(114) Direkte Demokratie in Allem?

Zweite Abteilung / 1. Die Proportionswahl ist eine Wahl besonderer Art / Fünfter Teil – Proportionswahlen

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Heute, wo ich das erste der Kapitel abschließe, die von „Proportionswahlen“ handeln, will ich zunächst die bisherige und weitere Gliederung skizzieren. Gegenstand des Kapitels war und ist das Besondere, wodurch sich solche Wahlen von anderen unterscheiden. Zunächst wurden ein paar typische Streitfragen benannt, über die in Parlamentswahlen nicht abgestimmt wird, hier aber wohl, zum Beispiel „wie viel Privatautoverkehr im Verhältnis zu wie viel Öffentlichem Verkehr“. Es wurde gezeigt, dass Parlamentswahlen für ökonomische Wahlen kein Ersatz sind, ja dass es auch keine Lösung wäre, ihnen letztere aufzupfropfen, indem je eine Partei für je ein ökonomisches Programm stünde. Wir denken nämlich das ökonomische System vom gesellschaftlichen Bedarf her. An dem soll sich die Produktion orientieren, wie sie es angeblich heute schon tut, über ihn aber wissen nicht irgendwelche Volksvertreter im Parlament, sondern die Bedürftigen selber am besten Bescheid.

Es war dann zu erinnern, dass Bedarf so viel heißt wie kaufkräftiger Bedarf. Da die Proportionswahl den Charakter einer Bestellung bei den Produzenten hat, ist es möglicherweise sinnvoll, das Teilnahmerecht an ihr nach der Kaufkraft der Teilnehmenden zu staffeln („Zensuswahl“). Kriterium wären die tatsächlichen Endkonsumausgaben in der vorausgegangenen Periode. Die Unternehmen sollen wissen, was die wirkliche Nachfrage ist: Deshalb wird auch nicht  e i n  ökonomisches Programm mit Mehrheit gewählt, sondern alle Programme kommen nach dem Gewicht ihres Stimmanteils zur Geltung. Der Antrag, dass bestimmte Produkte ganz ausgeschlossen sein sollen, ist nur zulässig, wenn solche Produkte auch für Nichtkäufer „gefährlich sind“.

So weit waren wir gekommen. Ich beschließe das Kapitel heute mit der Erwägung, dass zwar Parlamentswahlen kein Ersatz für ökonomische Wahlen, diese aber auch kein Ersatz für jene sind. Das ist jedenfalls meine Auffassung, die ich zur Diskussion gestellt, ja zu Protokoll gegeben haben will. Man kann es auch so ausdrücken, dass ich nicht für eine  t o t a l e , sondern bloß für  m e h r  direkte Demokratie plädiere. Das Plädoyer läuft auf einen neu erschlossenen direktdemokratischen Bereich hinaus, der selbst wieder begrenzt ist. Die Grenzen sind aber doch so weit gezogen, dass  a l l e  ökonomischen Proportionen gewählt werden können. Was das bedeutet, wird Gegenstand des zweiten Kapitels sein. In ihm gehe ich noch einmal – wie schon oben im Kapitel über die Vergesellschafteten Unternehmen – von Ota Sik aus, dem Reformer im „Prager Frühling“ 1968. Mit der Frage, ob er gut beraten ist, nicht alle, sondern nur  e i n i g e  Proportionen zur Wahl zu stellen, steige ich dort ein.

Nach dem Kapitel über Sik und die Proportionen sind in einem weiteren Kapitel die beiden Folgen der Wahlentscheidung zu erörtern. Die erste Folge ist, dass bestimmte Produktionen ausgeweitet, die zweite, dass andere zurückgefahren werden. Wie schon angekündigt, will ich das auch anhand der gegenwärtigen „Energiewende“ durchdenken. Jede Proportionswahl kann ja eine Mehrzahl solcher „Wenden“ zur Folge haben. Da stellt sich die Frage, ob fällige Produktionsausweitungen nicht besser organisiert sein könnten, vor allem aber auch, wie man die neuen Grenzen derjenigen Produktion durchsetzt, die komplementär verringert wird. Dies Schicksal hätte ja in der „Energiewende“ die Kohle zu erleiden, wenn es mit rechten Dingen zuginge. Der Kontext eignet sich auch zur Diskussion des Prinzips „Cradle to Cradle“, dem ich kürzlich in einer Rezension applaudiert habe. In einer Ökonomie nämlich, die keinen Abfall hinterlässt, weil sie alles recycelt – so die Bedeutung des Prinzips -, wären die Grenzen der zu verringernden Produktion weniger eng gezogen. Jedenfalls wo es „nur“ um Grenzen der ökologischen Belastbarkeit geht, wäre das der Fall.

