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In der vorigen Notiz wurde dargelegt, dass die L e g i s l a t i v e , wie wir sie heute kennen, in der Anderen Gesellschaft beibehalten aber auch erweitert wird.
Sie wird beibehalten, denn es gibt weiter Parlamente, deren Arbeitsweise sich nur ändert, wenn sie selbst das wollen. Nach meiner Hypothese freilich, die jetzt nicht unser Thema ist, müssten sie ohne Außeneinwirkung spontan aufhören, sich als zwei Parteiblöcke zu organisieren, weil dies die Art und Weise ist, in der das Kapital (auch) parlamentarisch herrscht, und es Kapital in der Anderen Gesellschaft nicht mehr gibt. Die Alternative wären wechselnde Mehrheiten. (Vgl. dazu mein Buch Gender und Parteiensystem. Links – Rechts, das Problem der falschen Fronten, Frankfurt/M. 2015) Aber ob und wann die Parlamentarier zu wechselnden Mehrheiten übergehen, bleibt ihrem freien Willen überlassen.
Die Legislative wird zugleich erweitert, weil es, rein formal gesprochen, einen Gesetzestypus gibt, der sich in Parlamenten nicht beschließen lässt, daher eine eigene legislative Institutionalisierung erforderlich macht. Dabei handelt es sich um solche Gesetze, die streng nach dem kategorischen Imperativ gebildet sind: Jede Bürgerin und jeder Bürger gibt ihre / seine je ganz eigene Maxime zu Protokoll – das heißt auf den (elektronischen) Wahlzettel -, und die Maxime kommt dadurch zur Geltung, dass sie sich eignet, allgemeines Gesetz zu werden. Letzteres geschieht nicht zufällig, sondern weil er / sie es so wollen: Sie nehmen hin, dass ihre kumulierte Wahl auf Stimmigkeit geprüft wird und mit der orientierenden Vorlage alternativer Stimmigkeitsrahmen, auf die ihre Maximen bezugnehmen können, schon begonnen hat. Wir finden jedenfalls e i n Gesetz, das diese formale Bedingung erfüllt: den aus einer Proportionswahl hervorgegangenen ökonomischen Proportionsplan für die sich anschließende Wahl- oder, wie man sagen könnte, ökonomische Legislaturperiode. Der Plan summiert sich aus den Einzelplänen der Wählerinnen und Wähler, wobei diese gewusst und gewollt haben, dass in summa ein ökonomisch Mögliches herauskommen muss. Dass ein Gesetz mit solcher Eigenart und Entstehung nicht von Parlamenten beschlossen werden kann, aus dem einfachen Grund, dass dort nur Wenige beschließen, die Allermeisten aber nicht, und dass zudem die Wenigen nach vorgestellten Durchschnitts-Maximen beschließen, die nicht ihre eigenen sind oder sein müssen, versteht sich von selbst.
Eine Passage der vorigen Notiz bezog sich bereits unausgesprochen auf die Frage der erweiterten E x e k u t i v e , zu der wir jetzt übergehen. Unternehmer wie Arbeiter, sagte ich, werden durch die Wahl zu Bevollmächtigten der Umsetzung des ökonomischen Proportionsplans erklärt. Das heißt, wir betrachten sie nicht bloß als homines oeconomici, die politisch nur an dem einen Punkt tangiert sind, dass ihrer ökonomischen Tätigkeit die Grenzen des gewählten Proportionsplans gesetzt sind, sondern betrachten diese ökonomische Tätigkeit selbst schon und im Ganzen als politische. Sie wird nämlich immer fürs Gemeinwesen geleistet, nie nur für private Interessen des Unternehmers oder Arbeiters. So gesehen stimmt es dann gar nicht, dass der Proportionsplan den Produzenten bloß Grenzen setzt, vielmehr sind sie aufgefordert und ermächtigt, im Rahmen einer Vollmacht Vieles positiv zu leisten. Die Ausgestaltung steht ihnen frei und da können sie ihre ganze Kunst zeigen, wie man es etwa auch von einem guten Rechtsanwalt erwartet. Auch so kann Ökonomie politisiert werden: ganz ohne Staatsverbote oder –diktate.
