(69) Die Außenseite von Lebensentwürfen

4. Wie Waren den Käufern unmittelbar begegnen / Vierter Teil – Vor der Erörterung von Proportionswahlen: Zugehörige neue, nicht mehr kapitalistische ökonomische Institutionen

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Wir wollen zunächst wiederholen, was dafür spricht, die Ware-Geld-Beziehung, also den Markt, in der Anderen Gesellschaft beizubehalten. Ota Sik nennt zwei Argumente aus Konsumentensicht: Erstens kann keine Instanz den Menschen die Entscheidung darüber abnehmen, was sie für wahre und falsche, vernünftige und unvernünftige, Grund- und Nebenbedürfnisse halten. Das wird im Prinzip jeder anders entscheiden. Auch müssen Gruppen von Menschen die Freiheit haben, ihren ähnlichen oder identischen Bedarf zur Geltung zu bringen. Auf solchen Bedarf, der sich außerdem ständig entwickelt, zu reagieren, ist in einer Unmenge kleiner Dinge nur ein Markt flexibel genug. In „großen“ Dingen freilich, bei der Frage etwa, wie man in der Stadt unterwegs sein will, ob mehr mit Autos oder mehr mit besser ausgestattetem ÖPNV, kann der Markt nicht helfen. Um sie zu beantworten, braucht es eine gesellschaftliche statt bloß individuelle Wahl. Die individuelle Wahl kann ja den Bau eines Straßenbahnnetzes nicht veranlassen. Was aber die kleinen Dinge angeht, können zweitens ohne Markt „nicht die richtigen Mengen bestimmt werden, in denen jedes einzelne Konsumgut im Sinne des Bedarfs produziert werden sollte“. (Humane Wirtschaftsdemokratie, Hamburg 1979, S. 79 f.) Das waren Marktfunktionen, bevor es den Kapitalismus gab, und es gibt keinen Grund, sie nach dem Ende des Kapitals mit dem Bad auszuschütten.

Indessen ist der Markt, wie wir ihn heute kennen, von der Kapitallogik so sehr durchdrungen, dass seine Emanzipation zum nicht mehr kapitalistischen Markt keine einfache Operation sein wird. Im Kapitalismus reagiert der Markt nicht bloß auf Bedürfnisse. Er kitzelt sie auf vielen Gebieten allererst hervor. Er verzerrt auch ihr relatives Gewicht. Dieser Gesichtspunkt steht im Zentrum der Warenkritik von Marx in den Pariser Manuskripten (1844): „Jeder Mensch“, lesen wir da, „spekuliert darauf, dem andern ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten“ (MEW Erg.bd. I, S. 546 f.). „Raffinierung der Bedürfnisse und ihrer Mittel auf der einen Seite“, „rohe, abstrakte Einfachheit der Bedürfnisse auf der andren Seite“ – es kommt zu einer menschlichen Zusammenkunft, in dem einer sich des andern „verworfensten Einfällen fügt, den Kuppler zwischen ihm und seinem Bedürfnis spielt, krankhafte Gelüste in ihm erregt, jede Schwachheit ihm ablauert, um dann das Handgeld für diesen Liebesdienst zu verlangen“ (S. 547 f.).

Man kann nicht sagen, so sei der kapitalistische Markt in toto, aber für wesentliche Teile trifft es zu. Von „krankhaften Gelüsten“ ganz abgesehen, gibt es genug Bedürfnisse, die von fremder Hand verschärft oder schlicht aufgenötigt sind: Sie machen unfrei. Ich will es noch vorsichtiger formulieren. Manche Bedürfnisse, die uns der Markt aufnötigt, mögen auf Umwegen unsere eigenen sein. Gerade bei dem, was heute als zusammenfassendes Grund- und Hauptbedürfnis erscheint, nämlich dass es immer mehr „Möglichkeiten“ geben soll, obwohl man gar nicht weiß, wofür – aufgemotzte Schreibmaschinen („Textverarbeitungsprogramme“), mit denen Frau Mustermann einen Buchverlag bestreiten könnte; Zugang zum Fernsehen in Singapur und Neuseeland -, kann man fragen, ob da nicht eine fortschreitende Unfähigkeit waltet, sich auf ein gutes Verwirklichungsziel zu besinnen, und ob nicht der Markt, auch wenn er kapitalistisch ist, sie mehr sichtbar macht als erzeugt. Vielleicht also ist das Bedürfnis nach „Möglichkeiten“ gar nicht aufgenötigt, was seine  E n t s t e h u n g  anlangt. Wie aber, wenn die Menschen mit ihm, auch wenn es ihr eigenes ist, einmal  b r e c h e n  wollten? Das würde vom kapitalistischen Markt behindert. Denn „Möglichkeiten“ zu mehren, ist das Lebenselixier des Kapitals. Es könnte sich seinem Fluchtpunkt, dem unendlichen Mehrwert, anders nicht nähern.

