(134) Struktur und Geschichte des Reichtums

Zweite Abteilung / 4. Die Gewaltenteilung in der Anderen Gesellschaft / Fünfter Teil – Proportionswahlen

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Ich fahre fort in der Erörterung des Reichtums und der Reichen. Was sind Reiche? Ist die Macht des Superreichtums hinnehmbar? Wie kann er entmachtet werden? Die erste Frage ist mein heutiges Thema. Zu bestimmen, „was Reiche sind“, mag müßig erscheinen – Antwort: Menschen mit viel Vermögen -, es muss uns aber gelingen, ihre soziale, politische und kulturelle Seite von der ökonomischen zu unterscheiden und das Zusammenspiel der Seiten zu begreifen. Eine rein ökonomische Definition des Reichtums, die auf die Aussage hinausliefe, in unserer Gesellschaft sei Reichtum angehäufter Mehrwert infolge kapitalistischer Ausbeutung, wäre unzureichend. Wir würden nämlich, reduzierten wir das Phänomen auf diese zweifellos grundlegende Bestimmtheit, zu einer falschen Gedankenkette verleitet: Reiche sind Kapitalisten; Kapitalisten sind Charaktermasken der Kapitallogik; die Kapitallogik als Selbstverwertung des Wert bringt ihre menschlichen  M a s k e n  dazu, den Mehrwert ins Unendliche zu steigern; umgekehrt bedeutet das, ihnen als  m e n s c h l i c h e n  Masken ist es verwehrt, den Mehrwert nach Menschenmanier in Genussmittel umzusetzen; a l s o steigern Reiche den Mehrwert ins Unendliche,  s t a t t  zu genießen. Diese Gedankenkette, abgesehen von ihrem ersten und letzten Glied, finden wir bei Marx, und rein ökonomisch gesehen ist sie richtig. „Rein ökonomisch“ heißt, dass Marx eben nicht Reiche,  s o n d e r n  Kapitalisten als Charaktermasken der Kapitallogik benennt.

Wenn wir mit Thomas Piketty die Superreichen studieren, erfahren wir einerseits, dass wirklich vor allem in ihrer „Maske“ die Kapitallogik wuchert. Denn wie er zeigt, steigt der Reichtum desto schneller, je größer er ist, und wird das durch kapitalistische Methoden bewirkt. Als Mehrwert betrachtet, steigt er ja durch dessen Reinvestition, die mehr oder weniger erfolgreich sein kann. Da haben nun die Allerreichsten den größten Erfolg und zwar deshalb, weil sie sich die teuersten Anlageberater kaufen. Diese spüren auf dem ganzen Globus die lukrativsten Investitionsmöglichkeiten auf, wobei es an Geld für komplexe Forschungswege und differenzierteste Expertisen nicht mangelt. Wenn das also der Grund ist, weshalb der größte Reichtum überproportional steigt, kommt er der Definition der Kapitallogik, sie sei die anonyme Strategie, sich dem „unendlichen Mehrwert“ zu nähern und ihn zu erreichen, am nächsten.

Das bedeutet aber andererseits nicht, dass Reiche, auch Superreiche auf irgendeinen Genuss verzichten. Wie Piketty vielmehr zeigen kann, steht der Genuss immer an erster Stelle. Für die L’Oreal-Erbin, die über 30 Milliarden Euro verfügt, spielt das weiter keine Rolle; wir hörten ja, wie schwer es ist, mehr als fünf Millionen Euro im Jahr zu verprassen. Und auch für andere Reiche nicht, solange ihr Reichtum nicht auf außerökonomischem Weg – durch Kriegsschäden, Inflation, starke Besteuerung – reduziert wird. Das aber ist vielen zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg passiert und da zeigte sich, dass sie, vor die  E n t s c h e i d u n g  gestellt, den geringer gewordenen Reichtum entweder zu genießen oder wenigstens so weit zu reinvestieren, dass er nicht noch mehr abnahm, immer den Genuss wählten. Sie waren an einen gewissen luxuriösen Lebensstil gewöhnt und unter keinen Umständen zu Abstrichen bereit: Wenn das dazu führte, dass sie ihren Kindern weniger vererbten, als sie selbst geerbt hatten, nahmen sie es in Kauf und die Kinder hatten das Nachsehen. Dies ist einer der Gründe, weshalb der Privatreichtum im Verhältnis zum Sozialprodukt der reichen westlichen Gesellschaften in, nach und zwischen den Weltkriegen erheblich zurückging.