Wir sehen den Unterschied zur aus dem Parlament hervorgehenden Exekutive: Die wird durch allgemeine Wahlen nicht direkt bevollmächtigt, außer etwa bei der Direktwahl eines Staatspräsidenten, sondern eben auf dem Umweg der Bevollmächtigung von Parlamentariern, die ihrerseits einer Regierung durch Wahl die Vollmacht erteilen. Bei der Proportionswahl hingegen wird allen, die produzieren, direkt durch die allgemeine Wahl der Konsumenten – das sind sie selbst, die Produzenten, in ihrer Eigenschaft, auch Konsumenten zu sein – eine Vollmacht zum Exekutieren erteilt.
Das Thema „ökonomische Exekutive in der Anderen Gesellschaft“ ist damit beileibe nicht erschöpft, denn eine gewisse Beaufsichtigung der Produzenten und ständige Orientierung der Konsumenten muss hinzukommen. Wir werden sie nicht den Organen des Parlamentarismus überlassen. Bevor wir darauf jedoch zu sprechen kommen, haben wir noch bei den Produzenten zu bleiben und sicherzustellen, dass sie, die immerhin den größten Teil der ökonomischen Exekutive bilden, diese Exekutive überhaupt s e i n k ö n n e n . Was kann sie denn hindern? In der Anderen Gesellschaft nichts mehr, heute aber, dass es Reichtum und Reiche gibt.
Um das zu exponieren: Reichtum entsteht aus der Produktion, tritt aber aus ihr in gewisser Weise heraus, was zur Folge hat, dass Produzenten – Arbeiter sowieso, aber auch Unternehmer – und Reiche zu zwei verschiedenen Menschenkategorien werden. Da Unternehmer heute Kapitalisten sind, kann schärfer gesagt werden, K a p i t a l i s t e n u n d R e i c h e hören auf – haben längst aufgehört –, dasselbe zu sein.
Man muss sehen, dass beide nicht nur ökonomisch handeln, sondern auch politisch. Das politische Handeln der fungierenden Kapitalisten besteht darin, dass sie mit Unternehmerverbänden in die Willensbildung eingreifen, Lobbyisten aussenden und Politiker direkt oder indirekt bestechen (eine üblich gewordene Form der indirekten Bestechung liegt darin, dass gefügige Politiker von einiger Bedeutung sich darauf verlassen können, nach dem Ablauf ihrer politischen Tätigkeit mit einem lukrativen unternehmerischen Job belohnt zu werden). Durch solche Dinge werden Kapitalisten oder ihre Vertreter und Verbände allerdings noch nicht zum Bestandteil der Exekutive, im Allgemeinen jedenfalls nicht. (Eine Ausnahme war die von der Regierung Gerhard Schröder eingeführte Praxis, Entsandte der Unternehmen direkt im Ministerium anzustellen und an der Erstellung ökonomischer Gesetzesvorlagen zu beteiligen; sie wurde später überwiegend zurückgenommen). Mit den sehr Reichen verhält es sich etwas anders. Sie stellen allein durch ihren Reichtum eine politische Macht dar, die groß genug ist, in Konkurrenz zu allen demokratischen Gewalten zu treten. Zur exekutiven Staatsgewalt und auch zur Exekutive der bevollmächtigten Produzenten.
Im Rahmen meiner Blogreihe ist das ein neues Thema, und mehr noch, ich habe es früher bestritten. Deshalb werde ich jetzt zunächst den Text aufrufen, in dem sich mein früherer Irrtum dokumentiert, und dort Stelle für Stelle die fehlgehenden Argumente bloßlegen. Anschließend, das heißt in der folgenden 133. Notiz, lege ich positiv dar, wie sich die Exekutionsgewalt der Reichen äußert. Ich tue es in Auseinandersetzung mit dem Buch, das mir die Augen geöffnet hat: Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.