In einem letzten Kapitel befassen wir uns mit dem politischen Überbau der Proportionswahlen. Hier ist etwa zu fragen, wie man sich den ökonomischen Wahlkampf vorstellt. Wahlkämpfe werden von der Presse, dem Fernsehen, dem Internet mitbestimmt: Denen kann heute nicht generell bescheinigt werden, dass ihre Arbeit demokratieförderlich sei. Weiter, wie und von wem werden die ökonomischen Programme erstellt? Und wer koordiniert die Umsetzung des Wahlergebnisses? Solche Fragen verweisen auf Vertreter, die es eben nicht nur im Parlamentarismus gibt; in geringerer Zahl zwar, werden sie auch am Rand der direkten Demokratie als deren Grenzwächter gebraucht. Bei der Frage schließlich, wie dafür gesorgt wird, dass alles nach Recht und Gesetz geschieht, stehen nicht nur mögliche Regelverstöße von Unternehmern im Focus, sondern auch die genannten Grenzwächter müssen zur Rechenschaft gezogen werden können.

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Direkte Demokratie ist heute sehr populär, und das ist gerade für mein Projekt sehr wichtig, denn darauf stütze ich mich. Von den politischen Kräften, die mehr direkte Demokratie fordern, erhoffe ich mir, dass sie bald auch direkte  ö k o n o m i s c h e  Demokratie fordern. Im Fall von „Stuttgart 21“ ist das auch schon geschehen. Es war zwar nur ein Einzelfall, der von keinem Beteiligten auf alle Ökonomie verallgemeinert wurde, doch war er bereits so konkret, dass viele typische Schwierigkeiten hervortraten, die in einem verallgemeinerten Modell gelöst sein müssen. Man denke nur an die Diskrepanz zwischen der Informiertheit, die man erlangen konnte, wenn man der Fernsehübertragung der Schlichtungsverhandlungen beiwohnte, und dem, was eine teils inkompetente, teils einseitig interessierte Presse daraus machte. Oder man denke an die schillernde Figur des Schlichters, die jedenfalls belegt, dass auch die Stuttgarter Direktdemokraten mindestens diesen einen „Vertreter“ brauchten.

Wenn es aber nun dazu kommt, dass der Fall verallgemeinert wird, zeigt sich sogleich die Neigung, direkte Demokratie  a u f  a l l e s  übertragen zu wollen – nicht nur auf alle Ökonomie, sondern auf alle Politik. Dieser Tendenz stimme ich persönlich nicht zu. Ich will gar nicht behaupten, dass ich klüger sei als andere, die zustimmen. Und gerade politisch gesehen kann ich gar nichts dagegen haben, dass es neben mir diese anderen gibt, die der ökonomischen Demokratie ja ebenfalls zuarbeiten würden. Ich will aber meine Gründe nennen. Erstens halte ich es nicht für altmodisch, einzuräumen, dass Politik auch mit Fachwissen zu tun hat. Wenn es genügend Dinge gibt, von denen alle hinreichend viel wissen, um „Politiker sein“ zu können, so gibt es doch andere Dinge, bei denen das nicht der Fall ist. Das fängt damit an, dass in einer Millionengesellschaft allgemeine Regelungen der Gesetzesform bedürfen und es dafür Juristen braucht. Das hört damit, dass Ministerien nicht zufällig viele Mitarbeiter haben, nicht auf. Selbst wo es um Themen geht, in die sich jedermann schnell einarbeiten könnte, haben doch die wenigsten Leute Zeit, das auch tatsächlich zu tun.