Ein wichtiges Stichwort ist gefallen: das Vererben – die Erbschaft, die Erbin, der Erbe. Dies ist keine Kategorie der Kapitallogik. Es ist überhaupt keine ökonomische Kategorie, sondern eine rechtliche. Ge- und vererbt wurde schon im antiken Rom. Traditionell gehört das Vererben zu den Rechten, die das Privateigentum gewährt. Die Römer haben es klassisch kodifiziert. Allerdings ist auch ein Privateigentum denkbar, das dieses Recht nicht einschließt. Man begreift es, wenn man sich erinnert, dass das Vererben eine ökonomische Funktion sehr wohl haben kann, aber nicht notwendigerweise hat. In der Zeit, als das römische Recht entstand, war die ökonomische Funktion klar. Die Vermögen, die in den bäuerlichen Anwesen steckten, sollten bewahrt werden. Der Privatzugriff darauf war deshalb sogar begrenzt: Ein Eigentümer, der geerbtes Vermögen verschleuderte, womit er nicht nur sich selbst, sondern der ganzen familia und den Nachkommen schadete, wurde bestraft.

Diese Funktion hat das Vererben im Kapitalismus verloren. Aus drei Gründen: Erstens ist es, wie gesehen, geradezu üblich geworden, dass Vermögen verschleudert wird, wenn sich Lebensluxus anders nicht aufrechterhalten lässt. Zweitens sind subjektives und objektives Vermögen auseinandergetreten: Wenn es nun darum geht, den Vermögenswert eines Unternehmens zu wahren, spielt es gar keine Rolle, wer dessen Eigentümer ist. Der Eigentümer ist irgendein Mensch, von dem eigentlich gilt, dass er irgendetwas leisten sollte und  d e s h a l b  ein Vermögen hat, statt bloß weil er Erbe ist. Eine Regelung, die das festschriebe, wird von der Kapitallogik nicht ausgeschlossen. Diese nötigt aber, drittens, dazu, ein Unternehmensvermögen nicht bloß zu wahren sondern  u n e n d l i c h  z u  s t e i g e r n . Dafür, einen Vermögenszuwachs mitzuvererben, spricht dann jedenfalls eine ökonomische Funktion der  W a h r u n g  des Vermögens nicht mehr. Richtig ist zwar, dass die spezifisch kapitalistische ökonomische Funktion, sich dem unendlichen Mehrwert nach Möglichkeit zu nähern, ein Zusammenhalten gerade des  g e s t e i g e r t e n  Vermögens erfordert, damit es, wie gesehen, noch immer weiter und zwar überproportional gesteigert werden kann. Dafür bräuchte es aber die Konstruktion des Erben nicht. Es wäre völlig ausreichend, wenn nur das Unternehmen als permanent wachsendes Vermögen zusammengehalten würde. Dies wird übrigens von den Stiftungen der US-amerikanischen Eliteuniversitäten illustriert, die niemandem gehören, aber über Superreichtum verfügen und ihn, wie wiederum Piketty zeigt, in der geschilderten Art durch bestqualifizierte Anlageberater vermehren lassen.

