(111) Ökonomische statt parteiliche Programme

Zweite Abteilung / 1. Die Proportionswahl ist eine Wahl besonderer Art / Fünfter Teil – Proportionswahlen

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Wie die vorige Notiz gezeigt hat, wären Proportionswahlen so abzuhalten, dass ganze ökonomische „Programme“ zur Abstimmung stehen. Denn es gibt viele Zusammenhänge zwischen den Sektoren einer Volkswirtschaft und alle müssen berücksichtigt werden, damit nichts Unmögliches gewählt wird. Auch wird durch eine gewählte Veränderung der Proportionen das Gefüge der Güter, die man mitgebraucht, wenn man ein Gut gebraucht, wie heute Benzin zum Auto, ebenfalls verändert. Wir müssen uns nun aber klar machen, dass solche „Programme“ dem, was heute in der Politik unter diesem Namen läuft – Parteiprogramme, „Wahlprogramme“ in deren Kontext -, kaum ähneln. Eigentlich gibt es nur eine wirkliche Übereinstimmung, die darin besteht, dass den Bürgern  m e h r e r e  P r o g r a m m e  vorgelegt werden. Da die Wahl aber den Charakter einer Bestellung von Grundgütern bei den produzierenden Unternehmen haben soll, an die dann beide Seiten, die Absender und die Empfänger der Bestellung, gebunden sind, ist sie ansonsten gravierend anders.

Nein, auch darin noch liegt eine Ähnlichkeit, dass auch gute parteiliche Wahlprogramme Zusammenhänge zwischen den verschiedenen „Forderungen“, die da aufgeschrieben sind, herstellen. Am ehesten trifft das wohl für Wahlprogramme der Grünen zu, die immer eine erbauliche Lektüre sind, nur dass es bisher am Willen zur Umsetzung oft gemangelt hat. Aber gerade hier kann man studieren, was das Problem ist. Die Grünen sind eine Partei, der es noch um Ziele geht. Andere Parteien sind längst dazu übergegangen, nur „Werte“ zur Abstimmung zu stellen. Wer „für Gerechtigkeit“ ist, soll SPD oder Linkspartei, wer „für Freiheit“, Union oder FDP wählen. Das gewählte Parlament spiegelt dann das Kräfteverhältnis von Gerechtigkeitsanhängern und Freiheitsanhängern wider. Aber eigentlich kann von „Kräften“ gar nicht die Rede sein, weil es ja überhaupt gar keine Handlungskonsequenzen haben muss, wenn eine Partei sich „zur Gerechtigkeit bekennt“ oder „zur Freiheit“, was außerdem auch nicht einmal eine Alternative ist: Es weist immer nur darauf hin, wie man es gern gehabt hätte, wenn die „Sachzwänge“ nicht wären, der „Finanzierungsvorbehalt“, das TINA-Prinzip.

Nun versuchen sich zwar auch die Grünen diesem Spiel anzupassen, in dem Wahlen dazu da sind, Gesinnungsmeinungsbilder zu erstellen, und warten ebenfalls mit einem „Wert“ auf, der „Nachhaltigkeit“. Die weitgehend nutzlose Vagheit des Begriffs wurde oft analysiert, zuletzt von Edda Rydzy und Monika Griefahn (Natürlich wachsen. Erkundungen über Mensch, Natur und Wachstum aus kulturpolitischem Anlass, Wiesbaden 2014, hier S. 13-60). Bei allem angelernten Opportunismus können die Grünen aber doch nicht verbergen, dass sie wegen ganz konkreter und dabei sehr weitreichender Aktivitäten, die unternommen werden müssten, zum Beispiel der schnellstmöglichen Umstellung auf erneuerbare Energie, politisch mitspielen. Nur hat das politische Mitspielen seinen Preis. Wer sich darauf einlässt, muss seine Handlungsziele hintanstellen. Eben weil sie gern handeln würden, denken die Grünen über Folgen und Nebenfolgen nach, also über Zusammenhänge, wie sie auch bei Proportionswahlen vorher bekannt sein müssten. Handeln könnten sie aber erst, wenn sie mit absoluter Mehrheit regierten, und wie soll es dazu je kommen?

