5. Das revolutionäre Subjekt
Meine Erörterung der zweiten und dritten Phase der Revolution war hypothetisch und diente primär dem Erweis ihrer M ö g l i c h k e i t , dagegen ist ohne Weiteres klar, dass es in der ersten Phase um Aufklärung und deren Subjekt geht. Die Entstehung des revolutionären Subjekts ist das Nächste und Schwierigste. Denn für die zu bewältigende Aufgabe sind etwas wie „neue Menschen“ gefragt. Wir sagen zwar nicht, d i e A n d e r e G e s e l l s c h a f t solle aus Neuen Menschen bestehen. Vorstellungen dieser Art, die im Umkreis der russischen Revolution ihre Rolle spielten, wurden häufig und mit Recht zurückgewiesen. Leicht konnte man den religiösen Kern des Adam, der zu Christus werde, in ihnen wiedererkennen, und wie wir sahen, werden sie inzwischen verhängnisvoll weitergedacht – zum nietzscheanischen Übermenschen und zuletzt zur menschheitsabschaffenden KI-Maschine. Von all dem ist nicht die Rede. Wir ändern nicht Menschen, sondern einige basale Strukturen; wie wir Menschen auf die neuen Strukturen reagieren, wird man sehen. Wie steht es aber mit den Aktiven, die sich bei der Herbeiführung des Neuen besonders engagieren? Der Geschichte der klassischen Revolutionen können wir entnehmen, dass jedesmal welche vorangegangen sind, die sich zu ihrer Aufgabe allererst „erziehen“ mussten. In diesem mehr banalen Sinn braucht auch unsere Revolution „neue“ Menschen.
So hatte Lenin für seine Revolution das Konzept der „Berufsrevolutionäre“ ausgebildet und eine „Partei neuen Typs“ ausgerufen, deren Bestimmung es war, zur Revolutionsarmee zu werden, ohne ihren politischen Charakter zu verlieren. Dem von Marx geforderten „Verein freier Menschen, die sich wechselseitig erziehen“ (MEW 1, S. 95), kam er schwerlich nahe, aber dass seine Praxis „neue“ Menschen hervorbrachte, war nicht zu übersehen. Dasselbe kann von den Freimaurerlogen gesagt werden, worauf oben schon mehrmals angespielt wurde. Der Punkt ist, dass in beiden Fällen eine n e u e D i s z i p l i n hat eingeübt werden müssen: Es wurde schon angedeutet und wird unten näher ausgeführt werden, dass dies auch in den revolutionären Gruppen, die zur Anderen Gesellschaft aufbrechen, der Fall sein wird.
Ich will aber harmlos einsteigen mit der abschließenden Erörterung der Frage, ob die Revolutionäre Parteien brauchen. „Harmlos“ nenne ich es, weil ich die Frage zwar entschieden bejahe, nicht aber hier schon, auf der Ebene der Parteien, die „Organisationsfrage“ revolutionär beantwortet sehe. Sie sind nur ein Teil der Beantwortung und nicht der wichtigste. Immerhin haben wir aber gesehen, es soll in der zweiten revolutionären Phase Landesregierungen und eine Bundesregierung geben, die auf die Gründung der Anderen Gesellschaft hinarbeiten. Solche Regierungen würden aus den Parlamenten heraus gebildet und müssten also von einer oder mehreren revolutionären Partei(en) getragen sein. Wir haben auch gesehen, dass sich solche Parteien in ihrer Oppositionszeit zum „dritten Block“ ausrufen und als solcher praktisch verhalten, indem sie dem Zwei-Blöcke-System nicht beitreten, durch welches ein Parlament die Eigenschaft, k a p i t a l i s t i s c h e s Parlament zu sein, erst annimmt. Als Parteien des dritten Blocks sollen sie, wie gesagt wurde, sich den andern Parteien gegenüber „oppositionell“ nur im Wortsinn verhalten, was also einschließen kann, dass sie mit der oder jener in einer Einzelfrage übereinstimmen, während ihre polemisch vorgetragene Gegnerschaft nur dem Eingebundensein aller ins kapitalistische Zwei-Blöcke-System gilt. So geben die Revolutionäre beiden Bevölkerungshälften zu verstehen, dass revolutionäre Politik weit entfernt ist, Millionen Menschen ausgrenzen zu wollen.