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Sahra Wagenknechts Buch Freiheit statt Kapitalismus, Frankfurt/M. 2011, hatte ich gleich nach seinem Erscheinen besprochen, in der 66. Notiz. Ich war zum einen erfreut, dass sie sich denen anschloss, die nicht mehr glaubten, eine Marktwirtschaft sei notwendigerweise kapitalistisch; zum andern kritisierte ich die starke Schlagseite zur Verstaatlichung, mit der sich ihre Position auch in der damals laufenden Programmdebatte der Linkspartei wiederfand. Auch die Reichen spielen eine starke Rolle in ihrem Buch, und da das Thema im Begründungszusammenhang der Staatsfrage stand, fand es meine polemische Aufmerksamkeit. Wagenknechts Position gab ich so wieder (dieses und die folgenden Zitate aus der 66. Notiz sind hier kursiv gesetzt):
Heute sind Großunternehmen Eigentum der Kapitalistenklasse; die neue Gesellschaft beauftragt den Staat, an ihre Stelle zu treten. Kern der Kapitalistenklasse sind die „großen Familien“, die teils als Großaktionäre, teils als Eigner von Familienunternehmen auftreten. Da es darum geht, sie zu besiegen, braucht es einen anderen starken Akteur, der das tun kann; eben den Staat. Das Eigentum der großen Familien ist Kapital, ja fast „das“ Kapital, weil die Macht der Familien so groß ist. Werden sie enteignet, ist das Kapital besiegt.
Das „Eigentum der großen Familien“ ist der Reichtum, die Eigentümer sind die Reichen. Als einer von zwei starken Akteuren werden sie hier mit dem anderen, dem Staat nämlich, auf eine Stufe gestellt, womit Wagenknecht implizit sagt, dass sie dessen exekutive Macht bedrohen oder teilweise schon übernommen haben. Klar, wenn sie so stark sind, wer soll ihnen dann entgegentreten, wenn nicht eben der Staat? Ich meinte aber, ihre Diagnose sei falsch, und referierte dagegen die Sicht von Marx, wie ich sie verstand:
Obwohl Eigentum der Kapitalistenklasse, ist das Kapital für sich genommen nicht Eigentum – eine juridische Kategorie -, sondern eine Produktionsweise. Es ist die (anonyme) Strategie, ins Unendliche zu produzieren und jedenfalls den unendlichen Mehrwert zu erlangen. Gewiss stützt sich die Strategie darauf, dass die Produktionsmittel Privateigentum sind, das heißt mal den einen, mal den anderen Privateigentümern gehören. Um sie außer Kraft zu setzen, genügt es dann aber nicht, den Eigentümer auszuwechseln. Denn wenn der Staat das Eigentum übernimmt, kann er seinerseits als Stützpunkt für dieselbe Strategie unendlichen Produzierens funktionieren.
Das ist sicher alles richtig, heute würde ich aber sagen, es geht an der Sache vorbei. Zwischen Kapital und Eigentum zu unterscheiden, reicht schon einmal nicht, man darf auch Eigentum und Reichtum nicht verwechseln und muss auch Kapital und Reichtum auseinanderhalten. Die Frage ist, wie sich Reichtum im Kontext einer marxistischen Kapitalanalyse überhaupt denken lässt. Es fällt offenbar schwer, wie sich hier schon daran zeigt, dass ich vom „Eigentum der großen Familien“ gleich zum geläufigen Begriff des Privateigentums an Produktionsmitteln springe. Was ist mit reichen Familien, die dem ökonomischen Kreislauf nur noch durch Anlagestrategien und –berater verbunden sind? Mit Produktionsmitteln haben sie nicht mehr viel zu tun. Interessieren sie mich deshalb nicht weiter? Es sieht ganz so aus:
Wir haben bei Marx gelesen, der „fungierende Kapitalist“ sei der Manager, der nur beim Kleinunternehmen mit dem Eigentümer zusammenfalle. In der Aktiengesellschaft unterscheide er sich vom Eigentümer und der werde zum toten Gewicht. Tatsächlich ist es der Manager, der ins Unendliche Mehrwert gewinnt – nicht für sich selbst, aber auch nicht für die Eigentümer, sondern fürs sich mehrende Kapital -; über die Eigentümer (Aktionäre) ist nichts weiter zu sagen, als dass Dividenden für sie abfallen, wie für den Manager Boni. Heute mag es zwar scheinen, als seien es die Eigentümer, die, um schnelles Geld bemüht, den Manager zur kurz- statt langfristigen Investition antreiben. Sie sind aber selbst nur ein Durchgangselement in einem Kreislauf. Aktionäre haben ja früher die langfristige Investition nicht verneint, warum tun sie es heute? Weil eine Wirtschaftsdoktrin herrscht, die es sie lehrt und die ihrerseits auf objektive Verwertungsschwierigkeiten, auf einen objektiven Stand der Kapitalevolution reagiert.
