3. Das militärische Paradigma der klassischen Revolutionen
Vom Krieg wird das Denken der kommunistischen Führer beherrscht und so sind ihre Hauptbegriffe der Kriegstheorie entlehnt. Noch im ersten Lehrbuch, das in der Breschnew-Zeit kommunistische Revolutionspolitik behandelt, lesen wir, die „Strategie“ ziele auf den „Zusammenschluss der politischen Armee der Revolution“ (W. W. Sagladin [Gesamtredaktion], Die kommunistische Weltbewegung. Abriss der Strategie und Taktik, Frankfurt/M. 1973 [russ. 1972], S. 29), und überhaupt: „Um das Verhältnis von Strategie und Taktik deutlicher zu machen, wird mitunter folgender Vergleich zitiert: Die Strategie dient dazu, den ganzen Krieg zu gewinnen, die Taktik ist darauf gerichtet, im unmittelbaren Kampf Erfolge zu erzielen.“ (S. 33) Natürlich ist das nicht bloß ein „Vergleich“, sondern die direkte Übernahme der Definition der Begriffe durch Carl von Clausewitz in dessen unvollendetem Hauptwerk Vom Kriege (Berlin 1832-34). Dieses haben Lenin und Mao bekanntlich intensiv studiert.
Man muss dennoch sagen, dass gerade Lenin begonnen hat, die Kriegstheorie gleichsam auszuhöhlen, in eine Theorie der Minimalisierung des Krieges umzuwandeln. Als großer Revolutionär konnte er gar nicht anders. Aus späteren Lehrbüchern wie dem eben zitierten wird sein Weg nicht mehr fasslich. Deren martialischer Klang ist verlogen, soweit er der Revolution gilt. An gewaltsamen Revolutionen hat die Außenpolitik der späten Sowjetunion keinerlei Interesse – in Kuba versucht ihr Parteiableger eine zu verhindern, vergeblich, denn Fidel Castro lässt sich nicht aufhalten -, darf das aber im öffentlichen Streit mit dem noch maoistischen China nicht zugeben. Der martialische Klang ist andererseits nicht nur scheinhaft, da die Sowjetunion als Staat sich kriegerische Optionen durchaus offen hielt. So lag zum Beispiel ein Plan zur militärischen Besetzung Westberlins in der Schublade. Von da aus Lenin zu verstehen war aber unmöglich. Lenin wusste natürlich noch, dass hinter einer Revolution eine gesellschaftliche Mehrheit steht, die erst einmal erlangt sein will, und dass dies, die Herausbildung der revolutionären Mehrheit, die revolutionäre Hauptsache ist.
Als es ernst wurde, begnügte er sich freilich mit einer Mehrheit, die er erstens nur in der Arbeiterklasse suchte und dies zweitens nur in den beiden russischen Hauptstädten St. Petersburg und Moskau, wobei es ihn drittens nicht störte, dass selbst diese Mehrheit nur kurzfristig bestand. Der Erfolg seiner Partei war daher kein revolutionärer Sieg, sondern nur ein Staatsstreich. Dennoch waren lange Strecken seines Wegs dahin revolutionär. Und nun gehörte zu diesem Weg das Konzept einer politischen Armee. Wir, die wir k e i n e n S t a a t s s t r e i c h s o n d e r n d e n r e v o l u t i o n ä r e n S i e g vorbereiten – womit wir uns eher an der Großen Französischen Revolution orientieren -, gehen trotzdem aus logischen und historischen Gründen so vor, dass wir noch ebenso wie Lenin mit der Vorstellung des Krieges beginnen, mit dem Ziel nun allerdings, sie nicht nur auszuhöhlen, sondern gänzlich aufzulösen. Dies scheint der beste Weg zu sein, sich zur Auflösung des Gemischs von Gegnern und Gegenüberseienden, mit dem es Revolutionäre zu tun haben und das nicht noch einmal zum Bürgerkrieg führen darf, zu „rüsten“. Das also ist der Grund, weshalb ich mit dem Härtesten beginne, der Kriegstheorie von Clausewitz. Der ging übrigens seinerseits von der Französischen Revolution aus, nicht freilich von ihrer Vorbereitung und ihrem Sieg, sondern von den Kriegszügen Napoleons, auf die sie hinauslief.
„Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf.“ Mit diesen Worten setzt er ein (Vom Kriege, in: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte [Hg. Reinhard Stumpf], Frankfurt/M. 1993, S. 9-423, hier S. 15) und sie zeigen schon die große Verschiedenheit von Krieg und Revolution. Es ist freilich wahr, dass Revolutionäre so gedacht haben. Selbst noch ein Wahlkampf konnte so aufgefasst werden: Als Franz-Josef Strauß 1980 gegen Helmut Schmidt antrat, plakatierten Trotzkisten „Klasse gegen Klasse“. Eine Revolution ist aber immer e i n V i e l k a m p f . Er ist es auch dann noch, wenn sich der Rest von Gegnern herausgebildet hat, die auch als Minderheit nicht aufgeben. Denn diese Minderheit muss Verbündete suchen und hat es immer getan, in Russland mit wenig, in Chile mit viel Erfolg. Vor allem vorher indes und besonders in den kapitalistischen Metropolen muss man vom Vielkampf ausgehen. Denn das Kapital, gegen welches sich die Revolution richtet, steckt nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in der Naturwissenschaft, auch in der Politik, auch in der Kultur, überhaupt steckt es in den Köpfen und im „Habitus“ der Individuen. Und in allen I n s t i t u t i o n e n – nicht nur im Staat.
Dies war Antonio Gramscis Gesichtspunkt. Wir haben es schon gestreift. Die Gesellschaft, schreibt er im Blick auf den Westen, ist seit ungefähr 1870 von lauter Befestigungssystemen, eben Institutionen durchdrungen, die alle für den Kapitalismus funktionieren, wie es vorher nur der Staat getan hat. Es reicht daher nicht mehr, den Staat handstreichartig zu „nehmen“, vielmehr zwingt dessen Befestigungssystem zum langwierigen „Stellungskrieg“. Was Gramsci Stellungskrieg nennt, ist ersichtlich gar kein Krieg mehr, sondern, wie er sagt, der Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie, das heißt um die Überzeugung der großen Mehrheit, die vorerst noch in den Institutionen gebunden ist. Dass er vor allem an e i n e Institution denkt, das Parlament nämlich, ist nicht schwer zu raten. Sobald aber (und solange) das Parlament von der gesellschaftlichen Mehrheit g e w ä h l t w i r d und seinerseits die Regierung wählt, die das Staatszentrum ist, ist jeder militärische Eroberungsversuch dieses Zentrums antidemokratisch und somit – weil er nicht nur antidemokratisch i s t , sondern auch s o e m p f u n d e n w i r d – konterrevolutionär.
Es ist übrigens bezeichnend, dass jenes Lehrbuch der Breschnew-Ära, in dem Gramsci niemals erwähnt wird, nun ausgerechnet von der Zeit um 1870 behauptet, da allenfalls habe man noch eine Revolution ohne Gewalt auch im Westen für möglich halten können, weil es „damals noch keine entwickelte bürokratische Staatsmaschinerie gab“. Die falsche Behauptung musste aufgestellt werden, weil nicht nur Gramsci und Max Weber gegen sie stehen, sondern es auch einen Satz von Karl Marx aus dem Jahr 1872 gibt, gesprochen auf einer Kundgebung in Amsterdam, der immerhin wenigstens zitiert wird: „Wir wissen, dass man die Institutionen, die Sitten und die Traditionen der verschiedenen Länder berücksichtigen muss, und wir leugnen nicht, dass es Länder gibt, wie Amerika, England, und wenn mir eure Institutionen besser bekannt wären, würde ich vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel gelangen können.“ (MEW 18, S. 160; Sagladin, a.a.O., S. 128) Marx hat das gesagt, w e i l in England und Frankreich die Staatsmaschinerie entwickelt war und nicht zuletzt auch der Parlamentarismus zu ihr gehörte. Wenig später wandte Engels, was Marx für verfrüht gehalten haben muss, denselben Gedanken auf Deutschland an, nachdem Bismarcks Verfassung des Zweiten Reichs einen sogar nur begrenzten Parlamentarismus eingeführt hatte. Von Gramsci her ist nur dies noch hinzuzufügen, dass das Institutionensystem entwickelter westlicher Gesellschaften nicht nur die Revolution o h n e Gewalt m ö g l i c h macht, sondern auch umgekehrt die Revolution m i t Gewalt a u s s c h l i e ß t . Und wiederum hat Engels dasselbe schon allein der Entwicklung der Waffentechnik abgelesen.
