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Wenn ich jetzt in die Erörterung der gesellschaftlichen ökonomischen Wahlen einsteige, mit Schwerpunkt auf „Proportionswahlen“, muss ich gleich ankündigen, dass auch hier kein leichter Weg bevorsteht. Ich habe erneut keine fertigen Einsichten parat, sondern glaube wieder nur, mit ein paar Grundeinsichten ausgestattet zu sein, die eine Untersuchung lohnen. Greifbare Ergebnisse wird es also wieder erst am Ende in Form einer Zusammenfassung, dann nicht Zwischen- sondern Endzusammenfassung geben können. Die Grundeinsichten sind aber doch schon für sich genommen, so scheint mir, schlagend genug und können als bessere Alternative zum Vorhandenen ohne Weiteres plausibel gemacht werden. Mein Einstieg soll daher sein, das, worauf ich hinauswill, sofort zu präsentieren. Und zwar soll, was in knappen Hinweisen während der ganzen Blogserie geschah, jetzt von Anbeginn ausführlich geschehen. Es geht um eine die Grundfesten der Gesellschaft betreffende Sache: darum, ö k o n o m i s c h e G r u n d e n t s c h e i d u n g e n in die Hände aller Menschen, die an der gesellschaftlichen Ökonomie teilhaben, zu legen, statt dass solche Entscheidungen vom Kapital usurpiert und allenfalls „stellvertretend“ vom Staat gefällt werden – einem Staat, der die Menschen bestenfalls so vertritt, dass er zugleich und zuerst das Kapital vertritt.
Als ökonomische Grundentscheidungen sehen wir solche an, von denen die Proportionen einer Volkswirtschaft bestimmt werden. Wie ist es heute damit? Da gibt es e i n e Grundentscheidung oder -haltung seit je, die vom Kapital ausgeht und vom Staat artikuliert wird und letztlich eine einzige ist. Sie lautet, dass sich die Kapitallogik frei soll entfalten können, damit es zu möglichst viel „Wachstum“ kommt, und läuft darauf hinaus, dass als bloße Resultante der freien Entfaltung dann auch Proportionen, in denen die Branchen und Produktgruppen zueinander stehn, sich von selbst herausbilden und nachträglich konstatiert werden können. Diese Grundhaltung hält sich auch da durch, wo sie staatlich modifiziert wird. Natürlich kommt es immer zu Modifikationen. So beschließt der Staat einen Staatshaushalt und setzt ihn gesellschaftlich durch. Da er gewaltige Wertsummen, die Gesamtheit der Steuern, in Bewegung setzt, nimmt er auf die gesellschaftliche Ökonomie beträchtlichen Einfluss, und zwar gerade auf die Proportionen. Es ist ja klar, wenn in einem Staatshaushalt die Militärausgaben einen großen, die Sozialausgaben einen geringen Anteil haben, kommen andere Proportionen der gesellschaftlichen Gesamtökonomie zustande als im umgekehrten Fall.
Die Proportionen werden auch dadurch beeinflusst, dass der Staat in manche Branchen interveniert. Da haben die im Haushalt bereitgestellten Mittel Hebelwirkung, können also relativ gering sein und doch beträchtliche Folgen haben. In Deutschland zum Beispiel fördert der Staat auf allen möglichen Wegen die Autoindustrie, außerdem irgendwie auch „die Energiewende“. Beides sind Proportionsfragen und in beiden Fällen wirkt der Staat dem Selbstlauf entgegen, der Proportionen bloß als passive Resultanten zustande kommen lässt. Hätte zum Beispiel die letzte Große Koalition keine „Abwrackprämie“ beschlossen, sähen die Proportionen heute etwas anders aus – das Gewicht der Autoproduktion im Verhältnis zu anderen Produktionen wäre etwas geringer -, und wäre die neue Große Koalition sich nicht einig, Maßnahmen zur Verteidigung der angeschlagenen reaktionären Kohleindustrie zu treffen, käme man schneller zur hundertprozentig regenerativen, optimal schadstoffarmen Energiegewinnung.
