Mit Lenins Theorie der revolutionären „Kette“ wollen wir den Überblick abschließen. Die in ihr enthaltenen Stratageme sind von einem bloß kriegerischen Blick auf die Revolution besonders weit entfernt. Wir werden sehen, „Kette“ und „Kettenglied“ verweisen zwar noch, ohne dass darauf hingewiesen wird, auf „Strategie“ und „Taktik“ und damit auf Kriegsbegriffe, doch ist es kein Zufall, dass diese Begriffe hier gänzlich beiseite bleiben und stattdessen nur im Bild der Kette gedacht wird. Das Bild verweist nämlich eher auf den Begriff der Methode als einer antizipierten, im wirklichen Verlauf dann umleitungsfähigen Frage-Antwort-Kette – und damit auf u n s e r Revolutionsverständnis. Letzteres soll im Folgenden deutlich werden, während ich die Erörterung des Verhältnisses der Fragespielbegriffe zur “Strategie und Taktik“ fürs vierte Kapitel aufspare. Lenins erste Äußerung zum Thema, 1902 in Was tun?, hat einen Anlass: Er verteidigt seine Zeitung Iskra gegen die Kritik des offiziellen Organs der damals noch geeinten russischen Sozialdemokratie, aus deren Spaltung wenig später die leninistischen Bolschewiki und die Menschewiki hervorgehen. Lenin wird vorgeworfen, die explizit politischen Themen der Iskra, die wie schon gesagt zum Sturz der zaristischen Autokratie aufruft, hätten in der Lebenssituation der Arbeiter, des revolutionären Subjekts, keinen Ansatzpunkt. Er bewege sich in einem „fehlerhaften Kreis“. Und dann bleibe nur übrig, dass er sich mit seiner Zeitung zum Herrscher über die Partei aufschwingen wolle. Darauf antwortet Lenin:
„ J e d e Frage ‚bewegt sich in einem fehlerhaften Kreis‘, denn das ganze politische Leben ist eine endlose K e t t e aus einer endlosen Reihe von Gliedern. Die ganze Kunst des Politikers besteht eben darin, gerade jenes kleine K e t t e n glied herauszufinden und ganz fest zu packen, das ihm am wenigsten aus der Hand geschlagen werden kann, das im gegebenen Augenblick am wichtigsten ist, das dem Besitzer dieses K e t t e n gliedes den Besitz der ganzen K e t t e am besten garantiert. Hätten wir einen Trupp erfahrener Maurer, die so gut aufeinander eingearbeitet sind, dass sie auch ohne Schnur die Steine gerade dort hinlegen könnten, wo es notwendig ist (das ist, abstrakt gesprochen, durchaus nicht unmöglich), dann könnten wir vielleicht auch nach einem anderen Kettenglied greifen. Aber das ist ja eben das Malheur, dass wir noch keine erfahrenen und gut aufeinander eingearbeiteten Maurer haben, dass die Steine ganz oft nutzlos gelegt werden, dass sie nicht nach einer gemeinsamen Schnur gelegt werden, sondern so verstreut, dass der Feind sie einfach fort bläst, als wären es nicht Steine, sondern Sandkörner.“ (LW 5, S. 521 f.)
Es ist nebenbei gesagt bezeichnend, dass man solche Äußerungen in den kommunistischen Lehrbüchern völlig aus dem Zusammenhang gerissen zitiert findet, als ob man sie dann noch begreifen könnte. Die Frage, auf die Lenin antwortet, wird nicht mitgenannt; das Zitat beginnt mit „einem fehlerhaften Kreis“, es könnte ebenso gut mit den Megalithen von Stonehenge beginnen. Und dass Lenin von der Ketten- zur Maurermetapher wechselt, ist ungefähr so verständlich, als würde der Orionnebel mit einer Analogie des Gassenhauers illustriert. Aus bösem Willen kann man das nicht erklären, es fehlt vielmehr an Grundbedingungen des Verstehenkönnens. Wer aber nicht verstehen, nicht denken kann, was wollte der uns, in Lehrbüchern gar, über die Revolution beibringen und auf den „sowjetischen Weg zum Sozialismus“ verpflichten?