Wir wollen die mögliche Unschuld des Kapitals an der Entstehung des Möglichkeits-Bedürfnisses immerhin festhalten. Ja sogar die Bedürfnis-Wucherungen, zu denen es dann kommen musste, sind ihm nicht allein anzulasten. Sie offenbaren etwas: eine Orientierungslosigkeit. Die hat doch nicht, wenn wir historisch zurückblicken, auf eine Produktionsweise gewartet, um sich zu ereignen. „Der Verlust höherer, überirdischer Werte musste notwendigerweise das Verlangen nach stärkerer Befriedigung der hiesigen Bedürfnisse hervorrufen“, sagt Sik mit Recht (a.a.O., S. 108). Dieser Verlust war ein Fortschritt – also soll man über das nachfolgende Hangeln von Bedürfnis zu Bedürfnis nicht klagen. Es war verständlich genug. Man lese noch einmal Goethes Faust, um das kulturelle Ereignis und seine ökonomische Bewegungsform zu erfassen. Faust findet nichts mehr, was sinnvoll studiert werden könnte, also stürzt er sich in Bedürfnisse, die anfangs völlig beliebig sind. Wenn es dazu eines Zaubermittels bedarf, dann des Geldes, das heißt die Güter, die ihm Mephistopheles, sein Bedürfnis-Manager, verschafft, sind Waren. Marx hat es auch so gelesen, er zitiert den entscheidenden Beleg (Vss. 1820 ff., vgl. MEW Erg.bd. I, S. 563). Und wer will über Faust den Stab brechen? Er hat „immer strebend sich bemüht“.

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Doch das ist lange her, inzwischen kann man den kapitalistischen Konsum nicht mehr unschuldig nennen. Ich erörtere von hier an die Andere Gesellschaft. Wenn wir unterstellen, dass der Markt aufgehört hat, kapitalistisch zu sein, hat das zwei Seiten. Zum einen heißt es, es gibt den kapitalistischen Anbieter nicht mehr, der uns etwas aufnötigt. Von dieser Seite her sind wir als Konsumenten unabhängig geworden. Zum andern indes, haben wir nicht oft genug genommen, was uns angeboten wurde? Man mag uns am Anfang genötigt haben, inzwischen ist es u n s e r e Gewohnheit. Wenn das Kapital beseitigt ist, ist die Gewohnheit noch da. Das heißt aber nicht, dass es immer noch eine kapitalistische Gewohnheit wäre. Es ist unsere eigene, sie hat nun einmal diese Vorgeschichte. Geändert hat sich, dass uns nichts mehr hindert, sie abzusetzen. Das genügt ja schon. Die Andere Gesellschaft ist kein Zustand, in dem alles von vornherein gut wäre. Wie sollte das gehen, was wäre das für ein alberner Traum? Nein, sie fängt mit Menschen an, die vorher im Kapitalismus gelebt haben, mit Institutionen, die vorher kapitalistische waren. Nur eins ist anders, es gibt kein Kapital mehr. Genauer gesagt, das ist es, was sich  “ o b j e k t i v “  geändert hat.  “ S u b j e k t i v “  hat sich aber auch etwas geändert, und auch nur Eines: dass die Menschen über ihre Belange selbst entscheiden. Was will man mehr? Die Menschen haben nur sich selbst, ein Gott wird nicht eingreifen.

Sie haben noch ihre Gewohnheiten, von denen manche dumm, andere problematisch sein mögen, aber nun  e n t s c h e i d e n  sie, ob sie es ändern oder dabei bleiben wollen. Das ist alles. Mehr kann man von der Anderen Gesellschaft nicht verlangen, weniger auch nicht. Es geht darum, die Warenwelt in den Griff zu bekommen, statt von ihr abhängig zu sein. Indem die Menschen nun selbst über ihre Bedürfnisse entscheiden, gelingt ihnen das.

