Zweiter Teil
Die historische Besonderheit des Kapitals im Allgemeinen
In diesem Teil der Blogreihe (Einträge 14 bis 32) wird begründet, weshalb wir uns von einer Logik verabschieden sollten, die ich mit Karl Marx die Kapitallogik nenne. Das Kapital – was verstehen wir darunter? Was ich hier Kapital nenne, wird nicht nur von Marx kritisiert, sondern auch von J. M. Keynes, Max Weber und anderen. Es ist ein und derselbe Sachverhalt, den sie alle im Auge haben. Sie unterscheiden sich freilich in der Terminologie und Trennschärfe der Erfassung. Marx hat den Sachverhalt am schärfsten erfasst. Er ist unser Ausgangspunkt.
Seine Formel G-W-G‘ ist ziemlich bekannt. Gemeint ist der Vorgang, dass (G)eld aufgenommen wird, damit (W)aren gekauft werden können, mit denen eine Produktion oder Dienstleistung in Gang gebracht wird – Anlagen, Rohstoffe, Maschinen, Arbeitskräfte -, aus der selbst wieder eine (W)are entspringt, die für mehr Geld (G‘) verkauft werden kann als aufgenommen wurde. Mit der Formel G-W-G‘ lässt sich bereits erklären, was „Ausbeutung“ ist (die Differenz zwischen G und G‘, der Mehrwert, wird vom Kapitalisten einbehalten und zu von ihm allein bestimmten Zwecken verwendet, statt dass alle an der Produktion Beteiligten über die Verwendung entscheiden), es ist aber noch nicht die Formel des Kapitals. Von Kapital und Kapitallogik sprechen wir mit Marx erst angesichts der (beabsichtigten oder auch „anonymen“) Strategie, G-W-G‘ unendlich oft zu wiederholen, dergestalt dass mit G‘ wieder W ge- und verkauft wird, es folglich zu G“ kommt und so immer weiter. Kapitallogik ist gar nichts anderes als „das Wachstum“, das heute in aller Munde ist, nur muss man sehen, dass es sich um ein erzwungenes Wachstum handelt. Die Kapitallogik ist ein Zwang.
Wenn wir uns, etwa aus ökologischen Gründen, aber auch weil „Ausbeutung“ mit ihr verbunden ist, von ihr verabschieden wollen, dann nicht ohne einzuräumen, dass es eine Epoche gab, in der die Zivilisation von ihr vorangebracht wurde. Das war die Zeit, in der die Zwanghaftigkeit der Expansion des Kapitals noch gar nicht auffallen konnte, weil die in seiner Perspektive hervorgebrachten Güter auch gewünscht wurden und anders nicht zustande gebracht worden wären. Was man vom Kapital sah, waren seine großen Gebrauchswertprogramme: die Produktion einer anspruchsvollen technischen Infrastruktur, etwa der Eisenbahn, im 19. Jahrhundert – nicht nur in den Kernländern des Kapitals, sondern in vielen Teilen der Welt -, der „Fordismus“ im 20. Jahrhundert, der in den Kernländern für erschwingliche Kühlschränke und Waschmaschinen sorgte, und die weltweite Internetkultur im beginnenden 21. Jahrhundert.
Seit den 1950er Jahren allerdings, als erstmals eine konsumkritische Bewegung entstand, und vollends seit der Bewusstwerdung der ökologischen Probleme gibt es über gewollte und nicht gewollte Gebrauchswerte auch grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten, die immer mehr zunehmen. In der Konsequenz wird immer deutlicher – wir stehen freilich noch ganz am Anfang dieses Prozesses -, dass man sich im Kapitalismus nicht einfach für eine Produktion gegen die andere entscheiden kann, sondern jede Gebrauchswertentscheidung sich dem Diktat der genannten blinden Expansionsnotwendigkeit fügen und entsprechend verbiegen lassen muss, entsprechend unsachlich ausfällt. Sobald die Gesellschaft das klar erkennt, wird der Kapitalismus als Produktionsweise unhaltbar.
Expansionszwang ist Kapitallogik, der Begriff des Kapitals im allgemeinen ist damit nicht erschöpft. Denn das Kapital hat nicht nur diese ökonomische, sondern auch eine politische und zudem eine naturwissenschaftliche Seite. So könnte es sich ohne ständige staatliche Hilfe vielerlei Art nicht reproduzieren, so hätte es ohne Naturwissenschaft nicht seinen technischen Körper. Diese beiden Faktoren können zwar inzwischen, weil es sie so sehr beherrscht, als seine Unterfunktionen erscheinen, ebenso wahr ist aber, dass sie von Anfang an und in Permanenz seine Grundlage sind. Man sieht es daran, dass Veränderungen auf der politischen und wissenschaftlichen Ebene – Demokratisierung der Ökonomie, Zielbewusstsein der Forschung – schon hinreichen würden, das Kapital und den Kapitalismus zu Fall zu bringen. Solche Veränderungen sind nicht unmöglich, werden allerdings durch den von Marx so genannten „Fetischismus“ behindert, den das Kapital in den Köpfen der Menschen erzeugt. Es erscheint nämlich als Schöpfer unserer Existenz statt als unser Geschöpf und steht wegen dieser eingebildeten Wesentlichkeit unter dem Tabu.