Wenn man Lenins Äußerung im Zusammenhang liest, wird deutlich, dass die Maurermetapher d e r A u s g a n g s p u n k t ist, womit er übrigens einen seltsamen und natürlich ganz unbeabsichtigten Bogen zur Freimaurermetaphorik schlägt. Genauer gesagt ist die „Richtschnur“ der Ausgangspunkt. Das ist die Schnur, an der entlang die Mauersteine eingesetzt werden. Sie kann naheliegenderweise für die Orientierung der Revolutionäre stehen. Würde Lenin nun beanspruchen, seine Iskra habe die Richtschnur zu bieten, so wäre es plausibel, ihm einen Herrschaftsanspruch zu unterstellen – den er natürlich auch hat. Doch will er es bestreiten und argumentiert deshalb, eine Richtschnur gebe es ja leider gar nicht. Gäbe es sie, oder gäbe es erfahrene Maurer, die ohne sie auskämen, dann könnte einer irgendwo seinen Stein setzen, ohne befürchten zu müssen, er habe am Ende zu einer schiefen Mauer beigetragen, die einstürzen muss. Weil aber, so Lenin, beides nicht der Fall sei, müsse vielmehr jeder Stein der n ä c h s t e Stein sein, der an den letztgesetzten unmittelbar anschließe. Damit kommt es zum Sprung des Bildes: Der Nächstanschluss ohne Leitschnur ist das Kettenglied, das einen schon vorhandenen Kettenteil ergänzt und zwar so, dass die Kette nicht reißen kann. Wenn man weiter Glied an Glied reiht, wird die Gesamtkette bis zum revolutionären Sieg reichen. Kurzum, dafür, dass Lenin mit seiner Iskra das nächste Kettenglied richtig gesetzt habe, will er Zustimmung, doch es zu ergreifen, was habe das mit einem Führungsanspruch zu tun?
Das Argument hat nicht nur diese winkeladvokatorische Seite, sondern ist darin genial, dass es den Weg der Revolution als ordentlich methodischen darzustellen vermag, obwohl eingeräumt, ja davon ausgegangen wird, dass man gar nicht wissen kann, wie er weitergeht. Die Gesamtkette ist unbekannt, in diesem Sinn g i b t e s g a r k e i n e K e t t e und doch gibt sie den Revolutionären Halt, wenn man es nur richtig anstellt. Das Bild ist nicht weniger naheliegend als das von der Richtschnur der Maurer. Denn es entspricht dem Ausdruck „Bedingungskette“, und wenn es ihn, soweit ich informiert bin, im Russischen nicht gibt, m u s s Lenin geradezu ersatzweise die Metapher bilden. Ja, der revolutionäre Sieg wird erst, mit Hegel zu sprechen, in die Existenz treten, wenn all seine Bedingungen gegeben sind. Man muss also erfassen, worin sie bestehen, und sie in der Reihenfolge hervorbringen, die sich als möglich zeigt. Hier aber ergänzen wir, dass sich eine „Bedingungskette“ nicht physikalischer sondern g e s e l l s c h a f t l i c h e r A r t , die keine Wirkung determiniert, sondern ein E r e i g n i s e r m ö g l i c h t , als F r a g e – A n t w o r t – K e t t e besser denn als Kausalkette begreifen lässt. Und tatsächlich war die Gründung der Iskra ein Ereignis, dessen Folgen nicht deterministisch-kausaler Natur waren. Vielmehr hat sie einen neuen Möglichkeitsraum geschaffen, in dem es zunächst zur Trennung der Bolschewiki und Menschewiki kam. Oder eben anders gesagt, sie hatte den Wert einer Fragestellung, die im nächsten Schritt mit jener Trennung beantwortet wurde. Die Verselbständigung der Bolschewiki war das nächste Kettenglied nach dem Kettenglied Iskra. Es war unvorhersehbar gewesen, doch konnte man auf Basis des Kettenteils, der schon gebildet war, erkennen, dass man gut tat, es zu ergreifen. Und i m N a c h h i n e i n betrachtet ist klar, es durfte in der revolutionären Gesamtkette nicht fehlen.
