Mit dem, was Clausewitz zur Bedeutung der feindlichen Hauptstadt im Kriegsplan zu sagen hat, will ich zu Lenins Adaption seiner Theorie überleiten. Zwar haben, soweit ich mich erinnere, weder Lenin noch Mao zu diesem Punkt theoretische Überlegungen angestellt, doch liegt seine faktische Bedeutung für beide auf der Hand, war doch der revolutionäre Sieg der Bolschewiki erlangt, als sie die russischen Hauptstädte unter ihre Kontrolle gebracht hatten. In der maoistischen Version stand die Eroberung der Hauptstadt am Ende des Guerillakriegs, mit dem sich Clausewitz in einem eigenen Kapitel beschäftigt. Noch im Vietnamkrieg, der mit dem Einzug des Vietkong in Saigon endet, bewährte sich das Konzept. Der Unterschied zum puren Krieg wird besonders am russischen Beispiel deutlich, dass nämlich die Hauptstädte nicht nur feindlich, sondern in Feind und Freund, zaristische Autokratie und revolutionsbereite Arbeiterklasse, schon selber gespalten waren; es kam wie gesagt hinzu, dass die Autokratie sich durch Bauern-Soldaten verteidigen musste, die zur Revolution überliefen und sie dadurch entschieden. Der revolutionäre Sieg bestand darin, dass die Hauptstädte sich selbst zu Fall brachten.
Bei Clausewitz lesen wir, „dass […] folgende Umstände die Niederwerfung des Gegners hauptsächlich ausmachen:
1. Zertrümmerung seines Heeres, wenn es einigermaßen eine Potenz bildet.
2. Einnahme der feindlichen Hauptstadt, wenn sie nicht bloß der Mittelpunkt der Staatsgewalten, sondern auch der Sitz politischer Körper und Parteiungen ist.
3. Ein wirksamer Stoß gegen den hauptsächlichen Bundesgenossen, wenn dieser an sich bedeutender ist als der Gegner.“ (Vom Kriege, in: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte [Hg. Reinhard Stumpf], Frankfurt/M. 1993, S. 343)
Da wir uns nicht militärisch sondern nur als politische Kraft auf die Revolution der Anderen Gesellschaft vorbereiten, werden wir keine „Armee“ mehr zur „Einnahme“ der Hauptstadt aufbauen wollen. Das Thema Hauptstadt als solches lassen wir aber darum nicht fallen, sondern übersetzen es ins Diskursive. Dies ist bei Clausewitz sogar schon angelegt, betont er doch, dass die Hauptstadt nur dann ein kriegsentscheidender Faktor ist, wenn dort die „politische[n] Körper und Parteiungen“ wirken. Wir gehen noch weiter: Das Politische und Parteiliche zentralisiert sich gar nicht in einem physischen Ort oder tut es nur in einem sehr äußerlichen Sinn – was aber nicht bedeutet, dass es kein Zentrum gibt. Es kommt darauf an, das Z e n t r a l p r i n z i p d e r D i s k u r s e , von denen die vorhandene Gesellschaft stabilisiert wird, zu finden und zu ergreifen, ganz wie man den Resonanzpunkt einer Brücke berührt und sie so zum Einsturz bringt. Das wäre die „Einnahme der Hauptstadt“, mag sie auch physisch zerstreut sein. Das unendliche Streben des Kapitals ist diese Hauptstadt. Sobald es v o n d e r g a n z e n Ö f f e n t l i c h k e i t als Kern der Produktionsweise, verheerendes Problem u n d als K a p i t a l d e f i n i t i o n erkannt ist, ist die „Hauptstadt“ revolutionär besetzt und steht vor dem Fall. Darauf also müssen Revolutionäre hinarbeiten. Die Sache hat noch den besonderen Witz, dass der Gegner seine eigene Hauptstadt gar nicht kennt. Erst wenn sie zu fallen beginnt, wird er begreifen und dann freilich noch sein „Heer“ dorthin umzudirigieren versuchen.