Dass zum revolutionären Prozess revolutionäre Parteien gehören, lässt sich aber auch anders und viel grundsätzlicher erhellen. Wer soll denn die Arbeit der „Aufklärung“ initiieren, um die es immer hauptsächlich geht? Wenn es nur um das Zentrale ginge, den ziellosen Charakter der Kapitallogik, die den Planeten ruiniert, und was wir dagegensetzen: Proportionswahlen, die ökologische Selbstverpflichtung der Gesellschaft, die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses und des Superreichtums, dann wäre es vorstellbar, dass einem Netz revolutionärer Gruppen die Aufklärungsarbeit allein gelänge. Aber das hieße ja erwarten, dass die Revolutionäre immerzu und von Anfang an i h r e Themen als Themen der öffentlichen Debatte durchsetzen könnten, was eine völlig unrealistische Annahme ist. Es wird vielmehr sehr lange so sein, dass die beherrschenden Themen teils von den vorhandenen Medien, teils von der vorhandenen Regierung gesetzt werden, ganz wie wir das heute immerzu erleben. Würden die Revolutionäre versuchen, gegen solche Themen, die ihnen gleichsam von außen zustoßen, wie etwa „die deutsche Einheit“ 1990 oder heute „die Flüchtlingskrise“, ihr eigenen auszuspielen, das führte zu gar nichts. Nein, es muss ihnen schon gelingen, das Eigene mit dem Zustoßenden z u v e r m i t t e l n , was andersherum heißt, sie müssen herausfinden, wie auch in dem, was nur zuzustoßen scheint, das Eigene liegt – w e n n es ihnen aber gelingt, i s t e s „ e i n e r P a r t e i “ g e l u n g e n , denn das ist es, was diese politische Form auszeichnet: Sie kann und muss ein themenverallgemeinertes Programm haben – schon weil es ja denkbar ist, dass sie einmal regiert, was unser Ausgangspunkt war.
Diese Sache ist wichtig genug, sie etwas ausführlicher zu behandeln. In der Art der Leninschen Revolutionstheorie gesprochen, handelt es sich um die Notwendigkeit, „konkrete Situationen konkret zu analysieren“ und danach zu handeln. Es sind T h e m e n der öffentlichen Aufmerksamkeit und politischen Auseinandersetzung, und wie gesagt nicht bloß unsere, die solche Situationen schaffen. Weil meist verschiedene Themen gleichzeitig im Spiel sind, von denen eines die Aufmerksamkeit beherrscht, können als Subjekt der „konkreten Analyse“ nur Parteien gedacht werden. Dabei erscheint es, weiter klassisch gedacht, als Frage der „Taktik“, wer sich in der konkreten Situation durchsetzt und wie er sich durchsetzt, während „Strategie“ der Versuch wäre, mit dem eigenen grundsätzlichen Thema zu siegen. Dies kann offenbar nur durch eine Kette konkreter Situationen hindurch gelingen, die in ihrer Konkretheit nicht vorherzusehen, daher auch nicht vorauszuplanen sind. Wenn das so sei, sagt Lenin, stelle sich aber die Frage, ob im Durchgang durch die jeweilige Situation die „Prinzipien“, die dem strategischen Ziel entsprechen, auch dann gewahrt blieben, wenn „taktische Kompromisse“ geschlossen werden müssten. Er postuliert es: Die revolutionäre Partei vermöge „bei jeder Wendung der Ereignisse stets die Linie einzuhalten“, die im Parteiprogramm niedergeschrieben sei (LW 17, S. 269).