Tatsächlich ist die Forderung, das Vererben abzuschaffen, auch schon von Leuten erhoben worden, die keineswegs ineins damit den Kapitalismus abschaffen wollten. So von Émile Durkheim, dem großen Soziologen und Zeitgenossen Max Webers. Piketty beruft sich auf Durkheims Argument. Es sagt, dass große Privatvermögen mit Demokratie auch deshalb schlecht verträglich sind, weil sie, selbst wenn wir kontrafaktisch Superreiche unterstellen wollten, die nicht nach der politischen Macht greifen, den demokratischen Prinzipien widersprechen. Nach Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 „[können] [d]ie gesellschaftlichen Unterschiede […] allein auf den Gemeinnutzen gegründet sein“. „Ungleichheiten müssen“ daher, wie Piketty zuspitzt, „angemessen sein und allen zugutekommen“. Die Ungleichheit infolge Vererbens ist damit unvereinbar, weshalb eben Durkheim „eine politische Theorie des Endes der Erbschaft [formuliert]“ habe. Sie ist nicht „Wirklichkeit geworden, aber man kann sich die Frage stellen, ob nicht die Kriege das Problem nur auf das 21. Jahrhundert verschoben haben“. (Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, S. 562 f.)

Eine Verwirklichung des Vorschlags von Durkheim würde noch nicht den Kapitalismus beenden. Sie würde ihn aber  e n t s c h e i d e n d  schwächen, aus dem einfachen Grund, dass seine Verteidigung durch Superreiche wegfiele. Die gäbe es nämlich nicht mehr. Zum Beispiel die Übernahme der Aktiengesellschaften durch ihre Belegschaften nach dem Modell von Ota Sik (vgl. 63. Notiz) fiele dann leichter.

2

Die Frage, „was Reiche sind“, muss nicht nur strukturell sondern auch geschichtlich beantwortet werden, schon weil man dann sieht, dass es möglich ist, gegen sie vorzugehen. Da dies in der Vergangenheit geschah, müsste es ja mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht auch in Zukunft möglich sein sollte. Wir sehen, wie ihr Reichtum und damit ihre politische Macht durch die beiden Weltkriege stark vermindert wurden. Mit Pikettys Hilfe begreifen wir, dass nicht nur die russische Oktoberrevolution und der sowjetische Sieg über die Hitlerbanditen den Superreichtum zurückdrängten, auf den Westen nämlich, sondern auch politische Prozesse in diesem selber. Das ist zunächst ein weiterer  s t r u k t u r e l l e r  Gesichtspunkt: Reiche sind nicht nur durch den juridischen Sachverhalt, dass sich ihr Reichtum aufs Vererben stützt, sondern auch durch ihnen zustoßende Politik mitdefiniert, wie sie ja selbst, solange es sie gibt, Politik mitdefinieren.

Geschichtlich ist aber zu ergänzen, dass ihre Schwächung durch die Weltkriege eine absolute Ausnahme war. Nur vor dem Hintergrund der Weltkriege war es Regierungen der USA und Großbritanniens möglich, Reiche mit Steuersätzen von zeitweise bis zu 98 Prozent zu belästigen. Wobei man übrigens nie vergessen darf, dass die Weltkriege  i m  I n t e r e s s e  der Reichen geführt wurden. Um überhaupt weiterexistieren zu können, mussten sie ein paar Jahrzehnte lang zurückstecken. Dies zusammen mit der bolschewistischen Revolutionsgefahr und damit, dass es nach einem Weltkrieg schwer fällt, die nationale Solidarität zu verweigern, erklärt die Ausnahmesituation, in der es zuletzt auch möglich wurde, Sozialstaatsmodelle wie den „Rheinischen Kapitalismus“ zu verwirklichen. Sie kehrt so leicht schwerlich zurück. Wenn man heute, wie Piketty anmerkt, „nicht wahrhaben möchte, dass dieser unaufhaltsame soziale Fortschritt nach 1980 zum Erliegen gekommen sein könnte (und sich noch immer fragt, wann der böse Geist des Kapitalismus endlich wieder in seiner Flasche verschwindet)“ (S. 464 f.), nützt das gar nichts.

