(141) Der Weg zur Gründung / Textbeginn

Dritte Abteilung / 2. Yü Gung versetzt Berge / Fünfter Teil – Proportionswahlen

Mein letzter Text im Rahmen der Blogreihe „Die Andere Gesellschaft“ enthält (erste) Überlegungen zur Frage der Herbeiführung dieser Gesellschaft. Ich habe die in sich einheitliche Erörterung in acht Einträge zerlegt und will sie so im Zweitagesabstand ins Netz stellen. Dass ich die Blogreihe danach noch gelegentlich um „Beilagen“ ergänze, wie es drei schon gegeben hat, ist gut möglich, gleichwohl wird hinter der Erörterung das Wort Finis stehen. Sie ist in fünf Abschnitte gegliedert: Materielle und ideelle Voraussetzungen der Revolution; Axiome; Das militärische Paradigma der klassischen Revolutionen; Die Phasen der Revolution der Anderen Gesellschaft; Das revolutionäre Subjekt. Vorab sei in Erinnerung gerufen, weshalb ich mein Thema unter die Rubrik „Revolution“ überhaupt stelle, statt wie andere anzunehmen, eine allmähliche „Transformation“ oder ein Weg der Reformen könne ebenso gut zum Ziel führen. Mein Ansatz rührt nicht etwa daher, dass ich Revolution mit Gewalt assoziiere. Es ist im Gegenteil meine Hauptfrage, ob und wie man Gewalt  a u s s c h l i e ß e n  kann. Was aber die Gründung der Anderen Gesellschaft mit vergangenen Revolutionen unleugbar verbindet, ist dass sie nicht umhin kommt, gewisse undemokratische Privilegien zu beseitigen, und dass es sicher einen harten Kern von Privilegierten geben wird, die zum ihnen zugemuteten Verzicht unter keinen Umständen bereit sein werden. „Gründung der Anderen Gesellschaft“ bedeutet dann, sie wird  t r o t z d e m  gegründet, und das darf man wohl eine Revolution nennen.

Um welche Privilegien handelt es sich? Erstens um den Superreichtum und seine Privatvererbung. Dieses illegitime Phänomen ist jüngst auch von Thomas Piketty und schon vor hundert Jahren von Émile Durkheim angegriffen worden. Zweitens darum, dass ein Produktionszweig heute gegen den gesellschaftlichen Willen, er möge eingestellt oder doch drastisch beschränkt werden, mit einiger Aussicht auf Erfolg verteidigt werden kann. Man denke nur an den Atom- und Kohleausstieg. In der Anderen Gesellschaft ist solcher Widerstand unmöglich, weil die Proportionen der Produktion in allgemeinen Wahlen festgelegt werden und dann ganz einfach gelten. Der dritte und härteste Punkt ist die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, ohne die sich die Implementierung der Wahlergebnisse nicht durchsetzen und kontrollieren ließe. Da wir in der warenproduzierenden Ökonomie weiter nichts als eine Dienstleistung für die Gesellschaft sehen, halten wir auch das Geschäftsgeheimnis, von gewissen Sonderbereichen natürlich abgesehen, für illegitim. Seine Abschaffung bedeutet die, wie man sagt, „Brechung der Macht des Kapitals“.

 