Das Lehrbuch lässt sich nicht beeindrucken: „Notwendig“, lesen wir da, „ist eine politische Armee der Revolution“, geführt von der Partei. Sie bilde sich in mehreren Etappen. Zuerst würden die Kräfte gesammelt und von der Notwendigkeit des Aufstands überzeugt, doch bleibe der Zeitpunkt noch offen, die Arbeiterklasse müsse indes schon einmal „erkennen, dass der Aufruf zum Aufstand nicht Verteidigung, sondern energischen Angriff bedeutet“. Dann folge die „Etappe der unmittelbaren Vorbereitung“, wo die Avantgarde bewaffnet und der Zeitpunkt bestimmt werde. Gegenwärtig indessen, fügen die Autoren im Stil einer Montage hinzu, wüchsen die „Möglichkeiten für eine verhältnismäßig friedliche Erringung der Macht“. (S. 132 f.) Dieser Stil zeigt an, dass alles nicht ernst gemeint ist. Es sind lauter Lügen. Was sie aber zur „Bewaffnung der Avantgarde“ schreiben, ist im Jahr 1972 eine a n t i m a r x i s t i s c h e , in der praktischen Konsequenz konterrevolutionäre Lüge.
Der Krieg sei „ein Akt der Gewalt um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“, sagt Clausewitz im zweiten Schritt (ebd). Auch das können Revolutionäre nicht übernehmen. Denn was ist die Revolution in ihrer entscheidenden ersten Phase: Kommunikation, um aus Gegnern M i t s t r e i t e r der Revolution zu machen – um sie also zu unserm Willen h i n ü b e r z u z i e h e n , was in Gewaltakten nicht gelingen würde. Auch in der zweiten Phase, wenn die revolutionäre Macht erlangt wird, bleibt das grundlegend, es bleibt überhaupt immer grundlegend und war es schon in den klassischen Revolutionen. So standen in der russischen Februarrevolution unbewaffnete Volksmassen bewaffneten Soldaten gegenüber, die das Zarentum schützen sollten, sich jedoch, als sie auf die Massen trafen und die Angrenzenden mit ihnen redeten – wobei sich die Frauen hervortaten -, besannen, dass sie arme und kriegsmüde Bauern waren; indem sie zu den Massen überliefen, entschieden sie diese Revolution.
Clausewitz‘ Theorie ist, wie gesagt, vom Erleben der Napoleonischen Kriegszüge geprägt; genauer gesagt wohl von den Befreiungskriegen g e g e n Napoleon. Was er da erfahren hat, ist das hemmungslose Gewaltspiel auf beiden Seiten, das auch für spätere Revolutions- und revolutionäre Bürgerkriege bezeichnend bleiben wird. Er meinte, hierin die eigentlich Kriegslogik zu finden, die nur normalerweise vom politischen Kriegszweck gedämpft sei. Ob das für seine Zeit plausibel war, wage ich zu bezweifeln. Die Hemmungslosigkeit könnte sich doch auch daraus ergeben haben, dass revolutionäre Kriege und Bürgerkriege zwischen solchen Gegnern, die einander die Legitimität absprachen, geführt wurden. In seiner Zeit war das ein Sonderfall, weil Kriege zwischen Staaten noch für legitim gehalten wurden. Seit den ersten Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts ist es nicht mehr so und dem entspricht, dass es längst überhaupt keine Kriege mehr gibt, die nicht mit grenzenloser Brutalität geführt würden. Die Revolution aber, wenn sie noch möglich sein soll, muss umgekehrt vollkommen legitim sein und muss auch die Legitimität des Gegners immer anerkennen. Das ist auch möglich, anders als je zuvor, denn die Andere Gesellschaft ist keine Demokratie, die einen monarchischen Absolutismus ablöst, sondern setzt eine vorhandene Demokratie nur fort und „wagt“ mehr davon, ergänzt sie revolutionär.