Ersichtlich denken auch bürgerliche Parteien in diesem Schema, oft auch in diesen Begriffen. So sagt man von den Grünen, sie hätten im Verlauf ihrer Geschichte ihre Prinzipien verraten. Und sie selbst merkten es, dass sie „Kröten schluckten“, also ungünstige Kompromisse zu schließen begannen, was sie aber jeweils für taktisch erforderlich hielten. Der Mangel ihrer Selbstanalyse lag darin, dass die Begriffe, wie sie immer noch gebraucht wurden, der linguistischen Fassung entbehrten, die sie doch unbedingt haben müssen, da sie die Veränderung des gesellschaftlichen Denkens zum Gegenstand haben. Es sind ja gar keine der Kommunikation geltenden Begriffe, vielmehr kriegstheoretische (Strategie, Taktik) und philosophisch-kategoriale (konkret, abstrakt). Die Folge ist, dass das Nachdenken gerade in der löblichen Absicht, das „Konkrete“ zu beachten, von der Sprache nicht hinreichend unterstützt wird. In der Regel kommt dann heraus, dass Politik auf Physik zusammenschrumpft: „Kräfteverhältnisse“, der „Druck“ des Gegners oder Koalitionspartners – dem gehorcht der „Realo“ buchstäblich blind und hat noch ein gutes Gewissen dabei.
Kann marxistisches Herangehen zur Qualifizierung der Selbstanalyse führen? Man würde erst einmal sagen, es sei der erste Schritt, konkrete Situationen, wie ja alles, in „Basis und Überbau“ zu unterteilen. Das war schon für die Kriegssituationen klar, die in der Tat durch vorgegebene Kräfteverhältnisse charakterisiert sind und sie zur Geltung bringen („Basis“), deren A u s f e c h t u n g aber davon abhängt, wie gut sie erkannt und genutzt werden („Überbau“). Das geht so weit, dass die an Kräften und Ressourcen schwächere Armee die stärkere besiegen kann, wird diese etwa in einem Guerillakampf oder auch, wie bei der Schlacht von Salamis, von einer regulären Armee in die eigene Landschaft hineingezogen. Den Ausdruck „ausfechten“ hat Marx selber in seinem Basis-Überbau-Theorem verwandt (MEW 13, S. 8 f.), um zu charakterisieren, was Revolutionäre und Konterrevolutionäre tun. Gehen wir dazu über, von der Revolution statt vom Krieg zu sprechen, ist aber klar und war immer klar, dass die rein ideelle Seite des „Ausfechtens“ eine viel größere Rolle als die bewaffnete spielt. Im Fall der Anderen Gesellschaft spielt überhaupt nur sie eine Rolle. Denn die Revolutionäre suchen nicht nur die basalen Bedingungen ihres Kampfes zu erkennen, sondern tragen die Revolution als Erkenntnisstreit auch aus. Trotzki bemerkt irgendwo in seiner Geschichte der russischen Revolution, die Überlegenheit der Bolschewiki über die Menschewiki habe sich darin gezeigt, dass Letztere sich immer verhielten, wie Erstere es vorher erwartet hatten, während das Umgekehrte nie eingetreten sei.
Der Erkenntnisstreit wiederum wird als Streit des Gesprochenen ausgetragen, da kommt die Linguistik ins Spiel. Ohne Linguistik kann eine konkrete revolutionäre oder nichtrevolutionäre Situation nicht analysiert werden. Kommen wir gleich zum Wichtigsten: Zwar ist selbst kriegstheoretisch klar, dass nicht nur die Strategie die Taktik beherrschen soll, sondern auch das Umgekehrte vorkommt. Eine Schlacht kann ausgehen, wie es nicht erwartet wurde, und den ganzen Kriegsplan über den Haufen werfen. Gebraucht man die Begriffe aber politisch und versäumt es, die Seite des Denkens und Sprechens zu berücksichtigen, gerät das in Vergessenheit. Politik ist komplexer: Hier geht es auch darum, „Prinzipien“ zu wahren, die man mit der „Strategie“ zu verwechseln geneigt ist. Die Verwechslung führt dazu, dass man am einmal gefassten politischen „Kriegsplan“ entweder gegen jede Erfahrung festhält oder die Prinzipien gleich mitverwirft, wenn man durch Umstände gezwungen wird, ihn zu modifizieren.