1. Materielle und ideelle Voraussetzungen der Revolution

Ein Gedanke, den Moishe Postone niedergeschrieben hat, erscheint mir wichtig: Wer heute noch von einem „Widerspruch“ reden will, der in der Produktionsweise liege und sie zur Revolution und postkapitalistischen Gesellschaft treibe, kann nicht mehr davon ausgehen, dass die „Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse“ dieser Widerspruch seien. Denn das sind  v o r h a n d e n e  Sachverhalte: Nichts, was einfach nur vorhanden ist, wird durch sein Vorhandensein zur gravierenden Veränderung genötigt. Vielmehr sind alle Elemente des Kapitalismus durch noch so schwere Krisen hindurch miteinander kompossibel. Einen „Widerspruch“, der zur Revolution nötigt, gibt es dennoch sehr wohl: zwischen der  A k t u a l i t ä t  der Produktionsweise und ihrer  P o t e n t i a l i t ä t . (Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003 [engl. 1993]) Ich glaube, dass Postone recht hat, wenn man nur seine dialektische Redeweise etwas korrigiert: Zwischen dem Realsein der Produktionsweise und dem Möglichsein dessen, was sie eröffnet, besteht kein „Widerspruch“, vielmehr nur ein Unterschied; weil aber das Sein das Bewusstsein bestimmt, reicht er hin, es  m ö g l i c h  zu machen, dass dem Realsein  w i d e r s p r o c h e n  wird und dies nicht vom Standpunkt eines anderen Realseins, sondern der begründeten Möglichkeit. Wenn wir vom Widerspruch nicht positivistisch sprechen, sondern davon, dass man „Widerspruch einlegt“, also widerspricht, haben wir uns sogar erst auf die wahre Dialektik besonnen, wie das in früheren Notizen schon erörtert wurde.

Widerspruch im Vorhandenen und mögliches Widersprechen sind aber keine bloße Alternative des Denkens, deren eine Seite falsch und die andere richtig wäre. Sie sind es jedenfalls nicht nur. Es bleibt doch wahr, dass sich in Russland vor 1917 die bereits kapitalistisch entfesselten Produktivkräfte und die Fesseln der zaristischen Autokratie widersprachen. Nur in den führenden kapitalistischen Gesellschaften, wie dem heutigen Deutschland zum Beispiel, ist alles Vorhandene kohärent genug, dass es auf Kosten anderer Weltteile ewig so weiterlaufen könnte. Da erst wird es falsch, einen Widerspruch zwischen Seiten der vorhandenen Wirklichkeit zu postulieren, wo in Wahrheit das viel Brisantere geschieht, dass ein Unterschied von Wirklichkeit und Möglichkeit es ermöglicht,  d e n  S c h e i n a l t e r n a t i v e n  zu widersprechen, die sie an- und darbietet, damit der Widerstand sich in ihnen verfängt und fruchtlos zwischen den Seiten pendelt. Da scheinen Seiten „antagonistisch“ zu sein und verhalten sich doch nur amphibolisch zueinander.

Es ist andererseits nicht so, als hätte diese Konstellation, in der es darauf ankommt, sich über den bloßen wechselseitigen Ärger von Seiten einer festgefügten Wirklichkeit zu erheben, nicht auch schon im vorrevolutionären Russland mitgespielt. Sie war nur weniger zentral und weniger offensichtlich. Wenn Lenin eine sozialdemokratische Politik kritisierte, die auf den „Spontaneismus“ der Arbeiterklasse setzte, was kritisierte er da? Dass der Blick darauf, wie die Arbeiter „spontan“ gegen das Unrecht kämpften, das ihnen zugefügt wurde, nicht das Bewusstsein, das sie  h ä t t e n  h a b e n  k ö n n e n , berücksichtigte. „Spontan“ nämlich bildeten sie sich ihr Kampfbewusstsein aus den sie umgebenden Umständen heraus. Und so kämpften sie nur im Umkreis der Fabrik und nur gegen die Kapitalisten, von denen sie angeheuert worden waren. Dieser Kampf war eine Bewegung im Vorhandenen, zwischen vorhandenen Arbeitern und vorhandenen Ausbeutern, „Klasse gegen Klasse“ – dass sie sich gegeneinander wandten, stand gewiss auf der Tagesordnung, doch die Ausbeutung, sagt Lenin (ich beziehe mich auf Was tun?, 1902), kann  n i c h t  „ ö k o n o m i s t i s c h “  beseitigt werden, sondern  n u r  p o l i t i s c h , indem man die zaristische Autokratie stürzt. Das Bewusstsein davon  k ö n n e n  Arbeiter haben, obwohl sich ihnen die Rolle der Autokratie nicht zeigt – oder nur selten und undeutlich zeigt, wenn die Bewaffneten einmal einschreiten -, sie haben es aber eben nicht „spontan“, das heißt es ist ihr potentielles, nicht schon ihr wirkliches Bewusstsein. Damit es ihr wirkliches werde, müssen sie über den Zusammenhang erst informiert werden, „von außen“ durch die Revolutionäre.