Am Ende seines Lebens setzt Lenin das Bild immer noch in der gleichen Weise ein. Die Sowjetmacht besteht schon, als er sagt: „Die politischen Ereignisse sind stets sehr verworren und kompliziert. Will man sich an die ganze Kette festklammern, so darf man sich nicht lediglich ein einziges Kettenglied anklammern. Man kann sich n i c h t k ü n s t l i c h das Kettenglied auswählen, an das man sich klammern will.“ „Wir müssen uns stets kontrollieren durch das S t u d i u m der K e t t e der politischen Geschehnisse in ihrer Gesamtheit, in ihrem ursächlichen Zusammenhang, in ihren Ergebnissen.“ (LW 26, S. 35) Auch dies ist so gemeint, dass es die zu studierende „Kette“ in ihrer Gesamtheit noch gar nicht gibt; selbst jetzt noch, in der Anfangszeit der neuen Gesellschaft, kann keine politische Strategie bis zum Ende sicher vorausgeplant werden, sondern nur was der nächste Schritt sein sollte, kann herausgefunden werden. Es ist, wie Lenin zu sehen glaubt, die Einübung der Demokratie in den Sowjets. Auch hier noch übrigens, wo man den Eindruck hat, mit Strategie und Taktik im Sinn des Krieges habe das nun nichts mehr zu tun, gibt es einen Bezug zur Lehre von Clausewitz. Der sagt nämlich, es müssten immer a l l e Kräfte auf den nächsten Schritt, das ist bei ihm die nächste Schlacht, konzentriert werden (Vom Kriege, in: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte [Hg. Reinhard Stumpf], Frankfurt/M. 1993, S. 226, 231).
Lenin wendet das Kettenbild auch auf die internationalen Verhältnisse an. Die russische Revolution, sagt er, kann „überhaupt nur verstanden werden als ein Glied in der Kette der sozialistischen proletarischen Revolution, die durch den imperialistischen Krieg hervorgerufen wird“ (LW 25, S. 396). Man beachte wohl, dass er auch hier von einer u n v o r h a n d e n e n Kette spricht, denn nur diese Revolution geht siegreich aus dem Weltkrieg hervor, auf andere, besonders die deutsche, hofft er vergeblich – und vergleiche es mit der heute noch bekanntesten Version der Kettenmetapher, von der man meint, sie stamme von Lenin, obwohl sie auf Stalin zurückgeht: dem s c h w ä c h s t e n G l i e d in der Kette.
„Früher“, so Stalin,
„war es üblich, von der proletarischen Revolution in diesem oder jenem entwickelten Lande als von einer einzelnen sich selbst genügenden Größe zu sprechen, die der einzelnen, nationalen Front des Kapitals als ihrem Antipoden entgegengestellt wurde. Jetzt ist dieser Standpunkt bereits unzulänglich. Jetzt muss man von der proletarischen Weltrevolution sprechen, denn die einzelnen nationalen Fronten des Kapitals haben sich in Glieder einer einheitlichen Kette verwandelt, genannt die Weltfront des Imperialismus, der die allgemeine Front der revolutionären Bewegung aller Länder entgegengestellt werden muss. Früher betrachtete man die proletarische Revolution ausschließlich als Ergebnis der inneren Entwicklung des betreffenden Landes. Jetzt ist dieser Standpunkt bereits unzulänglich. Jetzt muss man die proletarische Revolution vor allem als Ergebnis der Entwicklung der Widersprüche im Weltsystem des Imperialismus betrachten, als Ergebnis dessen, dass die Kette der imperialistischen Weltfront in diesem oder jenem Lande reißt.“ (Fragen des Leninismus, Moskau 1947, S. 30)
Und dann behauptet er, diese Sicht gehe auf Lenin zurück:
„Wo wird die Revolution beginnen, wo kann am ehesten die Front des Kapitals durchbrochen werden, in welchem Lande? Dort, wo die Industrie am entwickeltsten ist, wo das Proletariat die Mehrheit bildet, wo mehr Kultur, mehr Demokratie ist – pflegte man früher zu antworten. Nein – entgegnet die Leninsche Theorie der Revolution -, nicht unbedingt dort, wo die Industrie am entwickeltsten ist usw. Die Front des Kapitals wird dort reißen, wo die Kette des Imperialismus am schwächsten ist, denn die proletarische Revolution ist das Ergebnis dessen, dass die Kette der imperialistischen Weltfront an ihrer schwächsten Stelle reißt“. (S. 30 f.)