Es ist aber offensichtlich, und gerade diese Beispiele zeigen es, dass solche staatlichen Proportionsentscheidungen selbst nur Ableger jener einzigen Entscheidung sind, der Kapitallogik so viel Entfaltungsfreiheit wie möglich einzuräumen. Denn diese Logik hat im Bereich der Autos und der Kohle zu starker ökonomischer Konzentration geführt, in der sich die Bedeutung spiegelt, die beide Güter vormals hatten. Von der ökonomischen Konzentration geht politische Macht aus und diese festigt rückwirkend die überholten Proportionen, den überholten ökonomischen Zustand. Da also, wo der Selbstlauf der Kapitallogik an Grenzen zu stoßen droht, sorgt der Staat durch reaktionäre Proportionsentscheidungen dafür, dass sie dennoch wirkt.
Was am Staatshandeln trotzdem vorbildlich ist, sei hier auch notiert. Ein Staatshaushalt wird aufgestellt: Das zeigt doch, wie nützlich es ist, Proportionsentscheidungen im Voraus zu treffen, und wie dem gar nichts im Wege steht. Es zeigt auch die Bedingung. Man kann nämlich Proportionen nur hinsichtlich einer Menge, die begrenzt ist, im Vorhinein festlegen. Außerhalb des Staates sind sie gerade deshalb bloß Resultante, die man nur nachträglich konstatieren kann, weil Kapitallogik auf permanente Steigerung der Menge des Gewinns (des Mehrwerts) und davon abhängig der Waren zielt – derjenigen am meisten, die den größten und schnellsten Gewinnzuwachs erwarten lassen. Dem Staat dagegen bleibt nichts übrig, als sich innerhalb einer begrenzten Wertmenge, des Steueraufkommens nämlich, zu bewegen. Wenn er die Menge ausweitet, indem er Schulden aufnimmt oder auf künftige Steuermehreinnahmen spekuliert, die dann vielleicht gar nicht hereinkommen, so ändert auch das nichts daran, dass er d i e G r e n z e n der Menge, sei sie auch ausgeweitet, aussprechen und auf sie bezogen die Proportionsentscheidung fällen muss.
Unsere Frage wird sein, ob nicht auch Proportionsentscheidungen, die von allen Bürgern gefällt werden und die gesamte Ökonomie ihrer Gesellschaft zum Gegenstand haben, im Voraus getroffen werden können. Auch sie müssten auf eine Menge, deren Grenzen im Zug der Entscheidung mit angegeben werden, bezogen sein.
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Um das Konkrete vor Augen zu haben, erinnern wir uns einiger Proportionen, auf die es ankäme. Sie wurden schon angetippt:
Wieviel motorisierten Privatverkehr (Privatautos) im Verhältnis zu wie viel Öffentlichem Verkehr – nicht nur Nahverkehr (ÖPNV), sondern auch Öffentlichem Fernverkehr – gibt es, dürfte es nicht geben, sollte es geben? Hierzu gehören auch spezielle Fragen, etwa welchen Anteil am Schienenverkehr der Transport ökonomischer Güter haben soll. Das spielte im Streit um „Stuttgart 21“ eine Rolle, da die Gegner des Projekts darauf hinwiesen, dass das zu lösende Problem eher im Gütertransport liege als in der Personenbeförderung. Mit der argumentierten die Befürworter, die Gegner konnten da aber gar keinen Engpass erkennen. Und es gehören Folgefragen dazu: Wenn Gütertransportmöglichkeiten zu erweitern sind, ohne dass deshalb die Kapazität für den Personentransport schrumpfen soll, kann es geboten sein, den Anteil des Schienenverkehrs im Ganzen am Gesamtverkehr zu erhöhen.
Weiter: Wieviel fossile im Verhältnis zu wieviel regenerativer Energiegewinnung? Diese Proportionsfrage ist nun schon seit einem Vierteljahrhundert im öffentlichen Bewusstsein präsent. Der Staat selber hat dafür gesorgt, indem er seine Energiepolitik auf einen angeblich sinnvollen „Energiemix“ zurückführte und damit rechtfertigte. Denn es sollte das Fortlaufen der Atomenergie plausibel gemacht werden: Sie gehöre eben auch zum „Mix“. Das ist seit Fukushima vorbei. Muss es noch ausgesprochen werden, dass uns gerade die zeitgenössische „Nachhaltigkeit“ der Atomenergie ein schlagendes Argument für die Notwendigkeit, Proportionswahlen abzuhalten, in die Hand gibt? Würde es nämlich solche Wahlen immer schon geben, wären die AKWs Jahrzehnte früher stillgelegt worden, denn seit Tschernobyl hat eine klare Bevölkerungsmehrheit sie abgelehnt. Die GAU-Gefahr, die jederzeit akut werden kann, wurde durch die Nichtexistenz solcher Wahlen unerträglich verlängert.