Wie hat man gegen dieses „von außen“ polemisiert, als läge darin eine bösartige Künstlichkeit. Dabei ist doch jede(r) zur Solidarität, und damit zur Hilfe, die immer „von außen“ kommt, nicht nur selber fähig sondern auch auf sie angewiesen. Auch heute in unserem Deutschland geht es darum, die Arbeiter, aber auch alle anderen auf etwas aufmerksam zu machen, das nicht schon „spontan“ bemerkt wird. Das ist, dass man in unnötiger Unfreiheit verharrt, obwohl es umgekehrt scheint, als wären so viele „Möglichkeiten“ vorhanden und würden noch ständig vermehrt – denken wir nur an die Internet-Waren mit ihren immer neuen Versionen und Updates oder überhaupt an den überquellend reichen, immer reicher werdenden Markt -, dass man weit entfernt ist, alle ausschöpfen zu können. Es ist dennoch möglich zu begreifen, dass dieser Reichtum wegen seiner verhängnisvollen Uferlosigkeit gar keiner ist: Freisein bedeutet nicht, alles Unendliche zu tun, das möglich ist, sondern es bedeutet, das unendliche Streben als Zwang zu erkennen und sich mit ihm auseinanderzusetzen als mit einer Täuschung und  G r e n z e  des Erkennens und Handelns, die es zu übersteigen gilt.

Dabei ist der traditionelle Ansatz, dass „Verelendung“ die zum Revoltieren treibende subjektive Erfahrung sei, durchaus für beide Arten von Gesellschaften aufrechtzuerhalten. Nur ist der Grund und Gegenstand nicht derselbe oder ist es jedenfalls nicht auf der Ebene der Gegebenheit. Als ein und dasselbe bestimmt zwar die Kapitallogik hier wie da das Gegebene, und wir haben es, um das nebenbei zu erwähnen und damit auch anzufangen, mit ein und demselben auf der Ebene der Wortbedeutung zu tun. Das „Elend“ nämlich, das den Kern des Wortes bildet, leitet sich etymologisch von einem Wort für „Fremde“ her, so dass Verelendung eigentlich so viel wie Entfremdung bedeutet. Diese breitet sich über alle Gesellschaften, wird aber in den kapitalistischen Zentralländern anders erlebt als in einer peripheren Gesellschaft, wie Russland vor 1917 eine war.

Dort nimmt sie die handgreifliche Gestalt an, dass der Arbeiter durch das Geld, das ihm nicht gegeben wird, von den Waren, die er selbst produziert hat, durch Glas getrennt und ihnen zugleich sehr nahe ist, wie das Schaufenster so an sich haben. Seine Verelendung hat dann ihrerseits handgreiflichen Charakter, indem sie darin besteht, dass es an den nötigsten Lebensmitteln mangelt. In einem Land wie Deutschland gibt es diesen Mangel für einheimische beschäftigte Arbeiter nicht. Sie sind, wenn man es böse ausdrückt – Friedrich Engels hat es getan -, davon „bestochen“, dass ihre Kapitalisten die ganze Welt ausbeuten und mit dem Gewinn, der abfällt, sowohl das Militär zur Niederhaltung der Welt bezahlen als auch sie selbst ruhig stellen, mit panem et circenses abspeisen können. Natürlich bekommen die Beschäftigen weder was ihnen zusteht noch überhaupt „genug“, und natürlich gibt es die Unbeschäftigten, die schlecht wohnen und essen und von der Kultur abgeschnitten oder die gar obdachlos sind. Dennoch wird die Gesellschaft im Ganzen von der Armut der Schlechtestverdienenden und Unbeschäftigten nicht geprägt, und für sie wie für alle Beschäftigten liegt die Verelendung meist weniger im Mangel am materiell Notwendigen als darin, dass sie sich gedemütigt wissen. Diese Demütigung bekämpfen wir, sie ist nicht hinnehmbar; aber wer realistisch bleibt, wird sich sagen, dass kein radikaler Kampfgeist von ihr ausgehen kann. In einer Gesellschaft, die insofern „widersprüchlich“ ist, als gegen die  v o r h a n d e n e  Produktionsweise eine steht, die nur möglich wäre, reichen zur Revolution die  m a t e r i e l l e n  Voraussetzungen nicht hin.