Nach 1980, so zeigt er, nahm der Kapitalismus den Faden wieder auf, den er vor 1914 immerzu mit Erfolg gesponnen hatte. Er ist jetzt im Begriff, alle Privatreichtumsrekorde, die es je gegeben hat, zu sprengen. Besonders sprunghaft ist er übrigens in den letzten zehn Jahren gestiegen. Gerade jetzt also, in einer geschichtlichen Mikrosekunde, erleben wir seinen freien Fall ins Unermessliche, damit auch die unermessliche Steigerung seiner politischen Macht. Dazu kann es kommen, weil keine Politik ihm entgegentritt. Nun wird niemand einen dritten Weltkrieg herbeiwünschen aus dem Kalkül heraus, dass durch atomare Verwüstung dem Superreichtum noch einmal Einhalt geboten werden könnte, wenn auch wieder nur eine Zeitlang. Es muss aber noch andere Wege geben. Das illustrieren die Folgen der Revolte von 1968. Eine Revolte war das nur, keine Revolution, und doch ergriff sie den ganzen Westen und löste bemerkenswerte politische Prozesse aus. In Frankreich führte der „Pariser Mai“ der Studenten zu landesweiten Fabrikbesetzungen der Arbeiter. General de Gaulle, der als Staatspräsident amtierte, drohte der Bewegung fast unverhüllt mit militärischem Eingreifen. Er sah aber auch ein, dass er ihr nachgeben musste, und hob die Mindestlöhne um 20 Prozent an, koppelte sie zudem an den Index des Durchschnittslohns. Die Folge war, dass in den nächsten 15 Jahren der Kapitalanteil am Nationaleinkommen beträchtlich schrumpfte.

Ausgerechnet Francois Mitterand, Präsident seit 1981, musste diese Politik beenden und zurückschrauben. Denn unglücklicherweise fiel der Regierungsantritt seiner sozialistisch-kommunistischen Koalition mit dem beginnenden Siegeszug des Neoliberalismus zusammen. Seitdem nahm die Ungleichheit wieder zu. In den USA hatte die 68er Bewegung von vornherein nichts ausgerichtet, nichts gegen die Reichen jedenfalls. Doch auch hier kam es zu erstaunlichen Geländegewinnen: „Während der amerikanischen Präsidentschaftskampagne von 1972 geht der demokratische Kandidat George McGovern so weit, im Rahmen seines Plans, ein unbedingtes Mindesteinkommen einzuführen, einen Spitzensatz von 100 % für die höchsten Erbschaften ins Gespräch zu bringen (der Satz lag damals bei 77 %). Die krachende Niederlage, die Nixon ihm beibrachte, markierte den Anfang vom Ende des amerikanischen Umverteilungsenthusiasmus.“ (S. 683)

Der Neoliberalismus war nicht bloß eine Folge vom Ende des Währungssystems „Bretton Woods“, wie ökonomistisch behauptet wurde und wird, sondern reagierte auf solche Kämpfe. Man versteht, dass sie den Reichen auf die Nerven gingen! Und zwar reagierte er kulturell, wie ja die Revolte eine „kulturrevolutionäre“ Bewegung gewesen war. Vielfach wurde das registriert, so von der Ausstellung The Whole Earth im Rahmen des Anthropozän-Projekts, 2013 im Berliner Haus der Kulturen der Welt. 2012 war ein Büchlein von Thomas Seibert und mir darauf eingegangen. Die 68er Revolte stellte sich uns als ein Selbstbefreiungsversuch von Individuen dar, die nicht mehr unter Normalitätsklassen subsumiert sein wollten. Deshalb entband sie so viel Kraft, konnte in Teile der Arbeiterklasse eindringen und wurde so den Reichen gefährlich. Es war nur konsequent, dass die neoliberale Reaktion an der Kultur des Selbst ansetzte (alle zusammen. jede für sich. die demokratie der plätze, Hamburg 2012, S. 28):

