Dialektik nicht vollständig. (In anderer Hinsicht ist er über sie hinaus, doch damit mein Bericht nicht ausufert, will ich das meiner ursprünglichen Absicht entgegen nicht darstellen. Vgl. aber die neueste Eintragung im Tagebuch.)

Was unterscheidet „Totalität“ vom „Absoluten“ als einer anderen Unendlichkeitsform? Antwort: dass diese den „Beschränkungen“, also dem Endlichen  n i c h t  m e h r  “ e n t g e g e n g e s e t z t “  sei. „Das Unendliche, insofern es dem Endlichen entgegengesetzt wird, […] drückt für sich als Vernünftiges nur das Negieren des Endlichen aus“ (S. 21) und gehört so laut Hegel zur Sphäre des bloßen Verstandes. Der Verstand habe es empirisch wie theoretisch mit Endlichkeiten zu tun, weshalb ihm sogar das Unendliche, wo er es erfasse, nur gleichsam wie eine weitere Endlichkeit in den Blick komme. Die bloß Verständigen begriffen das zwar nicht selber. Aber man kann Hegel schwer widersprechen, wenn er argumentiert, eine Sache, die etwas außer sich habe, sei begrenzt und also endlich. Das Unendliche als Gegenteil des Endlichen hat dieses offenbar außer sich. Also ist es seinerseits endlich. Heißt das nicht, es ist  d a s  G e g e n t e i l  s e i n e r  s e l b s t ? Hegel spricht so – und nun sind wir schon, kapitulierend vor seinem  l o g i s c h  zwingenden Argument, in das geworfen, was heute üblicherweise, Platon hin oder her,  D i a l e k t i k  genannt wird.

Gegen den bloßen Verstand setzt Hegel die Vernunft, „deren Unendlichkeit das Endliche in sich fasst“ (S. 28). Diese  E i n h e i t , statt Entgegensetzung, des Endlichen und Unendlichen – und zwar  v e r n ü n f t i g e  Einheit, in der nicht nur das Endlich-Unendliche der Natur überhaupt, sondern auch der Existenz mitgedacht ist (wie Hegel formuliert: nicht nur die spinozistische Substanz, sondern das Subjekt) – ist „das Absolute“. Machen wir uns gleich klar, dass es nicht verrückt ist, eine solche Einheit anzunehmen, da es dafür bereits in der Mathematik, wo Existenz noch gar nicht mitgedacht ist, ein allseits anerkanntes Paradigma gibt, nämlich die so genannte aktuale Unendlichkeit. Sie ist tatsächlich für Hegel das Paradigma. Selbst er kommt ohne ein Paradigma nicht aus! So kühn er auch spekulieren wird, braucht er dies evident Anschauliche: „Wie erbärmlich diejenigen, welche das actu Unendliche für eine Ungereimtheit halten, räsoniert haben, darüber mögen die Mathematiker urteilen, die durch Argumente von solchem Schrot sich nicht aufhalten ließen in klar und deutlich erkannten Dingen.“ Das sage Spinoza, dessen Beispiel „der Raum“ sei, „der zwischen zwei Kreisen eingeschlossen ist“. Wir lesen es in einer weiteren Frühschrift, die sich 1802 mit Kant, Jacobi und wiederum Fichte auseinandersetzt (a.a.O., S. 349 f.).

Ich meine, die Agressivität der Hegelschen Äußerung ist ein Indiz dafür, dass er in diesem Innersten seines Denkens gar nicht recht weiß, wovon er eigentlich spricht. „Darüber mögen die Mathematiker urteilen“ – er selbst ist keiner! Aber er glaubt dem, was er zu verstehen glaubt. Wenn ich das lese, kann ich nicht anders, als an Kants Aufsatz Was ist Aufklärung? zu denken, wo uns geraten wird (A 482), wir sollten nicht einmal unserm Arzt erlauben, an unserer Statt über uns zu entscheiden. Geschweige denn einer Mathematik, die wir nur halb verstehen! Das Innerste der Hegelschen Dialektik, es scheint blind zu sein.