So lesen wir im Lehrbuch der Breschnew-Zeit sehr schlicht, die Taktik, weil sie sich aus der Strategie ergebe, „ist ihr untergeordnet“ (W. W. Sagladin [Gesamtredaktion], Die kommunistische Weltbewegung. Abriss der Strategie und Taktik, Frankfurt/M. 1973 [russ. 1972], S. 33). Ja man glaubt schon geradezu, eine Revolution könne von der Partei beschlossen und mit Strategie und Taktik derart „geleitet“ werden, dass die Partei „die Mittel und Wege des Kampfes festlegt“ (S. 22 f.). Als im Vorhinein erfolgende „Festlegung der Richtung, in der der Hauptschlag geführt wird“ (S. 26), erscheint der politische Kriegsplan unumstößlich. Das ist aber strategische Hybris, die sich übrigens ja schon im Buchtitel ausdrückt: D i e kommunistische Weltbewegung, Abriss d e r Strategie und Taktik – als könnte der Weg der Veränderung d e r g a n z e n W e l t im Voraus „festgelegt“ werden. Praktisch sieht das dann so aus, dass die kubanische KP sich gegen die Revolution Fidel Castros wehrt und die chilenische immerzu behauptet, das Militär werde gegen einen gewählten sozialistischen Präsidenten nicht putschen.
Wir sahen allerdings schon, dass Lenin die „Richtung“, und damit die Strategie, anders weiterdachte: mit der Metapher der Richtschnur der Maurer und der Kettenglieder, die anschlussfähig zu sein hatten, damit es eine Kette – erfolgreiche Strategie – überhaupt würde geben können. Was implizit bedeutet: Ein Kettenglied, taktischer Schritt also, der gerade getan wird, kann a u c h z u r W i d e r l e g u n g der vorher formulierten Strategie führen, was die „ P r i n z i p i e n “ aber gar nicht tangiert. Wenn wir das linguistisch fassen, sind wir auf den einzelnen Revolutionsführer, der wie Lenin genial in Metaphern denkt, nicht mehr angewiesen, sondern es wird zur möglichen Erkenntnis für alle: Der einzelne „taktische“ Schritt stellt sich als Sequenz einer antizipierten Frage-Antwort-Kette dar, wobei diese das „Strategische“ ist. Als antizipierte Kette nimmt „Strategie“ die l e t z t e A n t w o r t oder Zielsetzung vorweg und so das „Prinzipielle“, von dem man unter gar keinen Umständen abgeht. „Strategie“ als solche ist aber d e r a n g e g e b e n e W e g zu dieser Antwort, der sich eben als falsch erweisen kann, indem man unterwegs eine Sequenz erlebt, deren Antwort nicht, wie antizipiert, die antizipierte Frage beantwortet – so dass auf der antizipierten Antwort die n ä c h s t e antizipierte Frage (das nächste „Kettenglied“) hätte aufbauen können -, sondern die sie vielmehr zurückweist und eine a n d e r e Frage an dieser Stelle erforderlich macht. Dazu kann „die konkrete Situation“ zwingen, oder vielmehr darin kann sie bestehen, und wenn das geschieht, hat „Taktik“ über „Strategie“ entschieden statt umgekehrt.
Wenn wir uns die „konkrete Situation“ näher ansehen, wird es noch komplizierter. Bisher habe ich die Begriffe so verwendet, dass die antizipierte „Frage“ einer „Sequenz“, zu der es erst später, nach dem Vorlauf anderer „Sequenzen“, kommen wird, so viel heißt wie die „Erwartung des Schrittes, der in der dann eintretenden konkreten Situation möglich ist und getan werden sollte“; die „Antwort“ wäre der Realitätstest, dem sich die Erwartung in der Situation ausgesetzt findet und der ergeben kann, dass sie falsch war. Wenn die Linguisierung nicht weitergeht, geht sie nicht über die Analogie des Krieges hinaus. Dort fragen freilich auf beiden Seiten nur die Strategen, und zwar jeder nur sich selbst, ansonsten wird p h y s i s c h , nicht kommunizierend gekämpft. Die Revolution ist aber ein Vorgang, der j e d e r z e i t p o l i t i s c h ist und wo der Kampf selber, die „Schlacht“, das „Treffen“, sich im Fragen und Antworten e r s c h ö p f t . Da wird, um es zunächst paradox auszudrücken, die Frage der einen Truppe und ihrer Strategen von der Frage der anderen d i r e k t beantwortet. Da reden sie also miteinander, ohne dass ein physischer Kampf dazwischentritt, und gerade darin, dass sie reden, besteht der Kampf.