Den Schritt zum Positivismus, der in dieser Bildverwendung liegt, hat Lenin niemals getan. Während Lenin immer von einer unvorhandenen Kette spricht, spricht Stalin nun von einer vorhandenen, der des Imperialismus. Und sofort wird das Bild falsch. Ist etwa jemals die imperialistische Kette zerstört worden, was unbedingt geschehen sein müsste, wären wirklich eins oder mehrere Glieder herausgebrochen worden? Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil, es war das sowjetische Russland, das in die allergrößten Schwierigkeiten kam und an ihnen nach einem dreiviertel Jahrhundert zerbrach, weil es sich aus dem kapitalistischen Weltmarkt herausgenommen hatte. Ein Philosoph, der sich sehr für Bedingungsketten interessierte, Nicolai Hartmann, bringt es auf den Punkt: „Unmöglich ist im Realen schon dasjenige, an dessen Bedingungskette auch nur ein Glied fehlt; die Erkenntnis aber, dass ein Glied fehlt, ist viel einfacher als die Erkenntnis, dass alle Glieder vollzählig beisammen sind.“ (Wirklichkeit und Möglichkeit, Berlin 1938, S. 380) Sein Nachsatz ist wichtig: Woher wollte Stalin denn wissen, an w e l c h e r K e t t e Russland das schwächste Glied war? Lenin wusste, dass er die Bedingungsketten, von denen er sprach, nicht überschaute, Stalin setzt sich darüber hinweg. Heute weiß man, dass Staatszerfall an der Peripherie des Imperiums nachgerade zu dessen Kalkül gehören kann – Herfried Münkler hat es gezeigt (Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005) -, statt es, als gehöre er zu s e i n e n e i g e n e n Existenzbedingungen, zu erschüttern oder gar zu zerbrechen. Und ist es abwegig zu vermuten, dass die Existenz des „Ostblocks“ den kapitalistischen Zusammenhalt der Metropolen seinerzeit eher gestärkt als geschwächt hat?
Man könnte sich indes die vielen Worte sparen, denn weshalb Stalin das schiefe und falsche Bild bemüht, ist offensichtlich genug: Er will Trotzki widersprechen. Der hatte auf Marx‘ Ansicht beharrt, die Revolution könne nur gelingen, wenn alle wichtigsten Metropolen des Kapitals gleichzeitig von ihr erfasst würden. Den „Sozialismus in einem Lande“ hielt er für undurchführbar. Dem will Stalin entgegenhalten, dass doch auch er im Horizont der Weltrevolution denke, nur realistischer und klüger als sein Todfeind: „Deshalb“, sagt er, „haben […] diejenigen unrecht, die den internationalen Charakter der Oktoberrevolution vergessen und den Sieg der Revolution in e i n e m Lande als eine rein nationale und ausschließlich nationale Erscheinung hinstellen.“ (S. 133) Wäre Russland aus der imperialistischen Bedingungskette herausgebrochen worden, hätte es diese ja eben wirklich weltweit in zwei lose Teile zerlegt und damit zerstört. Nur geschah dies nicht, es ist pure Phantasie. Man muss hinzufügen, dass auch Trotzkis Marxrekurs nicht weiterführt. Muss nicht gefragt werden, wie der nüchterne Marx zu seinem Postulat, das sich so offenkundig illusionär ausnimmt, überhaupt gelangen konnte? Sollte er sich Napoleons Krieg gegen ganz Europa zur Durchsetzung der Errungenschaften der Französischen Revolution zum Vorbild genommen haben, 1848 jedenfalls noch (vgl. Rolf Hosfeld, Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biografie, München Zürich 2009, S. 104 f.)? Napoleon ist es in der Tat gelungen, fast gleichzeitig alle wichtigen Metropolen zu erobern, die USA zählten damals noch nicht. Solche Kriege zu führen, war aber schon wenige Jahrzehnte danach, wie Engels erkannte, ich habe es in Erinnerung gerufen, wegen der Entwicklung der Waffentechnik keine Option mehr.