Wie auch immer, in der neuzeitlichen Mathematik ist die Gleichsetzung des Endlichen und Unendlichen etwas Triviales. Sie geschieht schon in der Berechnung von Grenzwerten und steigert sich zum Paradox in der Mengenlehre, wo man es mit Unendlichkeiten verschiedener „Mächtigkeit“ zu tun bekommt. Der erste, der mit Grenzwerten rechnete, war Cusanus, auf den sich noch Cantor, als Konzeptor jener „Mächtigkeiten“, ausdrücklich bezog. Bei Cusanus hat Mathematik die „coincidentia oppositorum“ zum Gegenstand, und schon ihm schwebt nicht irgendeine Opposition samt Koinzidenz vor, sondern gerade die des Endlichen und Unendlichen. Dies ist es eben, was bei Hegel wieder auftaucht und nun „Dialektik“ heißt. Jedes Kind weiß ja, Dialektiker sind Leute, die von der zum „Widerspruch“ gesteigerten Opposition sprechen. Es weiß nur nicht, dass es nicht weiß, dass es vor Hegel die platonische Dialektik gab, die sich durch dieselbe  n i c h t  definierte. Aber es weiß auch nicht, dass Dialektik auch bei Hegel nicht Widerspruchslehre überhaupt ist, sondern nur diesen  b e s t i m m t e n  Widerspruch verhandelt, den des Endlichen und Unendlichen.

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Ist so viel erst einmal klar, kann man sich auch im ausgereiften Hegelschen System zurechtfinden. In der Wissenschaft der Logik (1812-16) scheint die Opposition endlich – unendlich nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen, es ist eins von vielen Begriffspaaren ziemlich am Anfang der logischen Entwicklung. Das liegt aber nur daran, dass Hegel dies eine Begriffspaar vielfältig ausdifferenzierte. Alle Paare sind solche des Endlichen und Unendlichen, nur dass man es manchen, wie dem anfänglichen von Sein und Nichts, noch nicht abliest, während andere insofern über es hinaus sind, als sie ihm eine überraschende Wendung geben.

Um dies kurz zu illustrieren: Die Kategorien Sein und Nichts anwendend, zeigt Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807), dass „das Hier“ und „das Jetzt“ so sehr sind wie nicht sind, denn kaum ausgesprochen, sind sie schon woanders, und darin liegt erstens, dass wir es mit raumzeitlicher Unendlichkeit zu tun haben, wie zweitens unsere Subjektivität – weil nur wir diese Erfahrung, dass etwas eben erst Festgestelltes schon nicht mehr wahr ist, machen können -; aber diese Hintergründe, die Existenz, die Raumzeit und die ihnen gemeinsame endlich-unendliche Struktur, werden hier noch gar nicht sichtbar, treten nicht an die Oberfläche. So viel zu Kategorien, die dem Begriffspaar endlich-unendlich in der Wissenschaft der Logik vorausgehen. Von dem, was ihm folgt, will ich nur das Letzte erwähnen, die berühmte Volte, dass die absolute Idee sich in die Natur entlasse. Genauer: Sie  e n t s c h l i e ß e  sich, „das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen“ (Werke Bd. 8, S. 393).

Hegel nimmt damit eine Formulierung Giordano Brunos auf, dessen Abhängigkeit von Cusanus bekannt ist und der schon zwei Jahrhunderte früher geschrieben hatte, dass die Materie, da sie „in ihrer Wesenheit die Ausdehnung in unbegrenzter Weise“ umfasse, „sie gleichsam aus sich entlässt, nicht von außen aufnimmt“ (Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, Hamburg 1993, S. 87 f.). Man sieht also, Hegel denkt auch ganz am Ende der Wissenschaft der Logik immer noch über das Unbegrenzte nach, damit auch über das Begrenzte als dessen Kehrseite; und man sieht, schon Bruno bedient sich, ohne das Wort zu verwenden, genau derselben „Dialektik“ wie Hegel: Damit das Unendliche nicht zum Gegenteil des Endlichen und somit seinerseits verendlicht wird, muss schon er sagen, das Endliche sei ihm nicht äußerlich, vielmehr von vornherein eingeschrieben und trete erst nachträglich zu ihm in den Gegensatz, indem es selber sich, Bruno sagt noch: „gleichsam“, von ihm distanziere.