Die Fragen beider Seiten machen sich in der Regel nicht sichtbar, werden aber durch die Äußerungen repräsentiert, die man beidseitig in die öffentliche Debatte wirft. Das sind nun Äußerungen – womit wir zum wichtigsten Analyseschritt kommen -, die zeigen, wie jede Seite vor allem auf d i e Frage antwortet, in der s i e s e l b s t sich bewegt, schon vorher bewegt hat, und die sich nun freilich auch als Antwort auf die aktuelle Frage der anderen Seite bewähren muss. Letztes gelingt gut, weniger gut oder gar nicht und das entscheidet hier über Sieg und Niederlage. Das ist die Linguisierung des Begriffs der „konkreten Situation“. Da stoßen wir denn gleich darauf, dass unsere revolutionäre „Strategie und Taktik“ nicht darin bestehen kann, nur für das ökonomische Ziel Proportionswahlen (welche „letzte Antwort“ und Zielsetzung das „Prinzipielle“ unserer Strategie ist) einzutreten und es nur in ebenso ökonomische Unterpunkte zu zerlegen, die wir nach und nach in die öffentliche Debatte einspeisen. Denn so würden wir nicht gehört und gar nicht wahrgenommen. Gesetzt, das revolutionäre Subjekt wäre schon vorhanden, wie stünde es denn da, wenn sich die Öffentlichkeit über die „Flüchtlingskrise“ erregt und dafür ja auch gute Gründe hat?
Oder wie hätte es dagestanden, als 1990 die Vereinigung der deutschen Staaten in Form des Anschlusses der DDR vollzogen wurde? Dieses Beispiel ist besonders sprechend, weil es damals einen Bundestagswahlkampf gab, in dem sogar die Fragen, nicht nur Antworten in Form von Äußerungen, unverhüllt aufeinanderstießen, die eine gegen die andere unterging und das zu u n s e r e m Bedauern. Es bahnte sich nämlich auf der linken Seite ein Bündnis von Grünen und SPD an, welch letztere Oskar Lafontaine zum Kanzlerkandidaten gekürt hatte; Lafontaine ging mit der ökologischen Fragestellung in den Wahlkampf und unterlag, weil unvorhergesehen die deutsche Frage auf der Tagesordnung stand und sich als weit mächtiger erwies. Dabei war er gar nicht einmal ganz hilflos. Seine Warnung vor den fatalen Folgen einer schnell vollzogenen Währungsunion sollte sich als sehr weitsichtig erweisen. Dass er sie aber aussprach, bedeutete nur, dass er n e b e n s e i n e F r a g e trat, die ökologische Frage, die „in der konkreten Situation“ leider gar nicht interessierte – so wenig interessierte sie, dass die Grünen nach der Wahl nicht mehr im Bundestag saßen -, dass er sich aber a u c h n i c h t d i e a n d e r e F r a g e , die momentan so mächtig war, zu eigen machte, sondern sie dem Gegner überließ.
Das war sein Fehler und der Fehler des ganzen von ihm repräsentierten Bündnisses. Das revolutionäre Subjekt, wäre es schon vorhanden gewesen, hätte es anders gemacht. Es hätte die Frage anerkannt, die nun einmal herrschte, und sie anders beantwortet als der alte und neue Kanzler Helmut Kohl. Dass die andere Antwort auch wieder nur der eigenen Frage erteilt werden konnte, dabei bleibt es, das kann man nicht ändern. Aber dann musste eben diese Frage selber so beschaffen sein, dass sie eine überzeugende Antwort auf die Frage der anderen Seite zuließ. Man kann auch sagen, die Niederlage, die man stattdessen erlitt, hätte zur entsprechenden Korrektur, zur neuen nächsten eigenen Frage führen sollen: Das wäre dann ein Fall gewesen, wo „Taktik“ über „Strategie“ entschied statt umgekehrt.