Betrachten wir den  P r o z e s s , in dem sie die Warenwelt in den Griff nehmen. Er beginnt damit, dass sie es ungehindert tun können. Das Erste wird sein, dass sie sich fragen, was eigentlich die Bedürfnisse sind, mit denen sie in den Prozess eintreten. Womit pflege ich mich auszustatten? Habe ich es bisher mit Bewusstsein getan, oder war ich ein Getriebener? Wenn ich die Bedürfnisse zusammenstelle, die ich bisher mittels der Warenwelt befriedige, hat das eine Kohärenz oder lasse ich mich in verschiedene Richtungen zerren? Setze ich Schwerpunkte, weiß ich, was wichtig, was belanglos ist? Wie steht es mit der Konformität und Originalität meiner Bedürfnisse? Inwiefern gehöre ich zu einer Gruppe von Menschen mit Bedürfnissen, die einander ähneln? Was macht in ihr meine Besonderheit aus? Da all diese Fragen eine einzige Frage variieren:  W e r  b i n  i c h ? , wird es für jeden die Befreiung sein, sie sich überhaupt stellen zu können, bewusst und folgenreich. Folgenreich, weil ich mit all dem die Entscheidung vorbereite, entweder der zu bleiben, als den ich mich erkenne, oder am Eigenen etwas zu ändern.

Nun muss freilich gesagt werden, dass ich mein Selbst nicht bloß über Waren definiere, welche es auch sein mögen. Bedürfnisse an und für sich spielen bei meiner Selbstdefinition eine große Rolle, aber es werden nicht diejenigen im Vordergrund stehen, deren Befriedigung ich einkaufen muss. Selbstbestimmung, erwiderte Liebe, Freundschaft, Schaffensfreude, Kunstgenuss, Helfenkönnen, Ekstasen, „ewige“ Augenblicke, Geduld im Unglück, Ohne Angst Leben und die Chance sich zu individuieren sind nicht von dieser Art, nicht jedenfalls in der Anderen Gesellschaft. Selbst heute sind sie es nur zum kleinen Teil. Wo solche „letzten“ Bedürfnisse befriedigt werden, ist man zufrieden.  Z u f r i e d e n h e i t  wäre der Inbegriff unseres  “ e i g e n t l i c h e n “  Bedürfnisses, das durch Waren, dafür sind sie zu äußerlich, keine Befriedigung findet. Andererseits trägt das Äußerliche zur Zufriedenheit erheblich bei. Unsere ganze äußerliche Welt besteht aus Waren; wenn überhaupt, kann ich nur in dieser Welt zufrieden sein. Zum Beispiel meine Wohnung ist eine Ware, auf die sich meine Zufriedenheit oder Unzufriedenheit stützt. Ich brauche Waren, die mir ein Minimum äußerlicher Stützpunkte der Zufriedenheit sichern. Und dann brauche ich welche, mit denen ich mich  e r g ä n z e ; die das Werkzeug meiner Zufriedenheit sind. Oder wenigstens ihr „Kleid“. So äußerlich sie sind, genieße ich in ihrem Genuss mich selbst.

Es ist nicht fatal, dass diese Dinge warenförmig sind, wenn ich Geld habe, sie zu kaufen. Und ich habe es, nach Voraussetzung, in der Anderen Gesellschaft. Dafür, dass ich imstande bin, jenes Minimum äußerlicher Stützpunkte zu erwerben, und auch für den Kauf etlicher Waren, die mich ergänzen, gibt es das Grundeinkommen. Für die Schaffensfreude stehen über das hinaus, was ich mit mir selbst und meinen Freunden anstelle, die gesellschaftlich selbstbestimmten Produktionsstätten zur Verfügung, in die ich eintreten kann, nachdem ich sie in allgemeinen Wahlen mitgewählt habe. Wenn die Dinge nicht warenförmig wären, würde ich nicht so leicht an meine ganz eigenen Bedarfsobjekte herankommen, in der Menge, die ich benötige. Und die Gefahr, dass aus Waren Warenkapital wird, besteht nicht mehr. Es ist unmöglich geworden, den Warenverkauf für die Strategie unendlicher Mehrwerterlangung einzusetzen. Denn die Gesellschaft hat umrissen, was Warenproduktion sein soll, hat sie bestimmt und damit begrenzt; omnis determinatio est negatio.