„Die gegen die kapitalistische Normalarbeit gekämpft hatten, wurden wirklich von ihr befreit und fanden sich in neuen ‚kreativen‘ Produktionsverhältnissen wieder. An die Stelle der alten hierarchischen Betriebsorganisation trat des System der Gruppen, die über ihre Selbstausbeutung beraten durften. Alte ‚Tugenden‘ wie etwa die Pünktlichkeit waren weniger wichtig geworden, dafür wurde es wieder Mode, quasi neben den Maschinen zu schlafen – den Computern: wie in der Manchester-Zeit. Die Einzelne sollte sich ‚frei‘ fühlen, wenn sie nur bereit war, ihre Kreativität auch messen und bewerten zu lassen. Neue Ranking-System führten quasi eine Art Stücklohn für geistige Arbeit ein. Für all diese angeblichen Segnungen war dann noch der Preis ungesicherter, meist nur kurzlebiger Beschäftigung zu zahlen. So war der neue Subjekt-Typ entstanden, der kaum noch durch Aufseher gesteuert werden musste, weil er sich selbst beherrschte im Interesse des Kapitals.“

„Auch in der Freizeit ließen die Folgen nicht auf sich warten. Das Leben des neuen Subjekts, das von Job zu Job wechselte, wenn es überhaupt welche fand, zerfiel in Abschnitte, die nicht mehr als Teile eines irgendwie sinnhaften Lebensganzen verstanden werden konnten. Das Leben der Einzelnen konnte als solches Ganzes nicht mehr ‚erzählt‘ werden. […] Der Auflösung der Kleinfamilie folgten die ‚Lebensabschnittspartnerschaften‘, Lebenseinheit hatten die Einzelnen quasi nur noch in der Kurve des Girokontostands, dessen permanente Rekonstruierbarkeit an die Stelle der unmöglich gewordenen Lebenserzählung trat: Der Postbank-Werbespruch ‚Unterm Strich zähl ich‘ fasst das ganz richtig zusammen.“

Lauter Niederlagen, sie sind aber nicht nur zum Verzweifeln. Es wurde gekämpft und auch die Gegner mussten kämpfen. Nicht so sehr im Krieg, wohl aber in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung kommt es vor, dass sich ein Sieg durch eine Kette von Niederlagen vorbereitet.

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Was ein wenig Hoffnung machen könnte, ist der selten bemerkte Umstand, dass die Supervermögen jede, aber auch jede Legitimation verloren haben. Dass sich die Erbschaft mit Demokratie und Menschenrechten nicht verträgt, wurde schon gesagt. Doch das ist nicht alles. Wie Piketty notiert, scheint bei den großen Romanciers des 19. Jahrhunderts zwischen den Zeilen „so etwas wie eine Rechtfertigung der extremen Vermögensungleichheit auf. Sie allein erlaubt es zumindest einer kleinen Minderheit, sich mit anderem als ihrem Überleben zu beschäftigen, sie ist, anders gesagt, fast schon Bedingung der Zivilisation.“

In Abwesenheit moderner Technologie ist alles tatsächlich noch sehr teuer: Essen, das sich nicht konservieren lässt, Reisen mit Pferden und Kutsche, auch Bücher. „Anders gesagt: Mit dem Zwanzigfachen oder Dreißigfachen des Durchschnittseinkommens um 1800 lebte es sich zweifellos nicht besser als mit dem Zwei- oder Dreifachen in der heutigen Welt; und mit dem Fünffachen oder Zehnfachen des Durchschnittsgehalts war man um 1800 ähnlich gestellt wie heute mit einem Einkommen zwischen Mindest- und Durchschnittslohn.“ (A.a.O., S. 551 f.) „Tatsächlich machte die Pferdehaltung einen erheblichen Teil des Kapitals und der Ausgaben aus“, allein der Preis des Pferdes als solchem konnte so hoch sein wie vier Jahreslöhne eines Dienstboten (S. 553).