Und was hätte „konkret“ geschehen sollen? Stellen wir uns vor, die Revolutionäre der Anderen Gesellschaft hätten den Wahlkampf geführt: Sie wären nicht neben die Frage der Proportionswahl getreten, sondern hätten sich gefragt, ob in ihr etwas Verallgemeinerbares liegt, aus dem sich Antworten auf die Frage der andere Seite ableiten lassen. Und natürlich hätte es daran nicht gefehlt. Das Verallgemeinerbare an Proportionswahlen ist der „Wert“ Demokratie; sie sind ja weiter nichts als deren Übertragung von der Politik, wo es sie heute nur gibt (in Maßen gibt), auf die Wirtschaft. Aus diesem „Wert“ lässt sich ableiten, dass wenn die deutliche Mehrheit der DDR-Bevölkerung weiter nichts will, als in den westdeutschen Kapitalismus g l e i c h b e r e c h t i g t integriert zu werden, man dies als Demokrat, der man ist, so anerkennt – es ist ja keine Position, die es ausschließt, dass dieselbe Bevölkerung später einmal die Beseitigung des Kapitals ins Auge fasst -; man weist aber darauf hin, dass von Gleichberechtigung gar keine Rede ist. Wurde denn garantiert, dass Löhne und Renten in Ost und West gleich hoch sein würden? Nein, und sie waren es dann auch nicht. Warum konnte dem schnellen DDR-Anschluss – ja, sogar auf Kohls Argument, es gebe nur ein kleines Zeitfenster für die Vereinigung, hätte man sich einlassen können – die Verfassunggebende Versammlung nicht noch folgen? So hätte man sich auf die deutsche Frage eingelassen. Natürlich hätte man gleichzeitig auch von Proportionswahlen gesprochen, das wäre sogar sehr angebracht gewesen. Denn schwerlich wäre die ostdeutsche Bevölkerung in solchen Wahlen für die eigene Deindustrialisierung eingetreten.
Wie gesagt, unser revolutionäres Subjekt wird erst einmal regelmäßig in der Situation sein, auf vorgegebene Fragen antworten zu müssen. Erst wenn es sehr stark geworden ist, kann es selbst die Frage durchsetzen, von der die öffentliche Debatte beherrscht wird. Wie wir sahen, gibt es die Begriffe des revolutionären „Wendepunkts“, des „Risses“ in der „Hauptstadt“, die weil er eingetreten ist „besetzt“ werden kann: Als „Durchsetzung der eigenen Frage“ sind sie ebenfalls linguisiert. Erinnern wir uns schließlich der Unterscheidung von „Anlass“ und „Ursache“, die eine Revolution, im engeren Sinn als Schritt zur revolutionären Neugründung verstanden, nicht anders hat als ein Krieg. Dass es überhaupt zum revolutionären Prozess kommt, hat Ursachen, der Anlass des Neugründungsschritts indessen ist linguistisch gesehen der Augenblick, wo ein „zustoßendes“ Thema, das also gar nicht das eigene ist, dennoch oder gerade deshalb als geeigneter Stützpunkt erscheint, ihn zu vollziehen. Generell wollte ich, um es noch einmal zu sagen, darauf hinaus, dass eine Kraft, die aus ihrer zentralen Einzelfrage, in unserm Fall die Frage der Proportionswahlen, einen „Wert“ verallgemeinernd heraushebt, um von ihm aus noch viele andere Einzelfragen beantworten zu können, sich damit eben a l s p a r l a m e n t a r i s c h e P a r t e i verhält. Die Revolutionäre der Anderen Gesellschaft müssen über eine oder mehrere Parteien unbedingt verfügen, obwohl diese politische Form nicht das einzige und nicht das wichtigste revolutionäre Mittel ist.
Sie müssen letztendlich über mehrere Parteien verfügen. Selbst wenn es bis zur Neugründung nur eine einzige revolutionäre Parlamentspartei geben sollte, spätestens dann müsste sie sich freiwillig und ohne Streit in mehrere zerlegen. Denn noch eher als die heutige kapitalistische Politik muss sich die künftige postkapitalistische als wählbare Vielfalt darstellen.