Zum Thema Hemmungslosigkeit der Revolution als Bürgerkrieg sei ein weiterer Gesichtspunkt angemerkt. Bei Clausewitz kann man lesen, das militärische Ziel eines Krieges, zu unterscheiden vom politischen Ziel, sei die Wehrlosmachung des Feindes. Allgemein spricht er von dessen „Vernichtung“, das bedeutet aber nicht von vornherein die Tötung, sondern kann sie nur bedeuten. Auf jeden Fall wird er wehrlos gemacht, etwa indem man ihn entwaffnet. So wurden Deutschland von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs militärische Flugkörper verboten. Das Ziel Wehrlosmachung hat schon immer bestanden: Aus der Frühzeit des Vorderen Orients hören wir, dass ganze Armeen geblendet nach Hause geschickt wurden, mit Einäugigen als Führern, und von Deportationen ganzer Bevölkerungen, die dann oft auch zur Arbeit eingesetzt wurden. Die antike Sklavenhaltergesellschaft ist davon nur die Fortsetzung. Doch was bedeutet Wehrlosmachung im 19. und 20. Jahrhundert, wenn es um revolutionäre oder auch konterrevolutionäre Kräfte geht, die vom Gegner besiegt werden? Ihnen Waffen abzunehmen nützt nichts, da sie sich immer wieder welche beschaffen werden. Ja, der große Unterschied zu den Streitkräften eines gegnerischen Staates liegt darin, dass sie gar nicht primär durch ihre Waffen gefährlich sind, sondern durch ihr revolutionäres beziehungsweise konterrevolutionäres Denken und agitatorisches, propagandistisches Handeln.
Man scheint sie daher nur durch Vernichtung im Sinn des Tötens wehrlos machen zu können. Dies ist aber nicht revolutionär; hier zwischen revolutionärem und konterrevolutionärem Wehrlosmachen zu unterscheiden, macht gar keinen Sinn. Die Schlussfolgerung ist, dass die Andere Gesellschaft ihre Nachhaltigkeit erlangen muss, o h n e ihre verbleibenden Gegner wehrlos machen zu wollen. Es ist auch eigentlich nicht zu sehen, warum das nicht gelingen soll. Wenn Ewiggestrige agitieren und Propaganda machen, warum soll eine aufmerksame revolutionäre Gesellschaft sie nicht diskursiv besiegen können? Bewaffnen dürfen sie sich freilich nicht, das wird die Polizei zu verhindern wissen.
Clausewitz‘ Angaben, was geschehen muss, damit die pure Kriegslogik gedämpft wird, sind auch für uns noch richtig. Wir übersetzen sie gleich in die Frage, wann es nicht zum revolutionären Bürgerkrieg kommt: Die Revolution darf, mit Clausewitz,
1. kein „ganz isolierter Akt“ sein, „der urplötzlich entstünde und nicht mit dem frühern Staatsleben zusammenhinge“;
2. nicht „aus einer einzigen, oder aus einer Reihe gleichzeitiger Entscheidungen“ bestehen;
3. überhaupt darf er nicht bereits a l s Krieg „eine in sich vollendete Entscheidung“ enthalten, vielmehr muss „der politische Zustand welcher ihm folgen wird, durch den Kalkül schon auf ihn zurückwirk[en]“ (a.a.O., S. 21).