Diese Rechtfertigung ist heute hinfällig. Man braucht kein Vermögen, um sich Bücher und CDs leisten zu können. Das Internet verbilligt sie noch mehr. Wir zahlen sogar im Fernverkehr niedrige Transportpreise, so dass auch Reisen nichts Besonderes mehr sind. Ökologisch ist das nicht unbedenklich, doch das ist ein anderes Thema; hier geht es um die Delegitimation des Superreichtums. Parallel zum Siegeszug des Neoliberalismus hat sich unser Leben nochmals verändert: „Zu Beginn der 1980er Jahre gab es weder Internet noch Mobiltelefon, der Flugverkehr war für die breiten Schichten der Bevölkerung kaum erschwinglich, und eine lange Ausbildung konnte sich nur eine Minderheit leisten. In den Bereichen Kommunikation, Verkehrswesen, Gesundheitswesen und Bildungswesen waren die Veränderungen tiefgreifend“, unter anderm darin, dass „zwischen einem Viertel und einem Drittel der heutigen Berufe und Tätigkeiten vor 30 Jahren noch nicht existierten“. (S. 134)

Das bedeutet, es kann heute fast jede(r) die Fähigkeit erwerben, an hoher und höchster Kultur, die den Namen verdient, beteiligt zu sein. Um das Niveau der Zivilisation zu halten und zu steigern, wird die kleine Minderheit der Superreichen nicht mehr gebraucht. Gut, sie haben alles teurer, so sind die Armaturen ihrer Badewannen aus Gold, doch das ist alles Bullshit und trägt zur Kulturhöhe nichts bei.

Vergessen wir auch nicht, dass es den Reichtum der Superreichen nicht gäbe, wenn keine Ausbeutung anderer vorausgegangen wäre und fortgesetzt würde. In dieser Hinsicht war Superreichtum noch nie legitim. Piketty spielt das am Beispiel Bill Gates durch. Gates ist eine eher sympathische Erscheinung, an der Illegitimität seines Superreichtums ändert das aber nichts. Der Reichtum von Gates hat sich in zwanzig Jahren mehr als verzehnfacht. „Zuweilen gewinnt man den Eindruck, Bill Gates höchstpersönlich habe die Informatik und den Mikroprozessor erfunden“, schreibt Piketty. Aber er hat „von einem faktischen Quasi-Monopol auf Betriebssysteme profitiert“, ganz abgesehen davon, „dass seine Leistungen sich auf die Arbeiten ungezählter Ingenieure und Forscher stützen, die Grundlagenforschung in Elektronik und Informatik betrieben haben, ohne die keine Erfindung in diesem Bereich denkbar gewesen wäre und die sich ihre wissenschaftlichen Aufsätze nicht haben patentieren lassen“. (S. 592 f.)

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Zur Geschichte des Reichtums gehört auch, dass im 20. Jahrhundert eine vermögende Mittelschicht entstanden ist – in den USA schon etwas früher – und dass heute die Manager erhebliche Reichtumsgewinne zu verzeichnen haben. Weil beide Phänomene den ökonomischen und politischen Prozess mitbestimmen, seien sie noch kurz verzeichnet.

Der neue Reichtum der Manager ist vor allem ein angelsächsisches Phänomen, strahlt aber, weil er aus den Ländern kommt, die den Neoliberalismus weltweit durchgesetzt haben, auch etwa auf Deutschland aus. Durch Boni und dergleichen kommen Manager auf Einkommenssummen, die zu ihrer Leistung in keinem Verhältnis mehr stehen. Die deutsche Debatte, und wahrscheinlich nicht nur sie, geht sehr naiv an das Phänomen heran. Man bemerkt, wie sich einzelne Spitzenmanager bereichern. Ja, wenn es nur das wäre, gäbe es keinen nennenswerten ökonomischen Effekt. Wie Piketty unterstreicht, geht es aber nicht nur um „die fünf höchsten Gehälter“ eines börsennotierten Unternehmens, sondern man stellt fest, dass 80 % der höchsten Einkommen, die es gibt, Führungskräften „großer Unternehmen“ ausgezahlt werden, egal ob diese zum Finanz- oder einem anderen Sektor gehören. Überhaupt fallen zwischen 60 und 70 Prozent des obersten Prozents der Einkommen auf Führungskräfte. (Sportler, Schauspieler, Künstler kommen auf weniger als fünf Prozent.) (S. 397 ff.). Aberwitzig wird es bei solcher Größenordnung des Phänomens, Boni nur moralisch zu sehen und als „Gier“ zu begreifen, wo sich dann alle zurücklehnen und sagen, d i e Sünde hat es immer gegeben und wird nicht auszurotten sein.