4. Die Phasen der Revolution der Anderen Gesellschaft
Angeregt durch die Vorstellung der Alten denken wir von hier an unsere eigenen Gedanken. Das Erste ist, dass wir nicht anders als sie einen revolutionären Verlauf auf uns zukommen sehen, der sich sehr einfach in drei Phasen zerlegt: Die revolutionäre Gründung wird zuerst diskursiv vorbereitet, dann folgt die Zeit der „Brechung der Macht des Kapitals“, die bis zum Ereignis der Gründung reicht, und danach wird das Neue nachhaltig gemacht – aufgebaut und eingeübt, auch gegen verbleibende Gegner verteidigt. Der Sinn eines solchen Schemas, oder jedenfalls der Einzelschritte, mit denen man es ausfüllt, ist nicht, dass man deren pedantische Umsetzung erwartet, sondern sie sollen eine Folie der Erwartung sein, die beim wirklichen Handeln rasch sensibel macht für Signifikantes und gerade auch für Unerwartetes. Tritt das Unerwartete ein, ändert man den Plan. Das Schema als solches, abstrakt wie es ist, wird der Realität schon standhalten, wenn die Revolution nur überhaupt siegt. Bei Einzelschritten, die man im Voraus erwägt, ist das aber nicht sicher: Da sie aufeinander aufbauen, bilden sie eine zeitliche Kette, die nicht Befehls- sondern Frage-Antwort-Kette ist. Man kann und soll sie j e t z t entwerfen, wenn man ihr dann aber folgt, steht sie jederzeit unter dem Vorbehalt, dass eine zukünftige „Antwort des Realen“ nicht wie erwartet ausfällt, sondern die im Kettenverlauf vorausgegangene „revolutionäre Frage“ z u r ü c k w e i s t , so dass die ganze Kette an diesem Punkt, bis zu dem hin sie real geworden war, zerbricht. Es wird dann eben unvermeidlich, den Kettenentwurf zu modifizieren. Vielleicht haben Kettenglieder gefehlt, die unbedingt dazu gehören, oder die Reihenfolge ihrer Anordnung muss verändert werden.
In der ersten Phase geht es darum, die Öffentlichkeit über die Konfusionen des Kapitals und deren mögliche Auflösung aufzuklären. Im Zuge dessen verliert das Kapital seine Massenunterstützung, seine Macht ist aber noch nicht gebrochen. Dieser Prozess geht damit einher, dass sich das aufklärende Subjekt herausbildet. Ihm gilt hier das letzte Kapitel. Man kann sagen, dass die Öffentlichkeit sich selbst schrittweise aufklärt und dabei zu diesem Subjekt wird, wo man nur noch zusätzlich unterscheidet, dass ein gerade erst aufgeklärter Teil, der nun selber aufklärt, eben noch unaufgeklärt war, so dass es eines anderen Teils bedurft hatte, ihm zu helfen. Das ist die Entwicklung, die im Grunde schon begonnen hat. Wir sprachen davon. Es muss sich aber auch ein Subjekt im engeren Sinn herausbilden, das heute schon das Ziel benennen kann – eine Andere Gesellschaft, die ökonomisch auf Proportionswahlen basiert – und mögliche aufeinanderfolgende Schritte des revolutionären Prozesses bis hin zur gesellschaftlichen Neugründung und darüber hinaus entwirft.
Fügen wir gleich hinzu, der Prozess wird lange dauern. Dafür spricht jedenfalls die historische Erfahrung. Denn von einer Revolution ist die Rede, die es an Bedeutsamkeit mit der Französischen und russischen aufnimmt. Beide haben einen Vorlauf von nahezu einem Jahrhundert gebraucht. Indem ich von der „Aufklärung der Öffentlichkeit“ sprach, habe ich darauf schon angespielt: Die Französische Revolution wurzelt in einem ganzen „Zeitalter der Aufklärung“, das bald nach 1700 begann. Ebenso die in Russland: Der Prozess der Selbstaufklärung eines Teils der Öffentlichkeit, der zu ihr führte, beginnt mit den Frühsozialisten, ja selbst wenn man ihn mit dem Kommunistischen Manifest, also erst 1848 beginnen lässt, ist es bis 1917 noch weit. Die historische Erfahrung lehrt auch, dass es mit e i n e r Generation nicht getan ist, das revolutionäre Subjekt herauszubilden. In Russland mussten es erst die Narodniki versuchen, deren einer Lenins älterer Bruder gewesen war, bevor die Sozialdemokraten und ihre Abspaltung, die Bolschewiki, zum Zuge kamen. In Frankreich sind viele führende Revolutionäre aus der Freimaurer-Bewegung hervorgegangen: Da ist es bezeichnend, dass sich in ihr die demokratische Tendenz erst allmählich durchgesetzt hatte. Man sah sich ja, nachdem in den 1730er Jahren erste Logen entstanden waren, zunächst in der Nachfolge des Templer-Ordens und schwärmte für Ritter. Erst ab 1756 hörte das allmählich auf. „Nun fanden es die wahrhaft bedeutenden Persönlichkeiten an der Zeit, Logen beizutreten“ – Montesquieu, Helvetius, Concordet, Benjamin Franklin, Voltaire, Lafayette, d’Alembert, der Abbé Sieyès… (Alexander Giese, Die Freimaurer. Eine Einführung, Wien Köln Weimar 4. Aufl. 2005, S. 62)