Was sein „Heer“ ist, Heer von Diskurssoldaten, weiß er natürlich wohl. Es wird aber schrumpfen und sich teilweise zersetzen, wenn das Prinzip offenbar wird, durch das es sich zusammenhält. Denn dieser Zusammenhalt ist eine Konfusion. Konfusionen halten etwas nicht länger zusammen, als wie sie verborgen bleiben. Indem wir die Sache so aufrollen, wird deutlich, dass die Revolutionäre nicht etwa auf die „Zertrümmerung“, wie es bei Clausewitz heißt, des gegnerischen „Heeres“ hinarbeiten. Sondern auf dessen Auflösung. Erst wenn sich der harte Kern derer herausgebildet hat, die gegen die Auflösung – es ist ja die des Rätsels, das sie sie selbst für sich selbst darstellen – sich immunisieren, steht die Frage der Auseinandersetzung noch einmal neu. Das heißt nicht, dass wir sie dann erst beantworten, wohl aber dass wir uns der Reihenfolge bewusst sind: Sollte es zum Gewaltwiderstand kommen, muss v o r h e r die diskursive Auseinandersetzung gewonnen sein. Nur dann macht es Sinn, dass Revolutionäre die Andere Gesellschaft ausrufen. Dass sie schon vorher Regierungen bilden können und sollen, werden wir sehen. Gibt es aber nach den „Urwahlen“ noch Widerstand, ist er kaum noch so gefährlich, wie es einer gegen eine Regierung wäre, die nicht auf der ganzen Linie überzeugt hat.
Natürlich erkennen wir etwas davon in den Stadien der russischen Revolution wieder. Indem die St. Petersburger Bauernsoldaten zur Revolution überliefen, löste sich der Diskurs auf, der sie an den Zaren gebunden hatte. Das war die Februarrevolution. Wenig später musste sich aber eine bolschewistische Armee der militärischen Gegenoffensive der „Weißen“ erwehren. Dies hing natürlich auch damit zusammen, dass den Bolschewiki die Legitimität fehlte – nicht nur die vom Gegner anerkannte, sondern eigentlich auch die selbstdefinierte -, nachdem sie die Konstituante auseinandergejagt hatten. Die Bolschewiki hatten die diskursive Auseinandersetzung nur in den physischen Hauptstädten gewonnen, nicht aber schon im ganzen Land. Sie ergriffen die Macht, o h n e die d i s k u r s i v e Hauptstadt ganz Russlands besetzt zu haben. Das hatte nun eben militärische Folgen. Auch mit ihnen wurden die Bolschewiki fertig, aber wie ist es zu bewerten? Ein militärisches Postscriptum hätte die Revolution in jedem Fall gehabt. Das kapitalistische Ausland hätte sich eingemischt und so weiter. Aber so massiv wäre es vielleicht nicht ausgefallen, wenn die Revolutionsregierung über mehr Legitimation hätte verfügen können. Wiederum will ich auf diese Diagnose kein Urteil über diese Regierung stützen. Es soll nur gesagt werden, dass die Revolution der Anderen Gesellschaft eine „Machtergreifung“ vor dem vollen Diskurssieg, der eindeutigen gesamtgesellschaftlichen Legitimation nicht kennt. Wobei deren zwei Seiten zusammenzusehen und auch zu unterscheiden sind: Legitimität artikuliert sich als überwältigende Mehrheit für die gesellschaftliche Neugründung; diese Mehrheit ist bedingt und wird getragen vom vollen Diskurssieg.
Dann bleibt aber noch Clausewitz‘ dritter Punkt: der „hauptsächliche Bundesgenosse“, der womöglich „bedeutsamer ist als der Gegner“. Der Gegner ist das Kapital, dessen Hauptverbündeter war in Chile das Pinochet-Militär. Im Hintergrund zog die CIA die Fäden. Einen „wirksamen Stoß“ gegen es zu führen, war der Regierung Allende gar nicht möglich, und auch anderen – den chilenischen Trotzkisten, die vorher gewarnt hatten – wäre er nicht gelungen. Hierzu ist aber zweierlei zu sagen. Erstens war auch die Regierung Allende nicht hinreichend legitimiert, dazu jedenfalls nicht, revolutionäre Politik zu machen. Diese Feststellung hat damals Enrico Berlinguer getroffen, der Vorsitzende der Italienischen Kommunistischen Partei: Eine Revolution kann sich nicht auf einen Wahlsieg von „51 Prozent“ stützen, denn diese Zahl bedeutet weiter nichts, als dass die Bevölkerung im Verhältnis fifty-fifty gespalten ist, was gerade die K o n t e r r e v o l u t i o n charakterisiert. Tatsächlich war Allende sogar nur mit 36,3 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt worden. Der konservative Gegenkandidat hatte 34,9, der christdemokratische 27,9 Prozent erlangt. Und nur weil dann die Entscheidung beim chilenischen Parlament lag, das gewohnt war, den Kandidaten zu unterstützen, der die relative Mehrheit erlangt hatte, fanden sich auch die Christdemokraten zur Wahl Allendes bereit. Nur so hatte er Präsident werden können. Er war ein Minderheitspräsident. Als drei Jahre später Parlamentswahlen abgehalten wurden, konnte er Präsident nur bleiben, weil die gegnerischen Parteien keine Zweidrittelmehrheit gegen ihn zustande brachten. Seine eigene, die Unidad Popolar, konnte zwar ihren Stimmenanteil wesentlich steigern, aber doch nur auf 44 Prozent.