Nein, die ökonomischen Folgen sind erheblich. Zwar hatte die Finanzkrise 2008 ff. keinen Einfluss auf den Anstieg der höchsten Einkommen, der sich einfach fortsetzte. Aber umgekehrt hatte der Anstieg Einfluss auf die Finanzkrise: „Die wachsende Ungleichheit führte dazu, dass die Kaufkraft der unteren und mittleren Schichten in den Vereinigten Staaten quasi stagnierte, was zwangsläufig die Tendenz zur Verschuldung einkommensschwacher Haushalte verstärkt hat; und dies umso mehr, als es immer leichter wurde, auf einem deregulierten Finanzmarkt an Kredite zu kommen – mit Hilfe wenig skrupulöser Banken und Anlageberater, die darauf aus waren, gute Renditen für die enormen Ersparnisse zu erwirtschaften, mit denen die Begüterten das System geflutet hatten.“ (S. 391 f.) Es war die neue Flut eben des exorbitanten Managerreichtums, der kurzzeitig nach Anlagemöglichkeiten suchte. Und gerade weil dieser Reichtum kein Superreichtum war, der sich die teuersten Anlagegeberater hätte kaufen können – denn er war keine Folge von Erbschaft -, waren die Suchergebnisse so ernüchternd, dass sie auf weiter nichts als die schwere Finanzkrise hinausliefen. Zweimal, so Piketty, erreichte der Anteil der obersten zehn Prozent der Einkommen „Höchststände […], einmal 1928 […] und einmal 2007“. (S. 391)

Das ist die ökonomische Seite der Sache. Die politische liegt darin, dass es zur Explosion des Managerreichtums ohne staatlich durchgesetzte neoliberale Deregulation nicht gekommen wäre. Denn sie kam dadurch zustande, dass die Manager selbst entscheiden konnten und können, wie hoch ihr Einkommen sein soll.

Was die neuen vermögenden Mittelschichten angeht, so besteht der wichtige ökonomische Effekt darin, dass sie ihren relativ geringen Reichtum in Immobilien anzulegen pflegen. Piketty weist darauf hin, dass der Kapitalstock entwickelter Länder heute „aus zwei annähernd gleichen Hälften besteht: Immobilienkapital einerseits und das von Unternehmen und der öffentlichen Hand eingesetzte Produktivkapital andererseits“ (S. 78). Dass dann vom Sog dieser Vermögensanlage ganze Gesellschaften erfasst werden und es immer wieder zu Immobilienblasen kommt, ist kaum verwunderlich.

Juridisch und kulturell ist das Phänomen bedeutsam, dass Mittelschichtkinder mit Eigentumswohnungen beschenkt zu werden pflegen, wobei die Schenkung weiter nichts als vorgezogene Erbschaft ist. Man kennt solche Kinder oder ist selbst eins. Sie sind zum Schenkungszeitpunkt „durchschnittlich 35 bis 40 Jahre alt“ (S. 522). Nicht ihr Reichtum, wohl aber ihre politische Rolle kann erheblich genannt werden. Es fällt ja leichter, sich politisch zu engagieren, wenn man etwas in der Hinterhand hat. Solche Menschen sind nicht selten „links“, werden aber von denen, die nur von ihrer Arbeitskraft leben, misstrauisch beäugt. Von marxistische Aktivisten werden sie zudem mit „Kleinbürgern“ des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verwechselt. Wie auch immer, hier müssten Bündnisse geschmiedet werden. Deren ökonomische Grundlage liegt darin, dass auch die Andere Gesellschaft Reichtum nicht verbieten, sondern nur begrenzen wird.