Ohne bedeutende Persönlichkeiten kann eine große Revolution, kann auch die Revolution der Anderen Gesellschaft nicht gedacht werden. Sie kommen nicht über Nacht. Es kann lange dauern, man weiß es aber wiederum nicht, denn die Prozesse auf der Subjektseite, von denen bisher nur die Rede war, werden vom objektiven Geschehen mitbestimmt und vielleicht abgekürzt. Besonders weil wir von einer ökologischen Revolution sprechen, kann das der Fall sein. Denn darin unterscheidet sich diese Revolution von den vorausgegangenen: Nicht nur ihr Subjekt wird sich in einer Bedingungs- (und zwar Frage-Antwort-) –Kette der Herbeiführung bewegen, sondern die Gesellschaft und darunter dieses Subjekt wird auch permanent auf eine Kette sich steigernder Katastrophen, ökologischer nämlich, auf der Objektseite zu reagieren haben.
Über die ersten Inhalte der Aufklärung, die in dieser Phase die Öffentlichkeit ergreift, haben wir schon gesprochen. Ich wiederhole, was ich in der 138. Notiz schrieb: „Wir prangern zunächst die Ziellosigkeit an, mit der das Kapital auf die vermeintliche Naturnotwendigkeit seiner Evolution reagiert, konfrontieren ihr die Ziele, die in Teilen der Gesellschaft bewusst verfolgt werden, und wenden uns gegen das TINA-Prinzip, das der Naturnotwendigkeitsvorstellung zugrunde liegt. All das geschieht in Spuren schon heute, es bahnt sich aber eine erste große Entscheidungsschlacht an: auf dem Feld der neuen Giga-Generation von Autos, die man uns andient mit dem Geschmacksverstärker, es seien selbststeuernde, und die dem ökologischen Erfordernis, Privatautos eher drastisch zu reduzieren, direkt ins Gesicht schlägt. Dass dieser Plan von der Politik einfach durchgewunken wird, ist der beste Beweis seines antidemokratischen Charakters. Wenn wir das laut sagen, haben wir schon den Schritt getan, zu den unbewussten Kapitalzielen überzuleiten. Denn dass s i e es sind, die den Prozess leiten, setzen wir gegen das TINA-Prinzip. Und dann stehen Ziele gegen Ziele.“ Und hier haben wir schon den Fall, dass es anders kommen kann als erwartet, denn ob es wirklich schon in der Zeit, wo die neue Auto-Generation von der kapitalhörigen Politik durchgesetzt wird, ein Subjekt gibt, das wenigstens schon einmal den Zweifel daran weit zu verbreiten imstande ist, ist mehr als fraglich. Doch der Schritt taugt zum Modell: Kommt es hier noch nicht zur produktiven Auseinandersetzung, dann eben beim nächsten analogen Fall. Wann auch immer: Sobald es gelingt, eine Auseinandersetzung zu initiieren, von der sich die Öffentlichkeit packen lässt, wird damit eine neue Stufe der Verallgemeinerung in deren Problembewusstsein erreicht.
Der revolutionäre Möglichkeitsraum ist dann weit größer geworden. Das muss er auch werden, denn der Prozess der Selbstaufklärung der Gesellschaft geht weiter. Zuletzt ist das Bewusstsein erlangt, dass sich das Kapital, seit es überhaupt existiert, in der Konfusion des Un-Endes verheddert, was aber erst in seiner Endzeit hervortreten konnte: Es stand anfangs für Dynamik statt Stillstand – für Veränderungsmut – und war darin progressiv, doch zunehmend stellte sich dann heraus, dass vernünftige dynamische Prozesse nur die Oberfläche eines unendlichen Umwälzungsautomaten ohne Sinn und Verstand bildeten, vergleichbar dem Besen des Zauberlehrlings bei Goethe. Eine neue Produktionsweise muss solche „schlechte Unendlichkeit“, den Begriff hat schon Hegel gebraucht, ins Museum verbannen, um selbst nur das Un-Ende als solches zu behalten, es aber neu zu interpretieren: als Fähigkeit und Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten – niemals freilich die Grenzen des Umweltraums -, verbunden mit dem Willen, es dann und nur dann zu tun, wenn vernünftig scheinende Gründe dafür sprechen.