Punkt eins ist in internationaler Hinsicht nicht weniger wichtig als in nationaler / regionaler. Von Anfang an müssen die Revolutionäre in anderen Staaten für ihre Sache Verständnis suchen und darlegen, dass internationales Recht gewahrt wird. In der eigenen Gesellschaft brauchen keine Maßnahmen angekündigt oder später durchgeführt werden, die gegen geltende Rechtssetzungsregeln verstießen. Wichtig ist auch, dass die Schritte der diskursiven Auseinandersetzung, mit denen die Revolution beginnt, konsequent, nachvollziehbar und eher ruhig als hektisch aufeinanderfolgen. Denn sie sind doch etwas wie eine Eskalation, die immer auch Aggression weckt, auch wenn „nur“ die immer grundsätzlicheren Konfusionsauflösungen eskalieren. Zum zweiten Punkt sagt Clausewitz noch, dass wenn der Krieg ein einziger Schlag wäre, sich „ein Versäumnis […] auf keine Weise wieder einbringen ließe“ (S. 22) – was uns darauf stößt, dass jedenfalls die „Urwahlen“, mit denen die Andere Gesellschaft beginnt, ein solcher einziger Schlag unvermeidlich sind. Sie können deshalb erst angesetzt werden, wenn ihr Erfolg unbedingt absehbar ist.
Punkt drei, die Rückwirkung des angestrebten politischen Zustands, ist in unserer Revolution gegeben und ihr vor allem muss es gelingen, die mit der Eskalation verbundenen Gefahren im Zaum zu halten, weil es sich ja um einen Zustand von Demokratie und Freiheit handelt, der, wie gesagt, dem vorhandenen Zustand im Wesentlichen eher etwas hinzufügt als wegnimmt. Politisch gilt dies ohne Einschränkung: Dem Parlamentarismus wird ein besonderer ökonomischer Gesetzgebungsgang nur hinzugefügt. Ökonomisch allerdings wird das Kapital aus dem Spiel genommen und da besteht die Eskalationsgefahr. In diesem Zusammenhang gibt Clausewitz noch einen wichtigen Hinweis: „Der politische Zweck wird als Maß umso mehr vorherrschen und selbst entscheiden, je gleichgültiger sich die Massen verhalten, je geringer die Spannungen sind, die auch außerdem in beiden Staaten und ihren Verhältnissen sich finden, und so gibt es Fälle, wo er fast allein entscheidet.“ (S. 26) Spannungen, d i e a u ß e r d e m s i c h f i n d e n – eine wichtige Kategorie. Sie können vor der Revolution gezielt abgebaut werden. Wie wir sehen werden, gehört hierhin etwa das nur „oppositionelle“ statt mutwillig aggressive Verhalten der Revolutionäre zu a l l e n Parteien des Verfassungsbogens.
Dass Clausewitz als Beendigung des Krieges noch der Friedensschluss gilt, den der Verlierer durch Zugeständnisse erkauft (S. 44), ist weniger trivial als es scheint. Denn die Revolution der Anderen Gesellschaft wird wirklich in gewisser Weise durch Zugeständnisse beendet, und zwar sogar von beiden Seiten. Das ist ein starker Grund, weshalb die revolutionäre Eskalation wünschenswert gehemmt sein könnte: Die Unternehmer, kann man sagen, machen das Zugeständnis, nicht mehr kapitalistisch zu sein, die Revolutionäre, nicht mehr das Unternehmersein anzugreifen. Letzteres Zugeständnis gilt freilich nur abgeschwächt, da die Revolution auch zur Übernahme der Aktiengesellschaften durch deren Beschäftigte führt, auch in anderen Unternehmen endlich Arbeiterrechte gelten, die den Namen verdienen, und die genossenschaftliche Unternehmensform gefördert wird.