Da sind vielmehr die ideellen Voraussetzungen entscheidend. Um zu erfassen, worin sie bestehen, müssen wir auf das andere zu sprechen kommen, wovon gesagt wurde, es liege den Metropolen – so nennen wir die kapitalistischen Zentralländer – nicht anders als den peripheren Gesellschaften zugrunde. Das ist die Kapitallogik als ökonomische Basis der jeweiligen Gegebenheit. In Russland vor 1917 hatte sie noch nicht lange gewirkt, so dass dort die bekannten frühkapitalistischen Verhältnisse entstanden waren: eine wirklich unbarmherzige Ausbeutung, wie man sie heute noch in Ländern des Südens und Ostens findet. In unserem Deutschland jedoch zum Beispiel, wo Gewerkschaften etablierte Teilnehmer der politischen Konsenskultur sind, verträgt sie sich damit, dass Arbeiter eigene Häuser bewohnen. Ausgebeutet wird auch hier, aber ein anderer Zug der Kapitallogik, und zwar der eigentlich bestimmende, tritt viel mehr in den Vordergrund, das grenzenlose „Wachstum“ nämlich, zu dem sich das Kapital auch um den Preis der Überschreitung jener Grenzen, jenseits derer die Vernichtung der Erde beginnt, auf den Weg gemacht hat. Marx bringt dies eigentliche Grundgesetz des Kapitals in einer Art Definition, die ich immer wieder zitiert habe, auf den Punkt: „Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.“ (MEW 42, S. 253) Es beseitigen heißt diese Bewegung beseitigen, die heute in den Metropolen bereits einen destruktiven Charakter angenommen hat, indem die inzwischen akkumulierte Masse des Mehrwerts zu großen Teilen nur noch in die Finanzmärkte fließt, wo sie schwere Krisen verursacht, und indem gleichwohl die Bewegung zum immer größeren Schaden der Ökologie immer weiter geht.

Als Reflex dieser Logik des Kapitals kommt es zu einem ideellen Phänomen, das ich mit Friedrich Nietzsche als Nihilismus bezeichne. Es besteht darin, dass den davon betroffenen Gesellschaften die obersten Werte und Ziele abhandenkommen, so dass sich ein Gefühl des Lebens in der Sinnlosigkeit ausbreitet. Menschen, denen es bewusst wird, werden dann von einer Verelendung anderen Typs, der  g e i s t i g e n  V e r e l e n d u n g  befallen. Sie lässt sich mit Marx strikt herleiten: Wo die Unendlichkeit der Kapitallogik direkt erlebbar wird, muss es auch im Überbau schwer fallen, das Endliche festzuhalten, und Ziele sind nun einmal endlich – nicht nur im Altgriechischen, sondern auch im Deutschen ist beides in einem Wort vereint (Telos, Be- und Entschluss, Schlussfolgerung usw.) -, ganz abgesehen davon, dass es nun auch immer schwerer fallen muss, die Endlichkeit des eigenen Lebens zu ertragen. „Wer stirbt“, sagt Adorno 1965, „der merkt, dass er um alles betrogen ward. Und darum ist der Tod so unerträglich.“ (Metaphysik. Begriff und Probleme, Hg. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1998, S. 213) Von Werten übrigens kann gesagt werden, dass auch ihnen zwar Unendlichkeit eignet, aber nicht die „schlechte“ des Kapitals: Kein unendlicher Regress geht von ihnen aus, doch sind sie so allgemein gefasst, dass noch immer neue „Fälle“ unter sie subsumiert werden können. Die Subsumtion indes besteht darin, dass sie in Handlungsziele transformiert werden,  w e n n  sie als Werte noch  g e l t e n . Dies ist nicht der Fall, wo zum Beispiel Parteien sich durch Werte definieren, sie aber nicht umsetzen; wo ein Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement, SPD, den Wert „Gerechtigkeit“ seiner Partei aufruft und mit den Worten deutet, sie laufe heute auf Steuererlass fürs Kapital hinaus, weil es dann mehr Arbeitsplätze schaffe, was in Wahrheit nicht geschieht. Clement dachte gar nicht daran, es  z u r  B e d i n g u n g  des Steuererlasses zu machen.