Das Wichtigste sind die kleinen Gruppen, zu denen sich die Revolutionäre zusammenschließen, und zwar außerhalb ihrer Partei und bevor eine solche überhaupt entstanden sein kann. Das ist, weil die Aktiven es nötig haben, sich selbst wechselseitig zu „erziehen“. Zur Veranschaulichung mag man an die letzten Versuche der Parteigründung denken, besonders an die Piraten. Wie kommt es, dass Menschen sich nicht mehr miteinander arrangieren können? Die Ausmaße der Unleidlichkeit zeigen, dass es ein neues Phänomen ist. Es rührt sicher daher, dass wir alle im Nihilismus sozialisiert sind. Wir mögen uns neue Ziele gesetzt haben, kulturell befreit sind wir damit noch lange nicht. Noch als sich dreißig Jahre zuvor die Grünen gegründet hatten, war es anders gewesen. Damals hatte es die linke „K-Gruppen“-Kultur gegeben, die der neuen Partei hinreichend Stangen einzog. Wenn es heute versucht wird, treffen beziehungslose Individuen aufeinander. Der Fall der Piraten ist deshalb besonders sprechend, weil das Internet der Hauptfokus ihrer Parteigründung war, wo ohnehin die „shitstorms“ in den Orten des Austauschs berüchtigt sind, die ironischerweise „soziale Foren“ heißen. Es ist eben nichts mehr da, keine Tradition, auf die zurückgreifend man Formen des Zusammenhalts, ja der elementarsten Höflichkeit findet, und formlos geht es nicht. Andererseits ist man damit erst richtig in der vorhandenen Gesellschaft, der kapitalistischen, angekommen. Denn die da aufeinandertreffen, sind Private: Ihr Umgang kann nur einer der Konkurrenz sein. Jede(r) „verwirklicht sich selbst“, hält das wie Schillers Räuber für Freiheit und findet nur in der „Selbstverwirklichung“ des anderen eine Schranke, das heißt nur im Krieg, der in Wahrheit nicht Schranke sondern Eskalation ist.
Man muss diese Feststellung auch umkehren, sonst wird sie einseitig. Die Menschen, von denen die Rede ist – wir selbst, ich selbst –, sind nicht „von Natur“ Private oder haben den „Charakter“, privat zu sein, sondern sie verhalten sich so, w e i l die Formen des Zusammenhalts geschwunden sind, was ein unnatürlicher, ja u n m e n s c h l i c h e r Zustand ist. Die Hässlichkeit der shitstorms sagt über „den Menschen“ so viel und wenig aus wie jener Fall von Kannibalismus nach einer Flugnotlandung in den Anden. Es ist eine Mangelerscheinung, und der Mangel kann beseitigt werden. Ich halte es nicht für verkehrt, dem Problem auch ganz äußerlich durch die Einführung von U m g a n g s f o r m e n entgegenzutreten. Klar ist ja ohnehin, dass wieder eine revolutionäre „Disziplin“ entstehen muss. Diskussionen können nach Regeln ablaufen, die man sich gibt, verbale und averbale Gestalten der Aggression kann man bezeichnen und verbieten, ja man kann die Anrede mit Sie für die Zusammentreffen der Gruppen, die sich bilden werden, erwägen. Schon in der Freimaurertradition hat dieser Ansatz eine zentrale Rolle gespielt, und aus einem durchaus vergleichbaren Grund. Damals vor der französischen Revolution ging es um die Einübung von Gleichheit der Menschen untereinander, obwohl sie teils Adlige, teils Bürgerliche waren. Wären sie ohne künstliche Umgangsformen aufeinandergetroffen, hätte sich nur Arroganz auf der einen, Subalternität auf der andern Seite zeigen können. „Gleichheit“ war in einem gewissen „rousseauistischen“ Sinn, wenn man so sagen will, wirklich das Natürlichste, historisch-konkret betrachtet war es aber etwas durchaus Künstliches. Von ebensolcher Künstlichkeit ist heute die Solidarität der Revolutionäre, deshalb sollten auch sie sich ein Ritual schaffen, wenn auch natürlich ein ganz anderes. „Grade“ und „Stufen“ werden sie sicher nicht einführen.