Was Marx als „Fetischismus“ behandelt, wird in der heutigen Diskussion meist nur aufs Geld bezogen, obwohl wir bei ihm lesen können, den Geldfetischismus hätten schon seine Vorgänger in der klassischen Ökonomie überwunden, nicht aber den Kapitalfetischismus. Es ist heute tatsächlich das Kapital, um das sich eine Art Religion rankt, die es unberührbar macht und noch seine Schrecken rechtfertigt, wie man das aus der Religionsgeschichte ja kennt.
Eine Reihe von Gründen muss uns nun veranlassen, der historischen Entstehung des Kapitals nachzugehen. Grundsätzlich geht es um den Erweis, dass es nicht aus vorher schon bestehenden Ware-Geld-Beziehungen zwangsläufig hervorgehen musste. Denn wir halten dafür, dass Kapital und Ware-Geld prinzipiell verschiedene Sachverhalte sind und es deshalb Ware-Geld weiter geben kann und soll, wenn die Zeit des Kapitals einmal abgelaufen ist. Kapital kann zwar ohne Ware-Geld nicht existieren, sie erklären aber seine Spezifik nicht, den Expansionszwang ins Unendliche. Zu erklären ist, wie dieser Expansionszwang entstanden ist. Dabei bringen uns Ware und Geld nicht weiter, wohl aber hilft uns die Einsicht in seine drei Dimensionen – die ökonomische, staatliche und naturwissenschaftliche – und in seinen Fetischismus, das heißt seinen religiösen Charakter. Denn es zeigt sich, dass erstens die staatliche Existenzbedingung des Kapitals entstand, bevor es ökonomisch in Erscheinung treten konnte, dass zweitens noch vor der staatlichen die naturwissenschaftliche Existenzbedingung entstand und drittens noch vor der naturwissenschaftlichen die religiöse.
Der Kapitalismus als ökonomisches System entstand am Ende des 18. Jahrhunderts und eigentlich genau genommen, wie ich in einem späteren Teil der Blogserie nachgetragen habe, erst im Jahr 1832, als das Bürgertum in England die Regierungsmacht übernahm und seine Ideen von so etwas wie einer Marktmaschine, einem „selbstregulierenden Markt“ (Karl Polanyi) in die Tat umsetzen konnte. Der Weg aber, der dorthin führte, begann mit der Krise des endenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. Bei seiner Rekonstruktion sind wir bis zur Lehre des Renaissancetheologen und -philosophen Cusanus (Nikolaus von Kues) zurückgegangen: Er war der Erste, der dem Gott der Kirche Unendlichkeit direkt als Attribut zuschrieb, statt diese Kategorie nur als auf Gott weltlich hinführende Metapher gelten zu lassen. Isoliert betrachtet kann er weder als Inaugurator eines Unendlichkeits-Diskurses, den man an seinen diskurstypischen blinden Flecken erkennen würde, noch gar als „Fetischist“ angesehen werden. Seine Argumentation ist vielmehr vollkommen rational. Doch wie sich in der beginnenden Neuzeit die gesellschaftliche Krise entfaltet und es zu vielerlei Fluchtbewegungen kommt, greifen Einige auf ihn zurück, um ihm gleichsam Rationalisierungsfermente zu entlehnen. Dabei sind blinde Flecke hilfreich und so entsteht der neue Diskurs.