Gerade die Bürgerinitiativen, diese typische Erscheinung direkter Demokratie, beweisen es ex negativo. Denn sie nehmen sich Zeit, können es aber nicht ununterbrochen tun. Es ist deshalb eine ebenso typische Bürokratenstrategie, Dinge auf die lange Bank zu schieben, um den Protestlern die Geduld abzugraben. Man hat in neuerer Zeit betont, dass Bürgerinitiativen Experten hervorbringen, die es mit ihren bürokratischen Gegenspielern durchaus aufnehmen können. Sie sind aber auf einzelne Themen focussiert. Täten sich alle Experten zusammen, hätten sie doch wieder ein Gesamtbüro gegründet und würde ihre dortige Arbeit keine Nebenarbeit mehr dulden. Man kommt ums Büro nicht herum – es würde ja reichen, dass es nicht herrschte (kratein). Unter dieser Voraussetzung, meine ich, ist es gerade ein demokratisches Recht, dass der Demos nicht alles selbst entscheiden muss, womit er unendlich viel Zeit verlöre, sondern dass er zuallererst entscheidet, was er selbst unmittelbar entscheiden will, weil er glaubt, es zu können, und was er der Entscheidung der Büros überlässt, in denen die von ihm gewählten Abgeordneten sitzen. Darum,  d i e s e s  Recht zu  e r r i n g e n , denn wir haben es nicht – das Recht, zu entscheiden, was in direkter Demokratie entschieden wird und was nicht -, geht es in meinen Augen.

Ein etwas anderes Argument ist das historische. Totale direkte Demokratie hat es schon einmal gegeben, im antiken Griechenland nämlich, ausgehend von Athen, und hat erhebliche Schattenseiten gezeigt. Wenn man also häufig hört, diese Demokratie lasse sich auf eine Millionengesellschaft nicht übertragen, weil sie nur im kleinen Rahmen der Polis, wo alle mitberaten konnten, möglich gewesen sei, so ist das nicht der entscheidende Punkt, und es stimmt auch gar nicht. Es stimmt für damals nicht, weil die Beteiligung aller – aller Freien, meine ich – sogar schon in Athen wegen der Größe des Gebiets und anderer Umstände unmöglich war, und es stimmt für heute nicht, weil nun gerade in einer Millionengesellschaft, die übers Internet verfügt, sich alle beteiligen  k ö n n t e n . Wenn sie es aber täten, würde so ein Staats- oder meinetwegen Gesellschaftsschiff herauskommen wie das altathenische. Man lese doch einmal nach, mit welcher grausigen Konsequenz Athen in den peloponnesischen Krieg aufbrach und was in diesem so alles geschah.

Nein, es hatte schon gute Gründe, dass in späteren Anläufen zur Demokratie eben die Gegenwucht, die in Athen abgeschafft worden war, sie hieß dort Areopag, der Direktherrschaft des Demos wieder beigegeben wurde. (Den Areopag schafften die Athener insofern ab, als sie ihm die politische Macht nahmen, um ihn zu jenem bloßen Gericht zu machen, das Aischylos in der Orestie feiert.) Der römische Senat hatte wieder Macht, mehr Macht sogar, und solange er sie hatte, gab es daneben auch Demokratie. In den USA wurde dann die moderne Demokratie erfunden, in der alle politischen Funktionäre – nicht nur Abgeordnete, sondern auch Amtsträger bis hin zur Polizei – gewählt und abgewählt werden konnten, dies aber in einem Funktionssystem, das dem Demos mit Bedacht eine gewisse Lähmung („checks and balances“) auferlegte.

Wenn wir an Athen zurückdenken, sehen wir übrigens auch, dass zur wirklich totalen direkten Demokratie nicht nur gehört, dass alles von allen unmittelbar entschieden wird, sondern auch, dass alle jederzeit alle Entscheidungen umwerfen und durch andere ersetzen können. Insofern ist also nicht einmal die ökonomische Proportionswahl, wie sie hier entworfen wird, direkte Demokratie total und kann es auch gar nicht sein, weil sie Ausdruck der völlig grenzenlosen Möglichkeit, „zu tun, was man will“, eben gerade  n i c h t  ist. Denn eine Ökonomie ganz ohne Zwänge ist unmöglich. Möglich ist nur, die Zwänge auf Sachzwänge zu reduzieren und die Tricks zu durchkreuzen, in denen sich Machthaber hinter Sachzwängen verstecken, die gar keine sind.