Der Weg, einen Militärputsch wie in Chile zu verhindern, kann nicht darin bestehen, dass die Revolutionäre ihrerseits vorher oder nachher militärisch putschen. Das ist, wie gesagt, überhaupt nicht möglich. Die chilenischen Trotzkisten hatten richtig auf ein Problem verwiesen – anders als die Moskaupartei, die nicht müde wurde, den friedlichen Charakter der Pinochet-Armee zu beschwören -, doch ihr militärischer Lösungsgedanke war illusionär. Es gibt nur stattdessen den Weg, den Berlinguer skizzierte: dass die Revolutionäre die überwältigende gesellschaftliche Mehrheit erlangen.
Zweitens hat es eine Revolution, die sich auf eine überwältigende Mehrheit stützt – wie es Marx vorschwebte: „hier handelt es sich um die Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse“ (MEW 23, S. 791) -, dann auch mit einem anderen Militär zu tun. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass eine Armee zwar d e r „ B u n d e s g e n o s s e “ des Kapitals sein kann, nie aber d i e s e s s e l b e r ist. Das bedeutet, sie wird ihrerseits von einem Diskurs stabilisiert, und die Frage ist, von welchem. Sie bildet selber e i n e P a r t e i – aber welche Partei? Und in welchem P a r t e i e n s y s t e m ? Wenn es eines ist, in dem sich große Parteien wie Kriegsfeinde behandeln, wird das Militär freilich zur großen Gefahr. Oder wird zum Retter wie heute in Ägypten, wo es eine säkularistische Minderheits- statt islamistische Mehrheitspartei bildet. Die Frage, welche Schlussfolgerung wir für die Revolution der Anderen Gesellschaft ziehen, heben wir uns für später auf, hier muss aber noch vom zweiten „hauptsächlichen Bundesgenossen“, den das Kapital haben kann, die Rede sein, vom Faschismus nämlich. Das Wesentliche lässt sich kurz sagen: Alle faschistischen Bewegungen, die es bisher gegeben hat, waren nur deshalb gefährlich, weil sie neben einem Militär agierten, das mit ihnen sympathisierte.
Es sei hier Lenins Bestimmung der revolutionären Situation angeschlossen. Er nahm nicht an, sie planmäßig herbeiführen zu können; sie sollte vorbereitet werden, dann aber musste man sie abwarten. Die Frage war, woran man erkannte, dass sie begonnen hatte. Hat er da nicht ganz anders gedacht und denken müssen als ein Kriegsstratege? Denn der ist weit entfernt, die Situation der Haupt- und Entscheidungsschlacht so hinzunehmen, wie sie von selbst entsteht oder der Feind sie gestaltet. Und doch kann Lenins Bestimmung am Kriegsvorbild gemessen werden: Sie ist eine Modifikation dessen, was man bei Clausewitz liest. Es wird dort der Unterschied von Angriff und Verteidigung erörtert. Wer angreift, wird Raum und Zeit seiner Operation allerdings vorausplanen, soweit es möglich ist. Wer aber verteidigt, muss den Angriff abwarten und zugleich auf ihn vorbereitet sein. Clausewitz vertrat nun die sehr umstrittene Ansicht, dass die Verteidigung stärker als der Angriff sei, weil sie sich immerzu vorbereiten könne, während Angriffe in schmalen Zeitfenstern stattfänden. Jeder Zeitpunkt, zu dem kein Angriff erfolge, sei ein Vorteil der Verteidigung, die sich inzwischen stärke. Das ist in der Tat kaum plausibel, denn es kann auf beiden Seiten ein Wettrüsten geben, da wird die Seite siegen, die das größere Waffenarsenal aufbaut. Vielleicht kann aber doch gesagt werden, dass bei gleichgroßen Kräften der Angriff eher unterbleiben wird.