Der Erste, von dem es gesagt werden kann, ist Giordano Bruno. Bei ihm sind Unendlichkeits- und Fluchtbewegung schon eins, zugleich erscheint die Flucht noch nicht als solche, sondern als Befreiung aus einer Enge, als Öffnung. Das ist sie auch, nur wird in der Folge deutlich, dass die Bewegung sich als solche verselbständigt und damit ziellos wird – nicht nur in der Physik, wo schon Galilei diese Konsequenz zu ziehen beginnt, sondern in der Weltperspektive überhaupt. In der Philosophie ist seit Spinoza entschieden, dass die unendliche Bewegung nirgends hinführt als eben zur Unendlichkeit. Weil er zugleich den unendlichen Gott mit der Natur identifiziert, gerät der religiöse Charakter des Diskurses in den folgenden Jahrhunderten immer mehr in Vergessenheit. Vor allem aber hat er den Kernsatz des Diskurses artikuliert, der zum verborgenen Kernsatz des Kapitals werden wird. Es gebe ein Wesen, lautet er, bei dem Wirklichkeit und Möglichkeit zusammenfalle; in ihm sei alles unendlich Mögliche immer schon real; beim Menschen falle beides nur l e t z t l i c h zusammen, das heißt er brauche den Zeitverlauf, um alles unendlich Mögliche zu realisieren und so erst zu seiner Wirklichkeit zu gelangen. Man findet bei Cusanus Sätze, die ganz ähnlich klingen, auf sie greift man offenbar zurück, doch was sie nun bedeuten, ist neu.
Ausdrücklich unterstreicht Spinoza den Zwangscharakter dieser Figur, a l l e s z u t u n , w a s m ö g l i c h i s t , die später auch als „Freiheit“ artikuliert werden wird. Das Kapital nach der Definition von Marx entspricht ihr genau: „Das Kapital als solches“, lesen wir in den Grundrissen, „setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.“
Auf Spinoza berufen sich die Deisten, die in der englischen Partei der Whigs und in den europäischen Freimaurerlogen zu großem Einfluss gelangen. Auch Benjamin Franklin übrigens, den Max Weber als Zeugen für den calvinistischen Charakter des frühen Kapitalismus anführen will, hatte in Wahrheit, wie Weber selbst einräumen muss, nur einen calvinistischen Vater und war seinerseits Deist. Dafür, dass im Umkreis der englischen Partei zuletzt die Idee des selbstregulierenden Marktes und damit eben – weil dieser auf grenzenlose, unendliche Bewegung hinausläuft – des Kapitals entstand, waren auch Entwicklungen in Frankreich wichtig gewesen. Die Idee und Praxis einer grenzenlosen Macht- und, als Vorbedingung, auch Reichtumsexpansion, die sich nicht mehr an Möglichkeitsgrenzen band, wie das die größten Reiche der Vergangenheit getan hatten, hatte hier ihre erste große Entfaltung. Die Praxis der Reichtumsunendlichkeit ist in gewisser Weise die Kehrseite ausufernder europäischer Kriege, die bezahlt werden wollten, ein Gesichtspunkt, der häufig in den Vordergrund gestellt wird. Indessen hat es ausufernde Kriege in vielen Weltregionen und Epochen gegeben. Ein französischer Beitrag zur Kapitalismus-Entstehung mag auch die cartesische Philosophie der belebten Maschine gewesen sein, die im englischen Konzept der Marktmaschine jedenfalls wiederkehrt. In Frankreich wie in England beobachten wir, wie es zuerst der Staat ist, der große Kapitalgesellschaften bildet, aus welcher Form sich die private Aktiengesellschaft entwickeln sollte. Letzteres lesen wir auch bei Marx.
Nach dieser Rekonstruktion der Entstehung der Kapitallogik habe ich noch versucht, ein Prinzip des Bruchs mit ihr zu formulieren. Kriterium war, dass kein Zwang zur unendlichen Bewegung mehr sein, die Öffnung der Enge, als welche sie begonnen hatte, aber nicht rückgängig gemacht werden soll. Um dem gerecht zu werden, kann man sich klarmachen, dass „Unendlichkeit“ ein konfuser Begriff ist. Denn das Un-Ende muss keine Endlosigkeit sein. Das zeigt die Logik der Frage. Wenn ich eine Frage so beantworte, dass ich sie selbst zum Thema mache, mit Gründen zurückweise und also ihre Grenzen überschreite, bin ich ja in ein Un-Ende gegangen – ohne dass aber in meiner Antwort mehr liegt, als dass eine neue Frage aus ihr entspringt und ich bei dieser bleibe. Ich bleibe bei der neuen Fragestellung, bis sie selbst auf Zurückweisung stößt, was irgendwann geschehen kann, aber nicht muss. Das heißt, ich gehe n u r f a l l w e i s e über ein Ziel hinaus statt zwanghaft über jedes. Die Alternative zum zwanghaften Unendlichkeitsdiskurs ist also der Antwortdiskurs. Das klingt sehr abstrakt, doch davon, wie wir es konkretisieren können, war die Rede: Die Alternative zur Kapitallogik, der zwanghaft unendlichen „Selbstverwertung des Werts“, ist die periodisch gegebene Antwort der Gesellschaft auf die Frage, für welches von mehreren volkswirtschaftlichen Programmen sie sich in ökonomischen Wahlen entscheidet.