Manches, was Clausewitz schreibt, steht zur Revolution völlig quer. Etwa dass keine Eroberung schnell genug vollendet sein könne – sei man überhaupt zum Erobern stark genug, müsse es in einem Zug geschehen (S. 347) -: Das kommt der Revolution als „Handstreich“, die eigentlich nur ein Staatsstreich ist, entgegen, im Allgemeinen und besonders für unsere Revolution gilt aber, dass sie der Logik des Fragens und Antwortens folgt. Die hat ihre eigensinnige „Zeit zum Begreifen“ und lässt keine mutwillige Beschleunigung zu. Sowohl auf die Antwort als auch vorher auf die Frage, die aus vorausgegangenen Antworten entspringt, muss man warten. Selbst die Urwahlen zur Anderen Gesellschaft können nicht handstreichartig angesetzt werden. Es wäre sehr kurzsichtig, etwa das Zeitfenster einer ökologischen Katastrophe zu „nutzen“, die vorübergeht (oder es in den Augen von Menschen, die nur das Auffälligste sehen, zu tun scheint), um eine große gesellschaftliche Mehrheit beim Schopf zu packen, die dann vielleicht ebenfalls vorübergeht. Die Urwahlen können vielmehr erst angesetzt werden, wenn man aus guten Gründen annehmen kann, dass eine n a c h h a l t i g e Mehrheit bereit ist, diesen entscheidenden revolutionären Schritt zu tun. Bei all dem darf freilich nicht vergessen werden, dass d e r G e g n e r – jener, der immer entschlossen ist, es zu bleiben – immer wieder „so schnell als möglich handeln“ wird. Denn wie Konfusionsauflösung, Fragen und Antworten, Zeit braucht, braucht Konfusions e r z e u g u n g Schnelligkeit, damit kein Nachdenken möglich ist.
Zuletzt fasst Clausewitz zusammen: „Der Krieg ist „zusammengesetzt aus der ursprünglichen Gewaltsamkeit seines Elements, dem Haß und der Feindschaft, die wie ein b l i n d e r N a t u r t r i e b anzusehen sind, aus dem Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls, die ihn zu einer f r e i e n S e e l e n t ä t i g k e i t machen, und aus der untergeordneten Natur eines politischen Werkzeugs, wodurch er d e m b l o ß e n V e r s t a n d e anheim fällt. Die erste dieser drei Seiten ist mehr dem Volke, die zweite mehr dem Feldherrn und seinem Heer, die dritte mehr der Regierung zugewendet. […] Diese drei Tendenzen […] sind […] zugleich von veränderlicher Größe.“ (S. 40) Es sind wichtige Sätze für uns, weil sie ganz offensichtlich Antonio Gramscis Theorie der revolutionären Partei beeinflusst, ja ihr die Struktur vorgegeben haben.
Gramsci hat dasselbe Schema. Den „blinden Naturtrieb“ oder anders gesagt die Leidenschaft ordnet er als „Geist der Spaltung“ der Parteibasis zu. Er tut es allerdings kritisch, denn die Formulierung rührt von Georges Sorel her, auf den sich auch Mussolini bezieht, und wird nur als Ausgangspunkt akzeptiert: Die Partei soll den Spaltungsgeist disziplinieren und zur Intellektualität formen. Die „freie Seelentätigkeit“ begründet statt eines Offizierscorps samt Generalstab die mittlere Parteiebene der Funktionäre. Was aber für Clausewitz die Regierung ist, die sich des Heeres und Feldherrn nur bedient, ist bei Gramsci die Parteiführung und ist das zweifellos interessanteste Element seiner Theorie. Denn hier wird der Kriegsvergleich kritisch. Die Parteiführung hält dem Vergleich mit einer leitenden Staatspolitik leider gar nicht stand, aus zwei Gründen: Erstens können sich verschiedene Parteiführer nicht einigen und zur kohärenten Gruppe zusammenschließen, zweitens wird diese Gruppe vom Gegner – nur der Gegner ist ein kriegsfähiger Staat – zerschlagen und liquidiert. Gramsci bestätigt, was wir sahen: Sie könnte anders nicht wehrlos gemacht werden, was das Ziel des Bürgerkriegsgegners sein muss. Wenn die Partei vernichtet ist, sagt Gramsci, ihre Führungsgruppe aber bestehen bleibt, kann sie ja leicht eine neue Partei um sich sammeln.