… ist nichts weiter zu sagen! Nein, im Gegenteil, hier ist Auflösung gefordert, denn hier sprechen sich Konfusionen aus. Wie gesagt, heute verkehren die ganz Reichen nur noch über Anlageberater mit der ökonomischen Welt. Diese ihrerseits verkehren mit Finanzinstitutionen, die wiederum mit Managern verkehren. Wir werden das noch konkret erörtern. Das Stadium, in dem reiche Eigentümer sich aus dem Geschäft zurückziehen und es in Managerhände legen, ist jedenfalls ein frühes und liegt lange zurück. Wenn da schon der Eigentümer „totes Gewicht“ geworden sein soll, wieviel mehr wäre er es heute. Aber was soll das heißen, „totes Gewicht“? Zunächst dass nicht er die Kapitallogik am Laufen hält – die unendliche Mehrwertgewinnung betreibt -, sondern der Manager es tut. So viel ist ja richtig! Dann dass er, der Eigentümer, infolgedessen aus dem ökonomischen Kreislauf zwar nicht ganz herausfällt, aber in ihm überflüssig geworden ist. Seine Rolle, Geld vorzuschießen, mit dem die Produktion eröffnet oder aufrechterhalten wird, könnte von vergesellschafteten Banken übernommen werden. Auch das stimmt. Und weiter? „Überflüssig“ mögen sie sein, aber was treiben sie denn, da es sie nun einmal gibt?
Am Ende erwecke ich den Eindruck, sie verhielten sich völlig passiv, gäben ihr Geld je nach Wirtschaftsdoktrin her und kümmerten sich sonst um nichts. Wer die ökonomische Entwicklung begreifen und verfolgen wolle, müsse vielmehr die Manager beobachten. Bei denen liege die Macht. Wenn das alles wäre und „nichts weiter zu sagen ist“, könnte man die Reichen so, wie sie sind, in die Andere Gesellschaft übernehmen. Wie sie heute der neoliberalen Doktrin folgen, würden sie dort dem jeweiligen Proportionswahlergebnis folgen.
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Seit das Buch von Piketty erschienen ist, kann man davon, was die Reichen treiben, Einiges wissen. Aber schon ohne das hätte klar sein können, dass man fragen muss, ob sie, abgesehen von ihrer angeblich geringen ökonomischen Bedeutung, vielleicht auch eine politische haben. Diese Frage kommt nicht auf, weil ich den Reichen nicht so wichtig fand wie den Manager als fungierenden Kapitalisten. Ich stellte mir vor, der Manager arbeite letzten Endes gar nicht für reiche Eigentümer, sondern für das Kapital als „Abstraktion in actu“, wie es bei Marx heißt: den „sich selbst verwertenden Wert“, ein Abstraktum, dem sich der Kapitalist als „Charaktermaske“ nur überstülpt. Als dieser Kapitalist erscheint der Manager, der die Selbstwertung organisiert, viel eher als der reiche Eigentümer, der nur die aus dem ökonomischen Kreislauf herausfallenden Früchte erntet. Das Argument findet sich in der zuletzt zitierten Passage und führt auch dazu, dass ich zudem dachte, der Selbstverwertungs-Kreislauf lasse sich von Eigentümern immer nur vorübergehend reiten, um sie früher oder später abzuwerfen. Kapital sei zwar immer Eigentum und habe also stets Eigentümer, das seien aber immer andere. Auch das ist richtig, nur leider auf einem viel zu hohen Abstraktionsniveau.