Man halte es nicht für einen Mangel meiner Erörterung, dass ich das letzte Aufklärungsziel so überabstrakt formuliere, als könnte dergleichen jemals die Öffentlichkeit interessieren. Diese Abstraktheit zeigt nur an, wie weit wir noch entfernt sind von der Zeit, in der sich „die Massen“ vom Kapital abwenden, was sie dann natürlich in ihrer eigenen Sprache tun werden – in der sie, wie ich es weiter oben formuliert habe, „die Hauptstadt des Kapitals“ zu besetzen in der Lage sind. Im Übrigen werden dann auch gewisse praktische Dinge, über die man schon heute konkret sprechen kann, der Öffentlichkeit bewusst, so vor allem dass zur „Brechung der Macht des Kapitals“ das Prinzip der Unverborgenheit aller Geschäftsvorgänge durchgesetzt werden muss. Wenn das geschieht, befinden wir uns schon in der „zweiten Phase“ des revolutionären Prozesses. Dass alles im Kampf gegen Medien geschieht, die heute noch Leitmedien sind, braucht nicht zu schrecken: nicht nur weil es auch kleinere progressive Medien gibt, sondern vor allem wegen der Möglichkeiten, die das Internet bietet.
E i n konkreter Zug lässt sich absehen, nämlich zu welchem Fluchtpunkt d e r m o d e r n e F a s c h i s m u s hinstreben wird, wenn wir nicht vor dem Kampf um die „Hauptstadt“ seine Entstehung haben verhindern können: Er wird die Abstraktheit der Kapitallogik in die Bilder des KI-Übermenschen, der wie gesagt den Menschen abschafft, und des Verlassens der Erde übersetzen. Man wird sagen, die Erde lasse sich ja nicht retten und also müsse auf Raumfahrt gesetzt werden. Die Behauptung gibt es übrigens schon lange. Das öffentliche Bewusstsein der Ökologiekrise ist jüngeren Ursprungs, sie muss nun neuerdings herhalten, die „Notwendigkeit“ des Verlassens der Erde zu begründen (nachdem man vorher mit dem angeblich unvermeidlichen atomaren Weltkrieg argumentiert hatte), in sehr kleinen aber schon einflussreichen Kreisen vorerst noch. Die beiden Bilder bedingen einander, denn so wie die „Eroberung des Weltalls“ weitergedacht wird – ein US-Professor, der bei Piper verlegt wurde, entwarf dessen Totalvernichtung und –ersetzung durch einen Computer, in dem wir alle „auferstehen“ sollen, in Simulation freilich nur -, können nur tote Maschinen ihre „Subjekte“ sein.
Der Zusammenhang der faschistischen Wahnphantasien mit der Kapitallogik liegt auf der Hand, wenn wir nur jenes schon zitierte Mittelglied beifügen, auf das Walter Benjamin aufmerksam gemacht hat: dass die Kapitallogik ein unbewusst gewordener Weg zur Selbstvergottung ist. Dabei geht die Kapitallogik als solche vom neuzeitlichen Begriff eines Gottes aus, der das Unendliche sei, und übersetzt es in ihr Streben nach dem unendlichen Mehrwert, während die faschistische Variante auf die biblischen Bilder regrediert, indem sie die Apokalypse erwartet: den Neuen Menschen (= KI-Übermenschen) und die Himmelfahrt (= Raumfahrt zwecks Verlassen der Erde, weil diese, wie in der Bibel angekündigt, in Flammen aufgeht). Mit ihren Bildern bewaffnet können Faschisten glauben, sie seien Antikapitalisten, in Wahrheit ist ihnen die normale alltägliche Verwirklichung der Kapitallogik nicht regressiv genug.