Es ist freilich ein Unterschied, ob gesagt wird, die „Materie“ entlasse die „Ausgedehntheit“ oder die „absolute Idee“ entlasse „die Natur“ aus sich. Doch  d i e  S t r u k t u r  ist dieselbe: In beiden Fällen wird das Endliche aus dem Unendlichen entlassen. Und zudem sind die Worte so abstrakt – fast wie „Sein“ und „Nichts“, die laut Hegel dasselbe sind -, dass ich persönlich es nur absurd finden kann, wenn man den Unterschied mehr als die Gemeinsamkeit hervorheben will, was diejenigen tun, die glauben, zwischen Bruno und Hegel werde „die Grundfrage der Philosophie“ alternativ verhandelt. Nein, wichtiger, als dass Hegel das Unendliche „Idee“ statt „Materie“ nennt, scheint mir zu sein, dass er die Sache  s t r u k t u r e l l  über Bruno hinaus denkt, indem er eben vom  E n t s c h l u s s  der Idee, sich zu entlassen, spricht und damit das, was bei Bruno bloße Metapher ist („gleichsam“), zur ernst gemeinten logischen Kategorie erhebt. Was ist denn ein Entschluss, wenn nicht eine Antwort auf eine Frage? Es scheint, dass Hegel im Endlich-Unendlichen zuletzt deren Struktur erkennt. Tatsächlich sind wir selbst schon darauf gestoßen, in der 32. Notiz, dass die Antwort, die der Frage widerspricht, sich in einem Un-Ende situiert.

Kurzum, wir finden, dass es in der gesamten Wissenschaft der Logik um das Endliche und Unendliche geht, wenn sie auch nur zwischendurch so genannt werden. Am Anfang heißt es Sein und Nichts, da kann man sie noch gar nicht auseinander halten; am Ende ist es erschlossene, geantwortete Natur, da sind sie zur Synthese geronnen.

Ich will noch kurz auf die Grundlinien der Philosophie des Rechts verweisen (1821), wo Hegel zuletzt vier „welthistorische Reiche“ aufeinander folgen lässt: erst das orientalische, dann das griechische; dieses hat die „substantielle Einheit des Endlichen und Unendlichen […] zur mysteriösen, […] zurückgedrängten Grundlage“; darauf das römische, in welchem „sich die Unterscheidung zur unendlichen Zerreißung des sittlichen Lebens in die Extreme  p e r s ö n l i c h e n  privaten Selbstbewusstseins und  a b s t r a k t e r  A l l g e m e i n h e i t  [vollbringt]“; schließlich das germanische, in dem der „Wendepunkt“ erfasst wird und es zur „Versöhnung“ und „unendliche[n] Positivität“ kommt (§§ 355 ff.). Somit ist auch die Hegelsche Rechtsphilosophie insofern dialektisch, als sie vom Verhältnis des Endlichen und Unendlichen handelt.

Und wie endet die Phänomenologie des Geistes? Mit einem etwas veränderten Schiller-Zitat: „aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm“, dem „absoluten Geist“, „seine Unendlichkeit“. Aus seiner „Schädelstätte“ nämlich, womit auf Golgatha angespielt wird, den Ort des Todes, der Endlichkeit Jesu von Nazareth, der als der auferstandene Christus zugleich unendlicher Gott ist. Hegel hat überall nur dieses Thema.

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Die unendliche „dialektische“ Bewegung mündet bei Hegel im „Absoluten“, kommt dort zur Ruhe. Das ist es, was Marx im Auge hat, wenn er vom Kapital schreibt, es nähere sich dem unendlichen Mehrwert an, um mit ihm dasselbe zu werden. Das Kapital ist eine lachhafte Karikatur der Gottsuche. Jener Widerspruch, mit dem laut Reichelt die Marxsche Dialektik anhebt, dass Geld an und für sich unendlich sei, man aber stets nur über eine endliche Menge davon verfüge, will darauf anspielen. Und nun sehen wir, dies ist von Marxforschern längst entdeckt und nachgezeichnet worden, aber nicht von solchen der deutschen Neuen Marxlektüre, sondern in Japan; wir wissen es aus dem Buch von Jan Hoff, Marx global, Berlin 2009 (vgl. 51. Notiz). Obwohl es Hoffs Intention ist, die Verbreitung der Neuen Marxlektüre in der ganzen Welt zu erweisen, zitiert er als gewissenhafter Forscher die überlegene Einsicht der Japaner Sekine und Karatani, Marx habe die kapitalistische Ökonomie beschrieben, als wäre sie eine Selbstverwirklichung des Hegelschen absoluten Geistes. Wie wir sahen, war auch schon der deutsche Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl darauf gekommen, und auch das wird von Hoff erwähnt.