Wenn ich mich frage, welche Waren ich zu meiner Ergänzung brauche, schließt das meine Wahl ein, manches Äußerliche, das ich genießen will, ohne Markt zu erlangen. Ich will vielleicht mein „Kleid“ selbst schneidern, das buchstäbliche oder das übertragene oder beide, und kaufe nur die Stoffe dafür ein. Ich habe vielleicht einen Garten gekauft, oder die Stadt hat ihn mir im Rahmen von Urban Gardening überlassen, in dem ich mein Obst selbst anpflanze und ernte. Urban Gardening wäre ein kultureller Fortschritt, aber darum geht es gar nicht. Sondern darum, dass ich selbst entscheide, als Teilnehmer an Wahlen, in welcher Proportion Warenkauf und Eigenversorgung zueinander stehn sollen. Wie auch, von welchen Dingen und Leistungen ich will, dass sie warenförmig sind, und von welchen nicht. Das ist die Andere Gesellschaft.

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Wenn ich dort einmal angekommen bin, werde ich nicht bloß nach meinen  e i n z e l n e n  Bedürfnissen fragen. Denn so gestellt, ist die Frage noch dem kapitalistischen Markt verhaftet. Dieser Markt kennt ja nur Einzelangebote, die sich auf meine einzelnen Eigenschaften, möglichen und wirklichen Wünsche beziehen. Für den einen bin ich der Biertrinker, und er fragt, wann ich von dem Zeug wohl „gesättigt“ sein werde. Für den andern reise ich gern, der dritte weiß, dass ich auf Sofagarnituren schwöre und sie hin und wieder erneuere – oder wenn nicht ich, dann bestimmt ein anderer. Ich selbst unterteile mich aber nicht so. Ich habe einen Lebensentwurf. Dem ordne ich Waren zu. In der gegenwärtigen Gesellschaft fällt das schwer, da spreche ich passender von meiner Lebensgeworfenheit, zu der denn gehören mag, dass ich mich als wandelndes Mosaik einzelner Bedürfnisse erlebe. Doch die Andere Gesellschaft hat das Niveau, dass alle von ihrem Entwurf ausgehen und er es ist, mit dem sie Erfahrungen machen, eigene Erfahrungen.

Auch wenn wir es so betrachten, werden wir wieder sagen, dass die Güter des Marktes den Entwurf nur ausstatten. Sie kommen nur für die Außenseite von Lebensentwürfen auf, und auch das nur teilweise. Aber es ist wesentlich, dass dies Äußere von mir als eine Ganzheit, wenn auch äußerliche Ganzheit, die ich der inneren meines Lebensentwurfs zuordne, begriffen wird.

Ich begreife dann, dass die Güter des Marktes natürlich zu allgemein sind, um auf meine Individuation zu passen, dass es unter ihnen aber welche gibt, die ihr nahe und förderlich sind, wenn ich sie zusammennehme. Solche zusammengenommenen Güter teile ich mit anderen Menschen. Ich gehöre einer Gruppe an, die über ihren Warenkorb definiert werden kann, oder wie man sagt, ich habe einen „Lebensstil“. Noch einmal, das ist äußerlich. Meine Individuation habe ich doch nur darin, dass ich mich in meiner Gruppe unverwechselbar mache, oder sie gar wechsle. Das ist dann keine Frage der Ökonomie mehr. Soweit aber Ökonomie dazu beiträgt, muss mich das Allgemeine interessieren, das der Markt hergibt und meiner Gruppe, meinem „Lebensstil“ anzubieten vermag. Ich als Unverwechselbarer werde auch  e i g e n t ü m l i c h e  Güter finden, die sich sofort eignen, meine Eigenheit einigermaßen zu „kleiden“. Aber wenn ich in Wahlen mitentscheide, kann es nur um  e i n  G l e i c h e s  gehen, das von Verschiedenen gekauft und freilich verschieden konsumiert wird.

Halten wir fest: Ich werde nicht bloß fragen, „was die  ( e i n z e l n e n )  Bedürfnisse sind, mit denen  i c h  in den Prozess eintrete“, sondern welches das Bedürfnis m u s t e r  der  G r u p p  e ist, zu der ich mich zähle. Wie kann denn darüber abgestimmt und das Resultat solcher Wahlen in den Markt eingespeist werden? Gleich drängt sich die Vorstellung auf, dass zwei, drei, vier Muster alternativ zur Wahl stehen mögen, von denen immer eines die Option ist, alles zu lassen, wie es ist, während die anderen dies und jenes modifizieren. Mehr in der 70. Notiz.