Das Interessante ist nun, dass der Staat als mögliches Gegenüber eines i n n e r e n Angriffs, eben eines Aufstands, einer Revolution, tatsächlich den permanenten Verteidiger macht und als solcher allerdings viel stärker ist als der potentelle revolutionäre Angreifer. Der fragt sich nun dennoch, wie er siegen kann. Wenn er es sich fragt, kann er Clausewitz‘ Perspektive umkehren, wie Lenin das tut: Wie die Verteidigung abwartet, wann der Angriff erfolgt, und auf ihn vorbereitet ist, so wartet der Angriff umgekehrt ab, wann die Verteidigung n i c h t erfolgt, und bereitet sich d a r a u f vor. Denn es liegt nicht in der Hand dieser Verteidiger, ihr Postulat der Verteidigung in Permanenz, das sie zwar aufstellen, unter allen Umständen auch zu befolgen. Natürlich gilt für den Angriff die analoge Einschränkung. So mögen die Kräfte fehlen, gerade wenn der Angriff erfolgversprechend sein könnte. Aber Lenin hat das berücksichtigt. Er formuliert zwei Kriterienkataloge, die jeweils drei Punkte umfassen. Der erste fragt nach „Merkmalen“ des Schwachwerdens der Verteidigung, der zweite nach dem „subjektiven Faktor“, womit die „Hauptmomente“ gemeint sind, die dem Angriff nicht fehlen dürfen, damit es im entscheidenden Augenblick zu ihm kommt.
Wir werden auch diese Kataloge danach prüfen, ob und wie sie in unsere Zeit und Metropolen-Situation übersetzt werden können. Von vorherein ist klar, dass es eine g r u n d s ä t z l i c h e Übereinstimmung nicht geben kann. Denn Lenin lehrt die Z e r s c h l a g u n g des bürgerlichen Staates und E r s e t z u n g durch einen anderen, den proletarischen (Übergangs-) Staat. Das ist erneut ein typisches Kriegsziel. So haben die Alliierten des Zweiten Weltkriegs gut getan, den deutschen NS-Staat und auch den preußischen Staat zu zerschlagen, wobei ihnen Letzteres nur teilweise gelungen ist. Die Revolutionäre der Anderen Gesellschaft können so ein Ziel aber nicht haben. Sie wollen den Staat durch das Institut der Proportionswahl e r g ä n z e n , im Übrigen auch teilweise u m b a u e n – indem sie zum Beispiel das Parlament von seiner kapitalistische Struktur, dem Zwei-Parteienlager-System, befreien und indem sie die Medien auf Ermöglichung einer d e m o k r a t i s c h e n Willensbildung festlegen -, doch betrachten sie seine Hauptstrukturen wie eben den Parlamentarismus, überhaupt die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit als Errungenschaften, auf die sie selber sich stützen. Es gehört ja zu ihren wichtigsten Aufgaben, von denen auch der eigene revolutionäre Erfolg abhängt, diese Strukturen vor der Zerstörung durch den Faschismus zu bewahren.
Lenins das „Objektive“ der revolutionären Situation betreffender Kriterienkatalog (LW 21, S. 206 f.) beginnt so: „1. Für die herrschenden Klassen ist es unmöglich, ihre Herrschaft unverändert aufrechtzuerhalten; die eine oder andere Krise der ‚oberen Schichten‘, eine Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riss entstehen lässt, durch den sich die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen Bahn bricht. Damit es zur Revolution kommt, genügt es in der Regel nicht, dass die ‚unteren Schichten‘ in der alten Weise ‚nicht leben wollen‘, es ist noch erforderlich, dass die ‚oberen Schichten‘ in der alten Weise ‚nicht leben können‘.“ Das war in der Tat schon der Französischen Revolution vorausgegangen. Wie etwa auch Goethe bemerkt, hatte sich das Ancien Régime durch die „Halsbandaffäre“ der Königin Marie Antoinette wenige Jahre vor 1789 gründlich blamiert und hegemonial geschwächt. Schwerer wog, dass es mit der Sanierung der Staatsfinanzen nicht zurande kam. Das war der „Riss“: Die Stände mussten einberufen werden und standen von Anfang an unter dem Druck des Pariser Volkes, bald auch des Landvolks.