Aber auch nachdem diese Frage nun endlich geklärt ist – wobei noch offen bleibt, ob das Atomkapital „Restlaufzeiten“ hätte, wenn die Entscheidung bei den Bürgern und ihrer Wahl läge -, bleiben Fragen des Energiemixes hochbrisant. Zum einen debattiert man das Verhältnis der regenerativen Stromarten zueinander. In den Medien äußert sich vor allem das Kapital und will wie üblich erreichen, dass nur zur Geltung kommt, was sich am billigsten herstellen lässt und also zum größten Verkaufsgewinn führt. Unter diesem Gesichtspunkt spricht viel für Windränder an Land, die in den Augen Mancher die Landschaft verschandeln, sehr viel weniger für Solarenergie, gar nichts für offshore-Windparks. Dass dann auch die Biospritproduktion untragbar erscheint, ist ein erfreulicher Nebeneffekt, der sich aber doch nur, wie alles andere, dem Selbstlauf der Kapitallogik verdankt – es ist ein sinnvoller, ökologisch und sozial zuträglicher Effekt, doch aus purem Zufall. Interessant nun, wie sich die neue Regierung verhält. Sie hält an den offshore-Windparks trotzdem fest, wohl wegen der Beständigkeit ozeanischer Winde. Sie hat, so scheint es, doch nicht nur Kapitallogik im Kopf. Auf diese fällt sie aber zurück, wenn sie die „Energiewende“ mit vollem Bewusstsein verlangsamt, um die antiökologische Kohleindustrie zu schützen.
An solchen Fragen hängen andere. Es geht in ihnen auch generell um die Proportion der Bodennutzung. Wieviel Boden soll dem Biospritanbau zugestanden werden angesichts dessen, dass er, in einer hungernden Welt, auf Kosten des Anbaus von Nahrungspflanzen geht? Diese Frage steht offenbar im Zusammenhang mit der anderen, wieviel motorisierten Privatverkehr es geben soll. Brisante Fragen stellen sich aber auch, wenn wir nur den Nahrungspflanzenanbau betrachten: Sollen wir wirklich bei der Praxis bleiben, dass weltweit auf zwei Menschen ein Rind kommt, was zur Folge hat, dass dem Anbau m e n s c h l i c h e r Nahrung extrem viel Fläche entzogen wird? Rindfleisch wird dann überwiegend im Norden der Welt konsumiert, während im Süden täglich Zigtausende den Hungertod sterben – wie ertragen wir das? Wenn wir nur auf unsern Reichtum schauen, stellt sich eine viel weniger skandalöse, aber auch nicht unwichtige Frage: Wieviel Prozent der Fläche soll landwirtschaftlich genutzt werden, im Verhältnis zu wieviel Prozent Erholungsgebiet?
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In diesem Aufriss, bei dem ich es erst einmal belasse, wird schon deutlich, wie sich Proportionsfragen, die zunächst verschieden scheinen, als zusammenhängend erweisen. Wir haben gesehen, dass Fragen, die sich bei „S 21“ oder beim Biospritanbau stellen, mit der Frage zusammenhängen, wieviel motorisierten Privatverkehr es geben soll. Um Letzteres zu entscheiden, müsste man aber auch fragen, wofür Autos denn heute gebraucht werden und was von solchem Gebrauch teils jetzt schon unnötig ist, teils unnötig gemacht werden kann. Unnötig ist heute bestimmt nicht, für viele Menschen, der Pendelverkehr zwischen Stadt und Land, zum Arbeitsplatz, zum Supermarkt, zur Kindertagesstätte und so weiter. Es könnte zwar viel mehr öffentliche Verkehrsträger geben, doch auch sie haben ja ihre Grenzen. Nicht alles, wofür man mobil sein muss, kann von ihnen erwartet werden. Ein Umbau der räumlichen Strukturen – Stadt, Vorstadt, Land -, um einige der genannten Wege zu verkürzen, wäre daher in Erwägung zu ziehen. Sich für ihn zu entscheiden würde etwa der Bauindustrie eine Zeitlang mehr proportionales Gewicht geben.