Man sieht hier, wie nutzlos im Grunde die Überlegungen sind, die der Prager Reformer Ota Sik 1968 angestellt hat. Zwar berufe ich mich auf ihn. Aus der Mitte einer kommunistischen Einparteiherrschaft heraus hat Sik gefordert, ökonomische Planung müsse mit allgemeinen Wahlen zwischen verschiedenen ökonomischen Programmen beginnen. Aber er hat diese Idee dann dahin zuendegedacht, dass die Wahl zwischen ökonomischen Programmen eine zwischen verschiedenen Parteien sein solle. So wäre sie im Vergleich mit Parlamentswahlen, wie sie der Westen immer schon kennt, gar nichts Besonderes. Natürlich war es gut und richtig, 1968 in der CSSR Parlamentswahlen zu fordern. Von Parteien indes, die sich im Westen zur Wahl stellen, wissen wir längst, dass sie ökonomische Wege ankündigen, ohne sie dann auch zu beschreiten.

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Bleiben wir einen Moment bei der Situation, in der sich Ota Sik befand. Die Idee der ökonomischen Wahl gehörte nicht ihm allein. Sie kann nicht auf einen einzelnen Kopf zurückgeführt werden. Eine sozialistische Gesellschaft, in der sich mehrere Parteien zur Wahl stellen, wurde damals zum ersten Mal im „Manifest der 1000 Worte“ gefordert, das die sowjetische Führung zur Niederwerfung des Prager Frühlings veranlasste. Dass die tschechoslowakische Staats- und Parteiführung, der Sik angehörte, ebenso dachte, steht zwar außer Zweifel, doch äußerte sie es nicht, was ihr freilich auch nichts nützte. Sik erhielt danach in der Schweiz eine Professur, wo er die Idee ausarbeitete und das Buch schrieb, auf das wir schon Bezug genommen haben (Humane Wirtschaftsdemokratie. Ein Dritter Weg, Hamburg 1979).

Nun hatte sich allerdings etwas geändert: Dieses Buch war im Westen und in den Westen hinein geschrieben. Zu erwarten, dass die westliche, kapitalistische Ökonomie nicht mehr so wäre wie sie ist, wenn Parteien mit ökonomischen Wahlprogrammen antreten würden, war nicht plausibel aus dem einfachen Grund, dass sie es ohnehin taten. Und auch deshalb fehlte die Plausibilität, weil die ökonomische Alternative, die Sik hauptsächlich vorschwebte, derjenigen entsprach, die immer schon zwischen sozialdemokratischen und konservativen Parteien strittig war, ob es nämlich gut oder schlecht sei, wenn kleine Leute mehr Geld zum Konsumieren bekommen. Man muss sich vorzustellen versuchen, wie man die Debatte im Realsozialismus weitergeführt hätte. Dort gab es ja eine sozialistische Verfassung, die weiterhin alle Beteiligten auf die nichtkapitalistische Gesamtordnung festlegte. Auch das System der ökonomischen Planung wäre beibehalten worden, nur hätten eben mehrere Pläne zur Wahl gestanden oder wären sie, besser gesagt,  d e r  B e v ö l k e r u n g  v o r g e l e g t  w o r d e n . Denn dass es sie immer gab oder geben konnte – im Führungszirkel der einen herrschenden Partei -, ist ohnehin klar.

Diese Frage möglicher und wirklicher Meinungsverschiedenheiten in den Führungszirkeln ist sehr wichtig. Wir wissen von ökonomischen Alternativen in der realsozialistischen Geschichte. So stand die Sowjetunion in den 1920er Jahren vor der Entscheidung, ob sie Trotzkis oder Bucharins ökonomischem Programm folgen sollte. Trotzki wollte die Schwerindustrie auf Kosten der Konsumgüterindustrie forciert ausbauen, Bucharin mit der Fortführung von Lenins „Neuer Ökonomischer Politik“ einen langsameren Weg einschlagen. Man weiß, wie der Streit ausging: Stalin trieb mit Bucharins Hilfe Trotzki aus dem Land, ließ Bucharin dann töten und führte Trotzkis Programm aus. Trotzki ließ er später ebenfalls ermorden. Das waren aber nicht einmal seine größten Verbrechen, sondern die beging er bei der rücksichtslosen Ausführung des Programms, dem Millionen zum Opfer fielen. Das ist alles sattsam bekannt – aber viele glaubten und glauben vielleicht immer noch, zu dem Programm selber, wäre es nur weniger rücksichtslos umgesetzt worden, habe es in der damaligen Sowjetunion gar keine Alternative gegeben. Auch das ist falsch, besonders in rein ökonomischer Hinsicht.