Um den „Riss“ aber allgemein zu formulieren – so, dass er n i c h t s c h o n p e r s e einer im Frieden ist, ein Dammbruch, durch den der Bürgerkrieg einströmt -, will ich auch ihm eine rein diskursive Fassung geben: Ohnehin haben die Revolutionäre versucht, die zentrale Konfusion aufzudecken, ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu heben und diskursiv aufzulösen, die den Diskurs des kapitalistischen Machtblocks zusammenhält – das war unsere Übersetzung der Rolle der „Hauptstadt“ im Krieg -; es reicht aber nicht, dass d i e R e v o l u t i o n ä r e sie auflösen, das heißt vom Auflösen sprechen, und die allermeisten es nach und nach begreifen, sondern s i e s e l b s t muss sich aufzulösen beginnen, an e i n e r Stelle zunächst nur, die aber weithin sichtbar und von symbolischer Aussagekraft ist. So einen „Riss“ in der „Hauptstadt“ müssen Revolutionäre allerdings abwarten, egal ob sie auf den Krieg hinarbeiten oder ihn wie wir verhindern wollen. In der Kriegsterminologie bezeichnet er jenen Augenblick, wo es der Verteidigung nicht mehr gelingt, ihre Permanenz aufrechtzuerhalten, und also der Angriff erfolgen kann. In u n s e r e r Verallgemeinerung halten wir fest, dass wohl jetzt erst eine große gesellschaftliche Mehrheit bereit ist, den gesellschaftlichen Neugründungsschritt zu tun – jetzt, wo der „Riss“ das Recht der revolutionären Aufklärung, die bisher schon überzeugend war, zudem auch noch anschaulich gemacht hat. Wir haben es hier, in Lenins Worten, mit einem „besonderen W e n d e p u n k t der Ereignisse“ zu tun (LW 31, S. 84), der seine Frage beantwortet, wie es gelingen kann, „die Form des Ü b e r g e h e n s zur proletarischen Revolution oder des H e r a n g e h e n s an sie ausfindig zu machen“ (a.a.O., S. 79).
Die weiteren „Merkmale einer revolutionären Situation“ fasst er knapper: „2. Die Not und das Elend der unterdrückten Klassen verschärfen sich über das gewöhnliche Maß hinaus. 3. Infolge der erwähnten Ursachen steigert sich erheblich die Aktivität der Massen […].“ Was 2. angeht, haben wir schon gesagt, dass es in den Metropolen mehr auf „die Not und das Elend“ der Sinnlosigkeit des Lebens ankommt als auf eine des Mangels an Lebensmitteln. Dass jedenfalls verschärfte Not auch in einer Gesellschaft wie der deutschen einen Schub bewirkt, haben wir nach der Katastrophe von Fukushima gesehen: Von einem Tag zum andern stieg der Stimmenanteil der Grünen von etwa zehn auf etwa 25 Prozent. Dies konnte aber natürlich kein nachhaltiges Ereignis sein, schon weil die Grünen als Partei immer wieder versagen, vor allem aber weil weder die zentrale Konfusion des kapitalistischen Machtblocks berührt war noch das zentrale Elend, das nicht bloß ökologischen sondern nihilistischen Charakter hat.
Lenins dritter Punkt leitet zu seinem anderen Kriterienkatalog über, der den „subjektiven Faktor“ betrifft, denn bei „gesteigerter Aktivität der Massen“ stellt sich die Frage, wohin sie sich denn wendet und ob es eine Kraft gibt, die sie vernünftig orientieren kann. In unsere Metropolen-Verhältnisse übersetzt, geht es, wie gesehen, nicht zuletzt um das Problem, dass sie, entstanden aus der nihilistischen Erfahrung, womöglich weithin faschistische Züge trägt. Und tatsächlich läuft der andere Katalog, Lenins „drei Hauptmomente“ des Angriffs (LW 31, S. 72), auf die Rolle der revolutionären Leitung hinaus. Er läuft auch wieder auf den Krieg hinaus: Erstens, die Mehrheit der Arbeiter muss die Notwendigkeit des Umsturzes völlig eingesehen haben, ja bereit sein, „seinetwegen in den Tod zu gehen“ – mit andern Worten, sich als Kriegsarmee aufstellen zu lassen. Zweitens soll sie nicht allein handeln, sondern weitere Massenkräfte müssen bereit sein. Das ist eine andere Aussage, als wenn er gefordert hätte, nicht nur die Mehrheit der Arbeiter, sondern der ganzen Gesellschaft müsse zum Handeln bereit sein: Es geht nur darum, dass der Umsturz gelingt, nicht um dessen demokratischen Charakter. Drittens dann der Kernpunkt, die Notwendigkeit der revolutionären Kampfpartei. Wie wir die Kraft, die orientieren kann, ins Heutige übersetzen, soll uns erst am Ende dieser Aufzeichnungen beschäftigen. Klar ist jedenfalls, es muss eine geben: Die „Massen“ sind bereit, aber welcher Weg führt nun von der Bereitschaft, das Neue zu tun – die Andere Gesellschaft zu etablieren -, zu deren wirklicher Gründung?