Wie ich bereits vorgeschlagen habe, sollte der Begriff des Verschwindens der obersten Werte und Ziele heute linguistisch gefasst werden: Sie stellen sich als Grundfragestellungen einer Epoche dar, die so lange in Geltung stehen, wie sich von ihnen ausgehend sinnvolle Antworten erlangen lassen. Das unendliche Streben war einmal sinnvoll; es wurde als Annäherung an einen Gott, der seit Beginn der Neuzeit als Unendlicher gedacht wurde, dann (auch) an eine unendliche Natur verstanden (Spinozas Deus sive natura), und noch als die Figur in der Ökonomie Geltung erlangte und von ihr aus die Gesellschaft zu beherrschen begann, schien sie lange nur das Vehikel zu sein, mit dem das sehr sinnvolle Projekt, „die Mühsal der menschlichen Existenz zu erleichtern“, verfolgt werden konnte. Spätestens aber seit dem Hervortreten der ökologischen Krise zeigt sich, dass dieses Projekt und die Kapitallogik nur gleichsam zufällig eine Zeitlang zusammentrafen, wie Marx das von Anfang an gesehen und betont hat. Die Kapitallogik als solche ist ziellos; dem Kapital sind die Gebrauchswerte gleichgültig, die es herstellen lässt. Es wäre zwar übertrieben, wollte man sagen, dass schon  a l l e  Antworten, die mit der kapitallogisch basierten Unendlichkeitsfrage noch gegeben werden, ins Sinnlose umgeschlagen sind. Doch nehmen sie zu und mit ihnen muss sich die nihilistische Mentalität ausbreiten. Auch sie hat die  g a n z e  Gesellschaft noch nicht erfasst, doch nicht nur Außenseiter nehmen sie inzwischen wahr. Romanciers wie Charlotte Roche, Michel Houellebecq oder Jonathan Franzen sind keine Außenseiter.

Übrigens bedarf es einer bestimmten Denkweise, das beginnende Leerlaufen des Sinns als Leerlaufen einer Fragestellung zu begreifen. Denn vielfach wird eine Frage, der man immerzu folgt, nur in ihrer reduzierten Form wahrgenommen, wo sie Befehl geworden ist, dem man gern gehorcht, ja den man (auf)sucht, weil und solange er sinnvoll erscheint. Wenn immer wieder gesagt wurde, von Oskar Negt zum Beispiel, die „Arbeitsgesellschaft“ sei eine gute Sache, weil nur der in sie integrierte Mensch sich gesellschaftlich anerkannt sehe, so haben wir es offenbar mit dieser Erscheinungsform der epochalen Frage zu tun. Richtig aufgefallen ist es Beschäftigten wohl noch nicht, dass etwa die ungebremste Vervielfachung der Autoproduktion einem destruktiv und damit sinnlos gewordenen Befehl folgt. Doch wird auch  i h r e  Geduld begrenzt sein wie jede. So spielen Arbeiter nach wie vor eine Schlüsselrolle, denn gerade sie, die traditionell am entschlossensten auf materielle Verelendung reagiert haben, werden auch sensibel sein, wenn sie sich zusätzlich in die geistige geworfen sehen – wenn sie zu fragen beginnen, ob die Ziele ihrer Arbeit, die man ihnen befiehlt, sinnvoll sind oder nur ein Vorwand fürs Profitmachen, das ihnen und ihren Kindern und Kindeskindern viel eher schadet als nützt.