Dass ein ökonomisch rückständiges Land nicht zuallererst eine Schwerindustrie aufbauen muss, weil es nur auf ihrer Grundlage eine blühende Konsumgüterindustrie geben könne, hat China bewiesen und ist von einem Chinesen klärlich gezeigt worden. Justin Yifu Lin, seit 2008 Chefökonom der Weltbank, bezeichnet sich als „Marxwirtschaftler“ und gilt als einer der geistigen Väter des chinesischen Wirtschaftswunders. Er kann uns überzeugen, dass China gut daran tat, den sowjetischen ökonomischen Weg zu verlassen. In seinem Buch On China’s Economy – Der chinesische Weg zur Wirtschaftsmacht (Heidelberg Peking 2009, Originalausg. 2008) weist er darauf hin, dass „die gleiche Wirtschaftspolitik bei verschiedenen Ländern zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen [kann]“ (S. 107). So konnte der Deutsche Bund im 19. Jahrhundert die Schwerindustrie vorrangig ausbauen, weil bereits viel Kapital vorhanden war. In der Sowjetunion und auch in China war das aber ja nicht der Fall.

„Ebenfalls unsinnig […] war der Versuch Chinas und Indiens, in den 1950er Jahren eine Autoindustrie aufzubauen. Vom ärmlichen Pro-Kopf-Einkommen der beiden Länder einmal abgesehen, das damals gerade einmal 5 und 6 Prozent des US-amerikanischen betrug, fehlte es der chinesischen Stahlindustrie an nahezu allem, an Know-how, an Lieferantenketten, aber auch an Werkstätten, die die einzelnen Bauteile und Baugruppen des Wagens hätten herstellen können.“ (S. 106) Was er sagen will: Beide Länder haben damals nicht ihren Vorteil auf dem Weltmarkt zu erkennen versucht, den sie trotz ihrer Rückständigkeit hatten. Der war mit dieser gerade verbunden, denn bei allem Mangel an Arbeitsproduktivität war die Arbeits i n t e n s i t ä t , das Vorhandensein von Arbeitermassen, die beschäftigt sein wollten, umso größer, und mit der ließen sich Dinge bewirken, zu denen die fortgeschrittenen Länder nicht mehr fähig waren: „Entwicklungs- und Schwellenländer sollten […] aus Kostengründen die benötigte Fertigungstechnik besser einführen und sich hauptsächlich mit Waren, die in der Herstellung arbeitsintensiv sind, positionieren, um hierüber zu wachsen und zu mehr Kapital zu kommen.“ (S. 108)

„Der Technologietransfer aus dem Ausland führt […] mitnichten zu einem Nachlassen der eigenen Innovationskraft. Dieses Phänomen zeigt sich vor allem in jenen Branchen, die für das sich im Aufstieg befindliche Land komparativ vorteilhaft, aber für die hoch entwickelten Länder wirtschaftlich nur noch von eingeschränktem Interesse sind. Zum Beispiel haben Deutschland und Japan bis in die 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts die weltweit besten Motorräder hergestellt. Nachdem China 1978 sich für eine Öffnungspolitik entschieden hatte, mussten die chinesischen Motorradhersteller zunächst bessere Fertigungstechnik von ihren deutschen und japanischen Kollegen einkaufen, um den Anschluss zu finden. Anfangs wurden die chinesischen Produkte wegen ihrer niedrigen Qualität allenfalls belächelt. Als aber die einschlägigen deutschen und japanischen Betriebe sich mehr und mehr auf die lukrativere Autoindustrie konzentrierten, nutzte China seine Chance, verkürzte in nur wenigen Jahren den technologischen Abstand und stieg zum größten Motorhersteller der Welt auf.“