Ein Rückblick auf die Französische Revolution ist hier geeignet, die Augen für das Problem, das sich stellt, zu schärfen. Man fragt sich, ob sie nicht auch friedlich hätte verlaufen können. Die Frage muss sicher verneint werden. Selbst wenn man vom Druck der Massen absieht, schon auf der Ebene der revolutionären Eliten standen all die Feudalgruppen quer, die zum Privilegienverzicht nicht bereit waren, und der König gehörte dazu. Doch gab es immerhin eine starke Gegentendenz: Unter den 575 Deputierten der Generalstände überwogen mit Abstand die Freimaurer. 477 waren Initiierte, darunter immerhin auch 90 Angehörige des Adels und nicht wenige Geistliche (Alexander Giese, Die Freimaurer. Eine Einführung, Wien Köln Weimar 4. erw. Aufl. 2005, S. 63; für den Klerus gibt er keine Zahl an). Hätten sich die Freimaurer in Allem durchsetzen können – was die geschichtliche Situation, wie gesagt, nicht hergab -, wäre ein friedlicher Verlauf der Revolution mindestens möglich gewesen. Denn in den Logen, die sich aus Bürgerlichen und Adligen zusammensetzten, war Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gerade über die Schranken der Ungleichheit hinweg gelehrt und praktisch eingeübt worden. Allerdings war unklar geblieben, ob die Schranken der Ungleichheit in der Konsequenz verschwinden sollten oder nicht. Es war immerhin wenigstens unklar geworden.
Eine weitere Äußerung Lenins sei noch zitiert. Seine Unterscheidung von Ursache und „Anlass“ des Aufstands ist wieder aus der Kriegsgeschichte vertraut: „Wenn die objektiven Voraussetzungen für eine tiefe politische Krise gegeben sind, dann können auch die kleinsten, vom wirklichen Herd der Revolution scheinbar weit weg liegenden Konflikte größte Bedeutung haben – als Anlass, als der Tropfen, der den Becher zum Überlaufen bringt.“ Das wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis genau der „Riss“, von dem die Rede war, zur zentralen Konfusion der noch herrschenden Macht steht. Ich komme darauf zurück. Jedenfalls, fährt Lenin fort, reiche das Vorhandensein der objektiven Bedingungen nicht aus, die subjektiven müssten dazukommen – weil „die alte Regierung […] niemals, nicht einmal in einer Krisenepoche ‚zu Fall kommt‘, wenn man sie nicht ‚zu Fall bringt‘“. (LW 21, S. 207) Der letzte Satz scheint nur deshalb banal, weil er sich auf eine „Regierung“ bezieht. Für Lenin konnte eben die Beendigung oder Verhinderung der Kapitalherrschaft gleichbedeutend sein mit dem Sturz der zaristischen Autokratie.