Es kann einem dazu die Vorstellung mancher deutscher Kommunisten vor 1933 einfallen, Hitler sei ein Übergangsphänomen und werde sich bald totgelaufen haben. Tatsächlich hielt er sich nur zwölf Jahre… Die Kontinuität ein und desselben Reichtumssubjekts kann immerhin wesentlich länger dauern, weil, wie Wagenknecht in Erinnerung ruft, Reichtum vererbt wird und in der Familie bleibt. Richtig rückt sie deshalb die „großen Familien“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wie aus demselben Grund Piketty vom „Patrimonialkapitalismus“ spricht. Ich aber schrieb damals:
Es sind nicht die Aktionäre, die der Gesellschaft ihre Interessen aufzwingen, auch nicht die Großaktionäre, die „große Familien“ repräsentieren mögen. Wagenknecht hebt selbst hervor, dass es diesen Familien „nur noch darum [geht], Geld zu machen‘, in ihren Unternehmen und auch sonst; dass sie ‚sich am Kapitalmarkt [orientieren]“ (S. 308 f.). Sie unterscheiden sich also nicht von anderen Aktionären; sie wollen nichts Bestimmtes, sondern nur das Allgemeine der Kapitallogik – den unendlichen Gewinn -, das es vor ihnen gab und ohne sie gäbe.
Ökonomisch gesehen geht es ihnen nur um Geld, immer mehr Geld, das stimmt. Aber damit ist nicht beantwortet, worum es ihnen politisch geht.
Dass der Staat von den mächtigsten Privateigentümern beherrscht werde, scheint ihr evident. Die mächtigsten Privateigentümer sind die großen Familien, die ihr Riesenvermögen von einer Generation auf die nächste übertragen. „Politische Macht“, schreibt sie, „ist heute nicht mehr unmittelbar erblich, wirtschaftliche Macht dagegen ist es, und mit ihr vererbt sich auch die Macht, der ganzen Gesellschaft die eigenen Interessen aufzuzwingen.“ (Fettdruck S. 312) Aber selbst angenommen, das wäre richtig: Wenn die Macht der Familien an die Gesellschaft und ihren Staat zurückfiele, wäre dann auch die Macht des Kapitals gebrochen?
Für Wagenknecht ist das Riesenvermögen eine gesteigerte „wirtschaftliche Macht“, damit aber a u c h eine p o l i t i s c h e Macht, weil mit ihr der ganzen Gesellschaft etwas aufgezwungen werden kann. Dieser Ansatz erscheint mir heute vollkommen richtig. Damals dachte ich aber, sie habe allerlei Machtfacetten aufgeführt und übergewichtet – mächtige Familien, mächtiges Eigentum, Macht großer Vermögen, Macht des Staates -, die sich unterscheiden von der eigentlichen Macht, der des Kapitals. Und worin bestand dieses Eigentliche? Jedenfalls eher im Ökonomischen als im Politischen, dachte ich offenbar. Dabei war ich immer ein Gegner des von Antonio Gramsci so genannten Ökonomismus gewesen.
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Wir nähern uns einer zweiten Konfusion:
Wenn „die Macht, der ganzen Gesellschaft die eigenen Interessen aufzuzwingen“, diesen Familien nur deshalb zugeschrieben werden kann, weil sie, aufgrund ihres großen Vermögens, d a s K a p i t a l repräsentieren, dann ist eine solche Zuschreibung so banal wie letztlich verkehrt. Banal, weil wir nichts Neues lernen, wenn wir hören, die Gesellschaft werde vom Kapital beherrscht. Verkehrt, weil das Kapital genauso gut vom Staat wie von diesen Familien repräsentiert wird, so dass die Annahme, der Staat hänge von den Familien ab statt umgekehrt, ganz willkürlich ist.