Man hört dies Beispiel mit gemischten Gefühlen, ein anderes ist auch ökologisch einwandfrei. Die Gebrüder Han aus Hangji in der Provinz Jiangsu „waren schon in der Daoguang-Ära (1820-1850) der Quing-Dynastie berühmt für ihre Kunst, feine Zahnbürsten herzustellen“, ihre Nachkommen in den 1990er Jahren hatten jedoch keinen wirtschaftlichen Erfolg, weil die nun hergestellten Zahnbürsten „zwei Nachteile [hatten]: Zum einen fielen die Borsten zu schnell aus und zum andern zogen sie das Zahnfleisch in Mitleidenschaft, da sie zu viele Ecken und Kanten hatten. Im Jahr 1993 besuchte einer der Brüder, Han Guoping, zufällig in Beijing eine Ausstellung und sah dort eine deutsche Zahnbürstenfertigungsanlage in Aktion. Mithilfe des deutschen Geräts, das war Han Guoping sofort klar, würde er genau diese zwei Qualitätsnachteile endlich abstellen können. Das einzige Problem war, dass die komplette Anlage 30 Millionen Renmimbi kostete und für die Gebrüder Han schlicht unerschwinglich war. Bei genauerem Hinsehen jedoch entdeckte Han Guoping, dass er nur die letzten zwei Anlagenkomponenten für die Borstenanbringung und -glättung wirklich benötigte. Alle anderen Arbeitsgänge konnten durch menschliche Arbeit ersetzt werden.“ (S. 109 f.) Dies ist zwar nur ein Beispiel aus dem chinesischen Binnenmarkt, wo die Han-Brüder schließlich einen Anteil von 70 Prozent am Markt für Zahnbürsten errangen, sprechend aber trotzdem.

Manche werden es lächerlich finden. Denn Stalin drang auch deshalb auf den vorrangigen Ausbau der Schwerindustrie, weil er voraussah, dass die Nazis die Sowjetunion angreifen würden. Dann musste für die Verteidigung militärisches Gerät vorhanden sein. Mit Zahnbürsten hätten sich die Nazis kaum aufhalten lassen. Das Beispiel ist aber trotzdem nicht lächerlich. Denn wenn die sowjetische herrschende Partei über den einzuschlagenden Weg, ob Trotzki oder Bucharin ihn weisen solle, Wahlen abgehalten hätte, wenn dann die Bevölkerung vermutlich eher Bucharin gefolgt wäre, wenn man, mit einem Wort, der Welt ökonomische Demokratie vorgeführt hätte, dann wäre im Westen gar keine so große Angst vor der „roten Gefahr“ entstanden, die sich doch aus tatsächlichem Terror, Massenmorden und der völligen Abwesenheit von Demokratie in der stalinistischen Sowjetunion speiste, und wären auch die Nazis nicht so sehr erstarkt. Wie man hier erkennt, waren ökonomische Wahlen sogar noch unter der politischen Form der Einparteidiktatur eine Option. Und eine Evolution des Realsozialismus war denkbar, in der aus der einen „Partei neuen Typs“, wie Lenin sie genannt hatte, mehrere geworden wären, die sich, alle sozialistisch, nach ihrem ökonomischen Programm unterschieden hätten. Das war es, was mit dem Prager Frühling hätte beginnen können. Den Hinweis auf Lin verdanke ich Thomas Nöbel.

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Warum können wir vom Parteitypus, der im Westen grassiert, nicht auch so eine Evolution erwarten? Es hängt mit der Logik des Parlamentarismus und der Gewaltenteilung zusammen. Dieser Logik zufolge handelt nur die Regierung, während das Parlament ihr qua Gesetzgebung den Handlungsrahmen absteckt und dann noch ein Verfassungsgericht prüft, ob sie diesen nicht überschreitet. Das Parlament stellt auch die Bürger in den Rahmen von Gesetzen, die es beschließt. In der „Verfassungswirklichkeit“ geht es noch etwas anders zu. Die meisten Gesetze entspringen nicht dem Parlament, sondern der Regierungsbürokratie. Und welche Rolle spielen die Parteien? Sie sind dazu da, sich ins Parlament wählen zu lassen. Dass sie aushandeln, welche Regierung gebildet wird, kann schon nicht mehr ernsthaft behauptet werden. Das tun vielmehr die Parteiführer, die sich, immer schon als Regierungsvertreter – egal ob sie Regierungsmacht tatsächlich erlangen oder es nur möchten -, auf „ihren“ Parteien eher niederlassen als dass sie deren Exponenten wären. Steinbrück ist nicht Exponent der SPD, Merkel nicht Exponentin der Union. Werfen wir auf die Parteien als solche unsern Blick, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass es nicht ihre Aufgabe ist, zu handeln. Ökonomische Wahlen, Proportionswahlen sollen aber Handlungen mit Handlungsfolgen sein. Die gewählte Proportion soll die sein, die dann auch verwirklicht wird. Es hat keinen Sinn, sie auf dem Umweg über Parteien wählen zu wollen, die allenfalls im Parlament Handlungsrahmen abstecken, eigentlich aber auch dieses Recht schon abgegeben haben. Parteien sind nützlich, aber eben nicht in jeder Hinsicht.