Krahl war aber gar nicht der Letzte, der es begriff. Auch Andreas Arndt, langjähriger Vorsitzender des Vorstands der Internationalen Hegelgesellschaft, hat in seinem Aufsatz Was ist Dialektik? daran erinnert, dass Hegels Dialektik von Kants „Antinomien der Vernunft“ ausging, davon, dass das Denken, wie Hegel schreibt, „in Widersprüche (Antinomien)“ verfalle, wenn es „das Unendliche erkennen will“. Dies war zu lesen in Das Argument 274, Heft 1/2008 (vgl. dort S. 39), und hätte also von Hoff noch zitiert werden können. Marx‘ Dialektik handelt von der angemaßten Unendlichkeit und tatsächlichen Endlichkeit des Kapitals. Das wird von der Neuen Marxlektüre nicht begriffen. Diese Lektüre gelangt nur wieder dahin – es ist nicht neu in der Geschichte des Marxismus -, unter „Dialektik“ eine Bewegung von Widersprüchen überhaupt zu verstehen, wo es dann nicht ausbleiben kann, dass ihr deren Verhältnis zur Formallogik zum Rätsel wird.

Dabei stand sie eigentlich kurz davor, die Sache zu begreifen. Was Dieter Wolf über Marxsche Dialektik schreibt (Konfusion des Wertbegriffs, online-Version S. 25 f.), führt weiter und verdient es, in seiner wenn auch umständlichen, redundanten Länge zitiert zu werden; dialektisch sei der Widerspruch von Gebrauchswert und Wert:

„Für alle ökonomischen gesellschaftlichen Prozesse muss von Anfang an inhaltlich verlässlich gezeigt werden, auf welche Weise in ihnen der Widerspruch zwischen dem Gebrauchswert und dem Wert der Waren, zwischen der Stofflichkeit und der Gesellschaftlichkeit der Arbeit ebenso sehr gesetzt wie gelöst wird. Die Bewegungsstruktur ist dadurch bestimmt, dass der dialektische Widerspruch in den ökonomisch gesellschaftlichen Prozessen, in denen er gesetzt wird, jeweils in entwickelteren Verhältnissen Bewegungsformen findet, die in veränderter Form wiederum durch das Verhältnis von Wert und Gebrauchswert bestimmt sind und in denen der Widerspruch folglich nicht nur gelöst ist, sondern zugleich erhalten bleibt. Von der einfachen Wertform im Verhältnis zweier Waren zueinander, über die durch die Beziehung von preisbestimmter Ware und Geld gekennzeichnete Warenzirkulation bis zu allen Formen, die das Kapital als widersprüchliche Einheit von Verwertungs- und Arbeitsprozess und in seinem weiteren durch die verschiedenen Kreisläufe bestimmten ‚Lebensprozess‘ annimmt, handelt es sich um aus Formen des Werts bestehende Bewegungsformen, worin der Widerspruch zwischen dem Gebrauchswert und dem Wert der Waren nicht nur gelöst ist, sondern zugleich auch erhalten bleibt.“

So ist es. Das ist der dialektische Plan der Marxschen Darstellung im Hauptwerk Das Kapital. Wolf hat recht, gegen Reichelt zu betonen, dass dies eine im Marxschen Sinn vollgültige Dialektik ist statt einer, die nur noch in Spuren eine eigentlich gemeinte Dialektik verrate, hinter die Marx zurückgefallen sei. Indes wird er durch seinen Positivismus daran gehindert, zu erkennen, wovon er überhaupt spricht. Denn die bloße Ansage, dass etwas ein Widerspruch sei und sich als solcher entwickle, hat keinerlei Plausibilität, selbst wenn die Wörter „Widerspruch“, „Bewegungsform“ und so weiter von Marx zitiert werden können. Wolf müsste schon zeigen können, dass der Widerspruch von Gebrauchswert und Wert einer des Endlichen und Unendlichen ist, denn eine andere (hegelianische statt platonische) Dialektik gibt es nicht, und nur diese (hegelianische) leuchtet, auch formallogisch sogar, wie wir oben sahen, (neben der platonischen und zusätzlich zu ihr) unmittelbar ein.

Indessen, wenn Wolf das zeigte, müsste auch seine Wertformanalyse ganz anders aussehen. Die Geldform müsste als eine erkannt werden, die dem  u n e n d l i c h e n  Geld gilt. Geld ist aber nicht per se unendlich, sondern nur im Kapitalismus. Das heißt, gerade für den, der die Marxsche Dialektik begriffe, wäre die Frage unmittelbar aufgeworfen, ob es nicht auch endliches Geld sollte geben können – was zu beweisen war.