Zunächst wiederholt sich die erste Konfusion in anderen Worten: Macht hat das große Vermögen nur, weil es das Kapital repräsentiert. Im Kontext der Kapitallogik erscheint es aber als „totes Gewicht“. Ja gut – aber wie nun, wenn die Macht sich gerade aus diesem Gewicht ergibt, sei es tot oder untot? Wenn es ökonomisch tot sein sollte, kann es immer noch politisch sehr lebendig sein.
Diesem Gedanken stemmt sich die zweite Konfusion entgegen: Das Kapital werde nicht nur von den Familien, sondern auch vom Staat repräsentiert und der sei mächtiger. Ich referiere zur Begründung skizzenhaft die Theorie von Nicos Poulantzas: Der Staat, selbst eine Dimension des Kapitals, organisiere die Kapitalfraktionen und eine sie. Die Einung ist der von Poulantzas so genannte „Machtblock“. Nur durch ihn werde der ökonomische Kreislauf aufrechterhalten, Grundbedingung auch der politischen Herrschaft des Kapitals. Die vermögenden Familien könnten das nicht. Das stimmt wieder alles, betrifft aber wieder nur die ökonomische Seite der Sache! Kapitalfraktionen lassen sich nur ökonomisch definieren. Die Reichen bilden keine Kapitalfraktion. Und selbst wenn sie eine bildeten, würden sie nicht als diese Kapitalfraktion, sondern nur in der Maske der demokratischen Gewalten oder auch durch Faschismus / Militärdiktatur politisch herrschen. Wie man es dreht und wendet, sie fallen durchs begriffliche Netz.
Die Behauptung, die „großen Familien“ beherrschten den Staat und darüber vermittelt die Gesellschaft, ist also verkehrt. Nein, der Staat ist ohne sie kapitalistisch und beherrscht umgekehrt sie. Das Funktionieren des kapitalistischen Kreislaufs hängt tausendmal mehr vom Staat ab als von diesen Familien.
Es stimmt eben beides. Der Staat herrscht insofern, als das Funktionieren des Kreislaufs von ihm abhängt. Trotzdem können in anderer Hinsicht die Familien über den Staat herrschen.
Die Empfehlung, Familienunternehmen zu verstaatlichen, führt daher nur tiefer ins Problem hinein statt aus ihm heraus. Wenn ich das sage, verkenne ich nicht, dass man diesen Familien das Handwerk legen sollte. Mit den großen Kapitalsummen, über die sie verfügen, sind sie natürlich ein Akteur der Finanzmärkte und mitverantwortlich für deren Krisen und Verwerfungen, etwa die Spekulation auf Grund und Boden, durch welche die Nahrungsmittel verteuert werden. Aber das ist ein anderes Thema, denn an solchen Praktiken würde das Verstaatlichen von Familienunternehmen und -aktien nichts ändern.
Ob es richtig oder falsch ist, Familienunternehmen zu verstaatlichen, braucht hier gar nicht zu interessieren, generell jedenfalls nicht, denn nicht hinter jedem steckt eine sehr reiche Familie, und umgekehrt müssen Reiche nicht mit bestimmten Unternehmen verbunden sein.
Ich reduziere dann wieder aufs Ökonomische. Den sehr reichen Familien „das Handwerk legen“ ist gewiss auch deshalb nötig, weil sie „ein Akteur des Finanzmarkts sind“. Darüber hinaus aber auch deshalb, weil man gegen ihre politische Macht vorgehen muss.
Ökonomismus ist der rote Faden, wenn ich hier meine eigene frühere Position kritisiere. Marx nicht ökonomistisch zu lesen, war mir, wie gesagt, seit langem ein Grundanlegen. Ich verstand es aber immer nur so, dass die Tätigkeit und Funktionsweise p o l i t i s c h e r I n s t a n z e n (und kultureller) auf ökonomische Motive und Interessen nicht reduziert werden dürfe. Dass die Tätigkeit und Funktionsweise einer Figur, die selbst von vornherein nur „tote Ökonomie“, ökonomisch „totes Gewicht“ ist oder zu sein scheint, des Reichen nämlich, ebenfalls ökonomistisch verfehlt werden kann, kam mir nicht in den Sinn. Es ist ja auch paradox genug.