Es kommt noch hinzu, dass Parteiwahlen Stellvertreterwahlen sind, eben weil man sie abhält, um Parlamente zu bilden. Auch das ist in vielen Belangen nützlich, aber nicht in allen ökonomischen. Denn warum beauftragt man Stellvertreter? Weil sie manche Dinge, um die es einem selbst geht, besser beurteilen können als man selbst. So können in einem Rechtsstaat Juristen die Gesetzeslage überschauen und die Orte des möglichen Eingriffs erkennen. Wenn es aber um die Proportionen einer Volkswirtschaft geht, sind sie nicht besser, sondern eher schlechter informiert als die zu Vertretenden. Der Grund ist, dass ihnen ihr Stellvertreterstatus eine Sonderexistenz verschafft, der sie anders urteilen lässt als die Vertretenen. Das Beispiel, das ich dafür immer wieder zitiere, ist eine Ruhrgebietsstudie des Münchener Forschungsinstituts socialdata, von der die taz am 10.8.1993 berichtete und aus der sich ergab, dass eine große Mehrheit auch sogar der Autofahrer gern vom Auto auf Öffentlichen Nahverkehr umgestiegen wäre, es aber nicht konnte, weil solcher nicht in hinreichender Dichte und Qualität zur Verfügung stand. Weiter ergab sich, dass drei Viertel der Befragten im Verkehr das größte kommunale Problem sahen, wobei die Hälfte der Befragten sogar auch glaubte, mehr Straßenbau würde die Lage noch verschlechtern. Die politische Klasse indes – Politiker, Journalisten, Verkehrsplaner -, besser gestellt, wie sie war und immer noch ist, hatte weit weniger Probleme mit dem Auto als alle anderen und wusste das nicht einmal. 63 Prozent der Bürger hätten lieber das Auto gestärkt als den Öffentlichen Verkehr, um die Situation zu entspannen, glaubten die befragten Entscheidungsträger – in Wahrheit hätten es nur 8 Prozent getan.

Der politischen Klasse die Entscheidung zu überlassen, wie die Proportion motorisierter Privatverkehr zu Öffentlichem Verkehr aussehen soll, wäre sachlich nicht gerechtfertigt. Sie kann nicht beurteilen, was die Menschen ökonomisch wollen und brauchen. Einige aus ihren Reihen wollen es auch gar nicht beurteilen können. Aber selbst wenn andere es wollen, reicht der gute Wille allein nicht hin. Das Problem der SPD, wenn wir sie nett interpretieren, ist es, dass sie zu wissen glaubt, was Arbeiter wollen. In ihrem Weltbild wollen Arbeiter nur materielle Sicherheit und irgendeinen beliebigen Wohlstand, weiter aber nichts, und wenn es wahr wäre, könnte man die Definition dessen, was Wohlstand ist, woraus er sich zusammensetzt und wie er geschaffen wird, ja dem Kapital überlassen. Doch das stimmt alles nicht. Man kann die Bedürfnisse der Arbeiter nicht aus ihrer Funktion, dass sie eben arbeiten, ableiten, sondern muss sie  f r a g e n , welche Bedürfnisse sie haben, wie es socialdata vor zwanzig Jahren bereits getan hat. Wundern wir uns, dass eine bloße Umfrage folgenlos bleibt? Nein, es muss schon in der Form gefragt werden, dass eine Wahl stattfindet, deren Resultat bindend ist.

Dass sie bindet, versteht sich aber auch dann nicht von selbst, wenn sie in direkter Demokratie statt als Parteienwahl durchgeführt wird. Damit setze ich mich in der nächsten Notiz auseinander.