Es handelt sich bei diesen Fragen zunächst um Proportionsentscheidungen, die zur Substitution von Gütern durch andere Güter führen können, indem zum Beispiel Mobilität weniger durch Autos, mehr durch Fahrrad und Schienenverkehr erreicht wird. Da stoßen wir auf das Problem der Definition eines Gutes. Ein Auto ist zweifellos für sich genommen ein Gut, das heißt es hat einen Gebrauchswert; der ist aber als Abkömmling eines Guts, um das es „eigentlich“ geht, anzusehen, oder als bloßes Mittel, es zu erreichen, nämlich der Mobilität. Was aber ist Mobilität? Die geläufige Definition, „Kilometer, die man pro Stunde zurücklegen kann“, spiegelt das Interesse der Autoindustrie, weil sie einen völlig abstrakten Gesichtspunkt benennt, ohne die Frage, warum Menschen Kilometer zurücklegen wollen, auch nur zu streifen. Man könnte sogar sagen, das ist eine nihilistische Definition, weil sie so tut, als hätten Menschen keine Ziele oder als seien sie ihnen abhanden gekommen. Nicht nihilistisch ist jedenfalls die alternative Definition, Mobilität sei die Geschwindigkeit, mit der jemand sein Ziel erreiche. Legt man sie zugrunde, kommt wunderlicherweise heraus, dass die Mobilität auch der reichen Menschheit in der ganzen Zeit, wo sie Autos kaufte, nicht größer geworden ist. (So Bernhard Knierim, Essen im Tank. Warum Biosprit und Elektroantrieb den Klimawandel nicht aufhalten, Wien 2013, S. 145 – das Buch ist im Ganzen eine hervorragend nützliche Analyse.)
Wir sehen an diesem Beispiel, dass Proportionsentscheidungen oft Wahlen zwischen verschiedenen Wegen sind, e i n Gut zu erreichen. Das ist ja auch beim „Energiemix“ der Fall, wo der Strom das eine Gut ist. Es gehört daher zu Proportionswahlen, dass man sich über die Güter einigt, oder auch streitet, die man erlangen will. Bei einigen Gütern streitet man über die Definition, bei anderen nicht einmal darüber, sondern nur um den Weg zu ihnen hin. Dann gibt es auch welche, die manche wollen und andere nicht. Bleiben wir aber noch beim Streit um verschiedene Wege zum einen Gut. Worum hier gestritten und was schließlich gewählt wird, ist nicht nur die (teilweise) Substitution eines Wegs durch einen anderen, sondern je nachdem, was gewählt wird, verändert sich auch das Gefüge der Komplementärgüter, das heißt derjenigen, die man ergänzend gebrauchen muss, um ein Gut zu gebrauchen. So gehört Benzin zu den Komplementärgütern des Autos, eben deshalb hängt ja die Proportion des landwirtschaftlichen Anbaus, Stichwort Biosprit, mit der Proportion der Verkehrsmittel zusammen.
Wir sehen alles in allem, dass Proportionswahlen eine nicht unkomplizierte Sache sind. Unkompliziert sind nur die Proportionen, die sich von selbst ergeben, ohne dass sich jemand Gedanken über sie macht. Aber dann kommt es zu Verwerfungen. Eine Abstimmung setzt jedenfalls voraus, dass die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen und letztlich wohl allen Proportionen untersucht worden sind mit dem Ergebnis, dass sich mögliche G e s a m t w e g e der gesellschaftlichen Gütererzeugung abzeichnen, von denen dann einer gewählt wird. Und es gilt auch, dass sich m ö g l i c h e Gesamtwege abzeichnen müssen, die also im Ganzen funktionieren würden, weil sie in ihrem innern Zusammenhang stimmig sind. Proportionswahlen setzen also etwas wie Wahlprogramme voraus, die sich aber, anders als heute die Wahlprogramme der Parteien, nicht in der Aufzeichnung dessen, was man gern möchte, erschöpfen dürfen. (Nachher heißt es, alles stehe aber natürlich „unter dem Finanzierungsvorbehalt“.) Die Wahlprogramme, die uns vorschweben, müssen auf realistischen Szenarios basieren. Wie ist es zu erreichen? In welchem Verhältnis werden ökonomische Wahlprogramme zu parteilichen stehn? Dazu mehr in der nächsten Notiz.
Im Tagebuch gibt es übrigens einen neuen Eintrag.