Wenn zugespitzte Verelendung eine revolutionäre Situation herbeiführt, herbeiführen wird, dann sollten wir sie, was unsere reichen Gesellschaften angeht, als vor allem geistige Verelendung, das heißt als zugespitzten – bewusst werdenden – Nihilismus begreifen. Auf die kapitalistischen Metropolen kommt es ja an. Wie Rudolf Bahro sinnfällig formuliert hat, läuft hier der „Motor“ des weltweiten Unheils und muss also hier, wenn überhaupt irgendwo, auch abgestellt werden. So sehr diese Einsicht nun weiterführt, führt sie auch zu einem schweren Problem, dem des Faschismus. Denn was ist Faschismus, wenn nicht dass spontan das Nihilistische wahrgenommen und daraus unmittelbar eine Politik gemacht wird. Joachim Fests Buch über Hitler gab Anlass zu linker Kritik, doch richtig hat er diesen Zusammenhang hervorgehoben, dass die deutsche Gesellschaft mit „der großen Angst“ auf den Ersten Weltkrieg reagierte und damit den Weg in den Nationalsozialismus schon angetreten hatte (Hitler. Eine Biographie, Erster Band, Frankfurt/M. Berlin Wien 1973, S. 129-185). „Daher ist uns, als wenn uns der Boden unter den Füßen versinke“, zitiert er Jaspers (S. 134) und auch bei Hitler ist das „Angsterlebnis […] auf dem Grunde fast aller seiner Äußerungen und Reaktionen spürbar“ (S. 143). Heute haben wir das Phänomen der aus dem Westen rekrutierten Dschihadisten, von dem nachgewiesen wurde, dass es viel eher als „aktiver Nihilismus“ denn als ein Auswuchs von Religion zu verstehen ist (Jürgen Manemann, Der Dschihad und der Nihilismus des Westens. Warum ziehen junge Europäer in den Krieg?, Bielefeld 2015).

Religion und Nihilismus sind einander freilich so nahe, dass man Erstere durch den bestimmten Bezug auf Letzteren geradezu definieren kann. So gibt der neutestamentliche Jesus den Jüngern, die die Kirche gründen werden, auf den Weg, dass sie „das Licht der Welt“ zu sein haben (Matth. 5, 14), leuchtend in einer schwarzen Weltnacht, die wieder einmal hereingebrochen ist, von der auch in der hebräischen Bibel die Rede ist (Jes. 9, 1) und der auch Muslime, sehr anders als der „IS“ und andere Mörder, das Bild des Lichts entgegenhalten. So wird auch dies zu den Anzeichen gehören, dass eine revolutionäre Situation naht, wenn Religion, die man bereits für abgetan hielt, auf einmal wieder viele Menschen anzieht. Wie sich Revolutionäre dazu verhalten sollten, wird man am besten von Bert Brecht lernen, dem kommunistischen Dichter: „Im Dritten Reich“, schrieb er seinerzeit, „spielt sich […] nicht ein Kampf gegen die Religion ab, sondern ein Kampf zweier Religionen. Das Neuheidentum“ – so sein Begriff für den aktiven Nihilismus der Nazis –

„ist kein Atheismus, sondern ebenso wie das Altheidentum eine Religion. Und zwar ist das Neuheidentum gegen das Christentum genommen eine rückständige Religion. […] Wenn wir die christliche Religion als Opium bekämpft haben, weil wir sagten, sie lulle den Unterdrückten in Passivität, so müssen wir diese neue Religion noch stärker bekämpfen, da sie ein Rauschmittelausschank viel größeren Umfangs ist […]. Das Christentum selber aber wird heute in einen sehr fruchtbaren Kampf mit seinen eigenen heidnischen Residuen verwickelt und ist gezwungen, seine blinde Unterwürfigkeit unter den Staat zu revidieren, die es immerfort zu der Einsegnung der Kriege und der bedingungslosen Verteidigung überholter Besitzformen geführt hat. In den deutschen Religionskämpfen müssen wir Kommunisten an der Seite der fortschrittlicheren Religion kämpfen […].“ (Gesammelte Werke Bd. 20, Frankfurt/M. 1967, S. 240 f.)