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Totale Direktdemokratie wird getragen von einem Demos, der nicht willens ist, sich selbst zu begrenzen und das heißt: zu beherrschen. Eine Demo“kratie“ aber, die sich nicht selbst beherrscht, beherrscht dann andere, und so taten es die Athener, die kaum ihren großen Freiheitssieg über die Perser errungen hatten, als sie schon anfingen, ihrerseits die „Verbündeten“ zu tyrannisieren und sich bei ihnen verhasst zu machen. Eben diese Zweideutigkeit ist ja dem Freiheitsbegriff bis heute geblieben, dass man sich immer fragt, ob diejenigen, die auf  i h r e  Freiheit stolz sind, überhaupt  w o l l e n , dass auch alle anderen frei sind. Wo sie doch nicht nur tun, sondern auch wollen können, was sie wollen.

Das ist jetzt nicht unser Thema. Hinzufügen möchte ich aber noch, dass es nicht ausreicht, bloß dem Geld die Schuld an den angedeuteten Schattenseiten zu geben. Gern geschieht dies zwar. Man weist darauf hin, dass dem Aufschwung Athens die Einführung des Münzgelds relativ kurz vorausging. Ich glaube sogar, dass da wirklich ein Zusammenhang besteht. Nicht in der platten Form zwar unbedingt, dass die Händler über die aggressive athenische Politik geherrscht hätten – das wäre bloß eine „ökonomistische“ Erklärung -, so aber jedenfalls, und darauf bin ich in dieser Blogreihe schon einmal zu sprechen gekommen, dass der Gebrauch von Geld an den Umgang mit Möglichkeiten gewöhnt hat, von denen eine so gut wie die andere realisiert werden kann. Wie der mit dieser neuen Erfahrung beglückte Mensch mit mehr Möglichkeiten rechnet, als er hat, und sich zunächst für geradezu allmächtig hält, kann man sich leicht vorstellen. Aber wenn es so gewesen sein sollte, läge gerade darin ein Argument  g e g e n  die Annahme, das Geld sei an allem schuld. Nicht das Geld war schuld,  s o n d e r n  das Möglichkeitsbewusstsein. Denn wir haben nicht deshalb Möglichkeiten, weil wir Geld haben, sondern allenfalls kann uns, dass wir jene haben, durch dieses bewusst geworden sein. Geld und Möglichkeitsbewusstsein ist bloß ein „historischer“, kein „logischer“ Zusammenhang.

Solange das Mögliche nicht als solches gedacht wird, handelt man nur danach und handelt bedenkenlos, und tatsächlich kann man sehen, wie das Möglichkeitsbewusstsein der zeitgenössischen Athener, Platon und Aristoteles eingeschlossen, noch ziemlich in den Kinderschuhen steckte. Ich meine sogar, es steckt noch heute in den Kinderschuhen. Und schon deshalb wäre die totale direkte Demokratie eine heikle Sache. Wo man sie hätte, würde man vielleicht „Ausländer raus“ beschließen und einen Krieg nur deshalb nicht, weil man zufällig zu schwach für ihn wäre.

Da wir uns nun am Fuß der Schweizer Alpen wiederfinden, sei zuletzt noch eine Bemerkung Ota Siks beigefügt: In der Schweiz, schreibt er, wird über einzelne wirtschaftspolitische Maßnahmen abgestimmt, die Bevölkerung kann aber nicht die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge übersehen – niemand kann die „Folgen […] berechnen und durchdenken“. „Wird etwa über eine Änderung im sozialen Versicherungswesen abgestimmt, wird diese als nur vereinzelter Schritt, ohne ihren Zusammenhang mit den Staatsausgaben für andere Sphären, mit den Investitionen und dem Wirtschaftswachstum, mit den Einkommensdifferenzen und der Konsumtionsentwicklung, mit der Beschäftigungssituation und den Arbeitsperspektiven u.ä. gesehen.“ (Humane Wirtschaftsdemokratie. Ein Dritter Weg, Hamburg 1979, S. 467) Gerade Sik also, der für ökonomische Wahlen und insofern für direkte Demokratie plädiert, will sie doch auch mit Sachwissen, in diesem Fall über Zusammenhänge, verbunden sehen. Versteht es sich denn etwa von selbst, dass wir bereit sind, uns als ökonomische Wähler ein wenig sachkundig zu machen? Wenn wir  h i e r  w e n i g s t e n s  die Bereitschaft erlangten, auf diesem Feld, das mit Marx zu sprechen „die Basis“ der ganzen Gesellschaft umgreift, wäre schon fast mehr gewonnen, als zu hoffen ist.