Der italienische Kommunist hatte beide Dilemmata erlebt. Natürlich postuliert er nun, das Gegenteil solle geschehen: unverbrüchliche Einheit der Führung und für den Fall, dass sie zerschlagen wird, die vorsorgliche Nachfolgeregelung. Auch Lenin hatte beides erlebt. Sein Aufruf, den Aufstand zu beginnen, wurde von allen anderen Parteiführern zurückgewiesen; hätte sich ihm nicht Trotzki angeschlossen, der bis dahin kein Bolschewik gewesen war, wäre der Aufstand nicht zustande gekommen und hätte die „Oktoberrevolution“ nicht gesiegt. Kurz vorher war Lenin von der zaristischen Konterrevolution gejagt worden, konnte sich ihr allerdings entziehen, indem er nach Finnland floh. Gar nicht viel älter als Trotzki und Stalin, starb er dann vor diesen, die zur Zusammenarbeit vollkommen unfähig waren. Und auch Lenin konnte nicht mehr tun, als das Gegenteil zu postulieren. Er tat es in seinem politischen Testament, das für Stalin peinlich war, diesen Mann aber nicht aufhalten konnte, der Trotzki schließlich ermorden ließ.
Wie nimmt sich Gramscis Parteientheorie aus, wenn wir sie in unsere Metropolen-Gegenwart übersetzen? Den „Geist der Spaltung“ verstehen wir sicher nicht falsch, wenn wir ihn als Geist des Behauptungsspiels lesen: Menschen, die zuvor ideologisch eingemeindet waren, werden von ihm erfasst und dadurch zu Gegnern – den falschen Behauptungen der Kapitalisten stehen endlich die richtigen der Antikapitalisten gegenüber. So wird noch heute meistens die Abnabelung verlaufen, doch wollen wir dabei nicht stehenbleiben: Angelangt in der Spaltung, müssten die Menschen zu einer solchen Intellektualisierung bereit sein, die vom Behauptungs- zum Fragespiel überleitet, weil das, wie im Abschnitt „Axiome“ dargelegt, die Konsequenz der Verabschiedung des militärischen Paradigmas im revolutionären Denken und Handeln ist. Gegner zu sich herüberziehen setzt E n t -Spaltung voraus. Gramsci kann so noch nicht formulieren, vieles deutet aber darauf hin, dass er selbst viel eher im Frage- als im Behauptungsspiel denkt.
Weiter, so etwas wie Funktionäre wird es nicht mehr geben, dafür jedoch „Aktivisten“ (zu diesem Begriff vgl. Verf. / Thomas Seibert, alle zusammen. jede für sich. die demokratie der plätze, Hamburg 2012, S. 10 ff.), was auch schon zu Gramscis dritter Ebene überleitet: Anstelle der einen Führungsgruppe, die so unersetzlich ist und doch zerschlagen wird, gibt es in unserer Revolution viele Gruppen, die aus Aktivisten bestehen. So etwas wie eine Parteibasis steht ihnen nicht gegenüber, weil vielmehr die ganze Bevölkerung der Partner ist, den sie ins Gespräch ziehen wollen. Würde eine der Gruppen zerschlagen, wären noch die anderen da. Aber es ist gar nicht so wahrscheinlich, dass sie zerschlagen werden, weil wir ja nicht Al Qaida sind, sondern überzeugte Demokraten, die alles, was sie tun, in der Öffentlichkeit tun. Das größere Problem dürfte im nachhaltigen Zusammenschluss solcher Gruppen liegen. Übrigens werden auch revolutionäre Parlamentsparteien gebraucht, wie ich später begründe. Denen ist aber nicht etwa „die Leitung der Revolution“ aufgegeben. Ich erörtere die Fragen der revolutionären Gruppen und Parteien ausführlich im Abschnitt Das revolutionäre Subjekt.