Die revolutionären Gruppen würden von Anfang an nach außen wie nach innen aktiv sein. Innen, um damit zu beginnen, würden sie wie gesagt auch Lesegruppen sein. Einen Minimalkanon würde es geben: Marx, Polanyi, Ostrom – wer noch? Es ginge aber nicht bloß um Theorie und politische Aktion, sondern die Gruppen wären auch Ort der kulturellen Aneignung und Auseinandersetzung. Schon Peter Weiss hat das in seinem großen Roman Ästhetik des Widerstands postuliert und vorgeführt, doch geht es um weit mehr, als da zu lesen ist. Denn die Revolutionäre werden nicht bloß in der Kunstgeschichte nach Spuren des Widerstands und der Unterdrückung suchen, als ob immer schon klar wäre, was das Widerständige ist und sein soll, sondern danach zu suchen und sich selbst erst zu finden – die eigene Individualität und Individuation -, ist der Grund, sich im Kulturellen umzutun. Ich werde diesen Punkt später noch vertiefen.
Was die Zusammensetzung angeht, sollte sie in jeder Hinsicht gemischt sein – nach Geschlechtern wie nach sozialen Klassen. Darin sind die Gruppen wieder den Logen ähnlich, dass solche Verschiedenheiten, gerade wenn es auf sie nicht ankommen soll, erst einmal herbeizitiert und, wo es zu Konflikten kommt, auch durchgearbeitet werden müssen. Natürlich besteht hier auch der größte Unterschied zu den Logen, denn diese waren und sind nur Männerbünde. Dabei haben dann Frauen in der französischen Revolutionen ihre besondere Rolle gespielt, wie überhaupt in allen Revolutionen. Sie bestand bisher wohl immer hauptsächlich darin, dass sie die Disziplin der Soldaten zersetzten oder diese direkt zum revolutionären Seitenwechsel veranlassten – Bizets Oper Carmen, die kurz nach der Pariser Commune 1871 entstand, handelt davon. Heute ist die starke, wenn nicht führende Beteiligung von Frauen deshalb wichtig, weil es immer auch darum geht, die Fähigkeit des Denkens und kommunikativen Sprechens aufrechtzuerhalten – wenn Denken Fragen- und Antwortenkönnen heißt, ist das eine die Kehrseite des andern – oder wieder zu wecken und weil man den Eindruck hat, dass viele Männer sie verloren haben, kaum jemals jedoch Frauen. (Vgl. Verf. / Gudrun Kohn-Waechter, Carmen und die Revolution, in Das Argument 153 [1985], S. 648-688, wo schon Beides zusammengesehen wird.)
Die Logen waren auch darin beschränkt, dass sie bei allem Interklassismus ausgerechnet die Werktätigen draußen vor ließen. Und das, obwohl Freimaurer im Mittelalter als Handwerkervereine entstanden waren, wie ja schon der Name verrät. Gerade daran wäre heute zu erinnern: dass diese Vereine, bestehend aus den Baumeistern der Kathedralen, aus diesem ihrem Arbeitsziel – und nicht daraus, dass sie nur überhaupt arbeiteten, wie man es etwa auch bei der Anfertigung von Bomben tut – ihr Selbstverständnis und ihren Handwerkerstolz zogen. Gut wäre es, wenn heute Arbeiter, Kleinbürger, Intellektuelle in derselben Gruppe zusammensein könnten, denn wer die klassenlose Gesellschaft will, muss sie auch vorwegzunehmen versuchen. Das heißt aber nicht, dass sich eine Gruppe, die mit dieser oder einer anderen Differenz nicht klarkommt, dennoch zusammenbleiben müsste. Sie kann sich in zwei oder mehr Gruppen teilen, die dann von außen freundschaftlich verkehren. Womit schon, im Keim, die Frage der „Rätedemokratie“ aufgeworfen ist.