Wenn wir aber fragen, was es heute im Westen bedeuten würde, die Kapitalherrschaft „zu Fall zu bringen“, werden wir von Lenin sogleich auf eine bestimmte Fährte gesetzt – diejenige, die Nicos Poulantzas verfolgt hat. Denn Lenins a l l g e m e i n e r Gedanke geht ja dahin, dass der Ort des Falls der Kapitalherrschaft die „tiefe politische Krise“ ist, also dass man sie, wenn überhaupt, dann p o l i t i s c h und nicht etwa auf einer Ebene purer Ökonomie stürzt. Was aber ist die Politik des Kapitals in den führenden Ländern des Westens, zu denen Deutschland gehört? Wo findet man die politischen Institutionen des Kapitals? Oder hat sie gar keine, sondern besteht nur aus einzelnen Superreichen, die mit ihrem Geld das politische Geschäft kaufen? Nein, Poulantzas‘ plausible Antwort läuft darauf hinaus, dass die Kapital“fraktionen“ sich in Gestalt eines „Machtblocks“ zusammenhalten, dessen Organisation und überlebenswichtige Wahrung der Einheit den politischen Parteien obliegt (vgl. Verf., Machtblock und Parteien bei Poulantzas, in A. Demirovic / S. Adolphs / S. Karakayali [Hg.], Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas, Baden-Baden 2010, S. 241-257). Die Parteien setzen ihn ein, um sich von ihm beherrschen zu lassen. Dazu müssen sie aber ihrerseits hinreichend viel Einheit untereinander haben, wie ihnen das in normalen Zeiten, wo es also k e i n e „tiefe politische Krise“ gibt, auch gelingt. Das Konzept des parlamentarischen Zwei-Blöcke-Systems, von dem die Rede war, kann den Sachverhalt im Detail erhellen: Wenn die Parteien sich zwar bekämpfen, weil die Unterschiede viel zu stark sind, als dass alle gemeinsam die Regierung bilden könnten, es aber so tun, dass sie zwei Lager bilden, von denen jedes jedenfalls die Kapitalherrschaft nicht antastet, dann bilden sie gemeinsam wenn schon keine Regierung so doch den e i n e n kapitalistischen Machtblock.
In der tiefen Krise jedoch, so weiter Poulantzas, tritt die kommunistische Partei auf, die aus der Gemeinsamkeit ausschert. Außerdem verschärfen sich die Gegensätze zwischen den Kapital“fraktionen“; also gerade jetzt, wo die Parteien deren Vereinheitlichung besonders fördern müssten, fallen sie selber aus, weil sie sich untereinander verfeinden. Dies veranlasst die „Fraktionen“ oder die stärkste „Fraktion“ – die Komintern erklärte seinerzeit, Hitler agiere fürs Finanzkapital -, den Faschismus zu unterstützen und damit eine neue politische Form, die Ein-Parteien-Diktatur, die nun auch unter Krisenbedingungen die Einheit des „Machtblocks“ gewährleisten kann. Wie wir sahen, kann so eine Ein-Parteien-Diktatur auch vom Militär ausgeübt werden, das heißt vom Militär allein, denn auch wenn der Faschismus herrscht, ist das wie gesagt nur möglich, weil er in den entscheidenden Phasen der Machtergreifung von Militär unterstützt oder toleriert wurde.
Die Schlussfolgerung ist weiter unten mein Thema. Das Allgemeine habe ich gesagt: Es gibt keinen Faschismus, der nicht „von unten“ aus der nihilistischen Situation heraus entstünde, und kein demokratisches Militär wird ihn zulassen, es sei denn, sie sieht die Staatseinheit in Gefahr – was in den Metropolen heißt: die parlamentarische Demokratie -, und hält den Faschismus für deren Retter. Man wird es freilich absurd finden, dass dergleichen geglaubt werden könnte, doch sieht man ja nicht voraus, in welcher Gestalt der neue Faschismus auftritt, bevor er im Erfolgsfall die Macht ergreift und dann erst sein wahres Gesicht zeigt. Dem können aber die Revolutionäre entgegenwirken. Sie werden die Spannungen im Parteiensystem auch und gerade in der „tiefen politischen Krise“ nicht in der Weise verschärfen, dass sie sich grundsätzlich von allen anderen Parteien distanzieren – ja nicht einmal von den rechten, sofern sie sich, wie heute die Unionsparteien, im Verfassungsbogen halten -, sondern weiterhin wird ihre Polemik den Strukturen gelten, die das ganze System überlagern und kapitalistisch fremdbestimmen, ein System, dessen eingeschränkt demokratischen Charakter sie trotzdem weiter anerkennen. Bei solcher Politik der Revolutionäre wird keine rechte Partei des Verfassungsbogens, die man mutwillig ausgegrenzt hätte, zur Partei des Militärs werden, so dass dieses den Faschismus unterstützt.
Einige Bedingungen des Problems wären allerdings noch näher zu recherchieren. So kann man zwar im deutschen Fall beruhigt sein, dass alle Offiziere durch die demokratischen Bundeswehrhochschulen gesiebt werden, dem steht aber gegenüber, dass ein Heer aus Berufssoldaten vom revolutionären Standpunkt unberechenbarer ist als eins der allgemeinen Wehrpflicht. Wie wird geprüft, ob ein Bewerber – so § 37,2 des Soldatengesetzes – „Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt“?