Brecht hat freilich gewusst, dass die Praxis der Kirchen nicht hinreicht, den Nihilismus zu besiegen, wie er auch als Kommunist den Zusammenhang von Nihilismus und Kapitalherrschaft durchschaute. Beides bringt er in seinem Drama Die heilige Johanna der Schlachthöfe, entstanden 1929/30, zum Ausdruck, wenn er die Titelfigur, ein Mitglied der Heilsarmee, sagen lässt: „Als ich / Mit großem Plan hierherkam, auch bestärkt / Darin durch Träume: dass es hier so kalt / Sein könnte, hab ich nicht geträumt.“ Doch hat er die Kirche als wichtigen Bündnispartner im Kampf gegen den Faschismus erkannt.

Zu den materiellen Bedingungen einer Revolution gehören auch die rein technischen. Da gerade die Technik sich rasant wandelt, nehmen verschiedene Revolutionen vollkommen verschiedene Charaktere an. Das fängt mit der Waffentechnik an: Schon Friedrich Engels beobachtete, dass der Entwicklungsstand seiner Zeit eine Revolution als bewaffneten Aufstand jedenfalls in den Metropolen des Kapitals unmöglich gemacht hatte. Wie wir sahen, bedauerte er das nicht etwa, sondern setzte auf die Möglichkeit, die Parlamente revolutionär zu nutzen. Übrigens implizierte sein Argument auch, dass es keinen Krieg mehr hätte geben dürfen – die Staaten führten trotzdem die Katastrophe des Ersten Weltkriegs herbei. Aber wenn wir heute von Waffen sprechen, sind wir viel „weiter“: bei der Digitalisierung, die Drohnen und vieles andere möglich macht, und beim Internet, das bekanntlich vom US-Militär initiiert wurde. Das Internet kann nun aber auch revolutionär genutzt werden. Ohne Internet wären Proportionswahlen gar nicht möglich. Der erste übrigens, der aussprach, dass ökonomische Planung durch Computerisierung gewinnt, dürfte Bahro gewesen sein: „Heute“, schreibt er schon in den 1970er Jahren, „wo das Problem der allgemeinen Volksversammlung von der quantitativ-technischen Seite durch die modernen Computer und Massenkommunikationsmittel gelöst ist“, „könnten prinzipiell alle Individuen regelmäßig an der Entscheidung über die Neuwertverteilung, an der Festlegung der Perspektiven der Gesellschaft, an den Willensakten der Prognose teilnehmen.“ (Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Frankfurt/M. 1977, S. 357)

Ohne Internet wäre auch die Unverborgenheit aller unternehmerischer Vorgänge nicht möglich, die zu den wesentlichen Bedingungen einer Ökonomie der Proportionswahlen gehört. Und auch das kann man schon bei Bahro lesen, denn er fährt fort: „Bei uns ist alle wirklich wesentliche Information über Probleme, die  n e u e  Lösungen verlangen, vertrauliche Verschlusssache. […] Die Lösung besteht darin, den Hin- und Rückfluss aller derjenigen Informationen, die sich auf qualitative Veränderungen des bestehenden Zustands beziehen, außerhalb der Leitungs- und Verwaltungshierarchie zu institutionalisieren.“ (A.a.O. S., 357 f.) Bahro denkt ans Politikbüro der DDR, doch übertragen auf unternehmerische Leitung und Verwaltung bleibt es ebenso richtig.