Indem ich das sage, korrigiere ich in einem Punkt, der entscheidend ist, das eben gebrachte Zitat aus der 138. Notiz: Die Ziele Abschaffung des Menschen und Verlassen einer Erde, die man verfallen lässt, sind keine „unbewussten Kapitalziele“, wie ich dort schrieb. Es sind faschistische Ziele. Marx hatte recht: Die Kapitallogik als solche kann kein Ziel haben außer der Unendlichkeit. (Vgl. auch meine Überlegungen in Probleme und Perspektiven der Berliner Republik, Münster 1999, S. 147 f., wo ich die säkularisierten Versionen des Neuen Menschen und der Himmelfahrt noch als „de[n] embryonale[n] Kern“ deutete, „den die kapitalistische Produktionsweise von sich aus hat und auch hervorbringt“.)
Zur „ersten Phase“ gehört noch, dass ineins mit den ideellen Prozessen, von denen bisher die Rede war, auch die materiellen anlaufen, die zur Revolution führen. Im Zuge der Bewusstwerdung entstehen in allen gesellschaftlichen Gruppen revolutionäre Fraktionen. So in den ökonomischen Gruppen: Ein Teil der Arbeiterklasse wird aufhören, sich von der SPD-CDU-CSU auf ihr „ökonomisches Interesse“ und die Ideologie der „Arbeitsgesellschaft“ reduzieren zu lassen, wird vielmehr das menschheitlich Notwendige, das mit den Zukunftsaussichten der eigenen Kinder anfängt, einzufordern beginnen, und wird daher der Kapitallogik zwar immer noch folgen müssen, ihr aber nicht mehr zustimmen. Übrigens können wir dies durchaus auch in der älteren Redeweise formulieren, wo man sagte, die Arbeiterklasse höre auf, sich ihre „Ausbeutung“ gefallen zu lassen. Denn was ist Ausbeutung? Dass sich die Kapitalisten das von den Arbeitern geschaffene Mehrprodukt aneignen. Dies hatte und hat noch heute in den peripheren Gesellschaften den Effekt der Unterernährung und schwieriger, würdeloser Wohnverhältnisse bis hin zu Slums aufseiten der Arbeiter. In einer reichen Gesellschaft wie der deutschen ist das aber nicht mehr oder weit weniger der Fall. Jetzt tritt die Hauptsache ins Licht, die Frage nämlich, wer über die Verwendung des Mehrprodukts entscheidet: die Arbeiter oder die Kapitalisten, die ihn gar nicht produziert haben, nun aber in dubiose Finanzgeschäfte stecken oder in Produkte investieren, über die nicht demokratisch entschieden worden ist. Im hier vertretenen Modell der Anderen Gesellschaft entscheiden die Konsumenten, das sind die fungierenden und nichtfungierenden Arbeiter nach der Seite, dass sie ihr Tageswerk getan haben und nun ihre Bedürfnisse kundtun. Wenn die Kapitalisten entscheiden, ist es Ausbeutung.
Ebenso wird ein Teil des Unternehmerlagers einsehen, dass es auch ohne Kapitallogik existieren kann und sogar besser existieren kann. Bei Unternehmern wie Arbeitern geht es vorerst nur darum, die Zustimmung zu verweigern, nicht auch schon darum, aus der Kapitallogik praktisch auszusteigen. Denn das ist unmöglich, bevor die Macht des Kapitals im Ganzen gebrochen ist. Die Zustimmung wird aber „laut“ verweigert und das hat Folgen. Wenn ein Teil der Arbeiterklasse „laut“ anstrebt, die Aktiengesellschaften in Eigenregie zu übernehmen, und auch ganz generell, dass es auf dem Arbeitsmarkt keine Zwangsrekrutierung mehr geben soll, was durch die Einführung des Grundeinkommens erreicht werden kann; wenn ein sei’s auch kleiner Teil der Unternehmerschaft „laut“ erklärt, man wolle sich lieber den Regeln der Anderen Gesellschaft beugen; ein Teil der Naturwissenschaftler, man arbeite daran, die wissenschaftlichen Prozesse neu zu fokussieren; ein Teil a l l e r Parteien des Verfassungsbogens, man stelle sich auf Proportionswahlen ein – dann gerät viel in Bewegung. Vergessen wir auch nicht, dass die ökonomische Struktur der Anderen Gesellschaft viel mehr ausgearbeitet und zu viel größerer Kohärenz gebracht werden muss, als ich und mein Kollege Jörg-Michael Vogl, die wir nur zwei Einzelne sind, das leisten konnten. Ein ganzer Wissenschaftszweig muss sich des Themas annehmen.