Es beginnt hier das zweite und letzte Kapitel meiner „Retractationes“, deutsch „Rückbesinnungen“ – auf Die Andere Gesellschaft, meine zwischen Anfang 2009 und Anfang 2016 geschriebene Blogserie -, was nicht geradezu Widerruf heißen muss wie bei Augustinus, von dem ich den Titel entleihe. Auch bloße Unschärfen der Argumentation, wo sie zentrale Thesen betrifft, und Leerstellen, die ihre Statik bedrohen, machen eine Nacharbeit erforderlich. Einen Widerruf enthielt das erste Kapitel. Ich widersprach da meiner Annahme, dass „Wählen und Wählen dasselbe“ sei, das heißt immer im Antwort-Diskurs geschehe; diese Annahme hatte die ganze Blogreihe getragen, aber dennoch war nun nachträglich zu zeigen, dass es Wahlen im Antwort-Diskurs noch nie gegeben hat und die von mir propagierten ökonomischen „Proportionswahlen“ ihre Premiere sein werden. Jetzt im zweiten Kapitel geht es um zentrale Desiderata. Unzufrieden war ich vor allem mit meiner Argumentation gegen die These, der Kapitalismus sei mehr oder weniger aus dem Krieg entstanden, und auch damit, wie ich die von mir behauptete Einzigartigkeit des kapitalistischen Expansionsstrebens, das sich aus seinem Streben nach dem „unendlichen Mehrwert“ (Marx) ergibt, bisher nur ungenügend begründet habe. Aus der Arbeit an diesen Baustellen entstanden weitere Verbesserungen, vor allem kann die Frage, aus welcher Art von „Revolution“ die Andere Gesellschaft hervorgehen wird, zuletzt noch einmal aufgegriffen werden.
Vor Augustin verbeuge ich mich, weil er zu den großen Philosophen der Frage gehört. Seinen Satz Quaestio mihi factus sum (Confessiones IV, 4.9) hat auch Hannah Arendt hervorgehoben. „Ich bin mir selbst zur Frage geworden“, übersetzt sie. Was Fragen und Antworten heißt, zeigt etwa Augustins Erforschung des Begriffs der Zeit (auch in den Confessiones), die von der Feststellung ausgeht: „Wenn du mich fragst, was die Zeit ist, weiß ich es nicht, wenn du es mich nicht fragst, weiß ich es“ – eine Feststellung, die noch bei Don José nachklingt, wenn er Carmens Lied „Die Liebe hat niemals ein Gesetz gekannt“ kommentiert: „Was soll das heißen, was ist das für eine Art? Was für eine Unverschämtheit! Das alles, weil ich nicht auf sie geachtet habe! Also, nach dem Brauch der Frauen und der Katzen, die nicht kommen, wenn man sie ruft, und kommen, wenn man sie nicht ruft, ist sie gekommen.“ Nur dass dieser Offizier anders als Augustin nicht weiterfragt, sondern sich lediglich ärgert, dass da überhaupt eine Frage ist. Wie man weiß, wird er zuletzt zum Mörder.
1
Die Frage noch einmal aufzurollen, ob es einen konstitutiven Zusammenhang zwischen der Entstehung des Kapitalismus und den Kriegen der frühen Neuzeit gibt, hatte ich mir seit der Lektüre von Robert Kurz‘ letztem, posthum erschienenen Buch Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 2012, fest vorgenommen. Im Erscheinungsjahr rezensierte ich es nur und will hier mit einem Zitat aus der Rezension einsteigen. Es gelinge Kurz, schrieb ich,
„verschiedenste Forschungsstränge zu verbinden. Die Liste der neben Marx zu Rate gezogenen Autoren ist stattlich: […] Sombart, McNeill, Parker und Zinn zur ‚militärischen Revolution‘ am Beginn der Neuzeit. […] Unter der ‚militärischen Revolution‘ versteht er die Herausbildung eines ‚Apparats‘ zur Kriegsführung, der sich schon in der frühen Neuzeit auf eine Art militärisch-industriellen Komplex gestützt habe. Hier geschah in seinen Augen der Durchbruch zum wirklichen Geld. Hier musste ja der Steuerstaat entstehen: weil so viel Geld ausgegeben wurde, dass das Geld seinerseits begann, sich auf seine eigene Revolution zuzubewegen – die Revolution seiner Entbettung aus allen sozialen, politischen und religiösen Verpflichtungen. Kurz betont besonders den religiösen Aspekt. Geld sei vorher immer eine Form des Opfers gewesen. Wenn er diese Form so strikt vom kapitalistischen Geld unterscheidet, argumentiert er ähnlich wie der in Frankreich viel diskutierte Marcel Hénaff, der von einer ganz anderen Position her ebenfalls behauptet, die vorkapitalistische ‚Gabe‘ und ‚das Geld‘ seien zwei ganz verschiedene Register (Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Suhrkamp 2009). Kurz hält dennoch, mit Walter Benjamin, auch den Kapitalismus für eine Religion.“
Ende 2013 formulierte ich meinen einzigen sehr kurzen Einwand gegen die „Kriegsthese“. Das Argument findet sich in der 106. Notiz am Ende einer Zusammenfassung meiner Ausführungen zur Entstehung des Kapitalismus; ich will die Stelle trotz ihrer Länge ganz zitieren, weil sie auch zeigt, wie wenig kompatibel die These mit meinen eigenen Thesen ist oder mir vielmehr erscheinen musste. Nach diesem Zitat gehe ich näher auf Kurz und die beiden Autoren ein, auf die er sich vor allem stützt, das sind Geoffrey Parker (Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500 bis 1800, Frankfurt/M. New York 1990 [engl. 1988]) und Karl Georg Zinn (Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Opladen 1989). Die Erörterung von Parker und Zinn leitet dann über zu Immanuel Wallerstein, dem bedeutenden Marxisten, der das kapitalistische „Weltsystem“ von seinen Anfängen bis heute erforscht; vier gewichtige Bände hat er schon vorgelegt. Zinn erwähnt ihn, bei Kurz kommt er nicht vor und bei mir ist er auch noch nicht vorgekommen, wofür ich mich kritisiere.
Nun das Zitat aus der 106. Notiz. Ich bleibe im Ganzen beim dort Behaupteten, im Einzelnen wird manches richtigzustellen sein:
„Eine Reihe von Gründen muss uns […] veranlassen, der historischen Entstehung des Kapitals nachzugehen. Grundsätzlich geht es um den Erweis, dass es nicht aus vorher schon bestehenden Ware-Geld-Beziehungen zwangsläufig hervorgehen musste. Denn wir halten dafür, dass Kapital und Ware-Geld prinzipiell verschiedene Sachverhalte sind und es deshalb Ware-Geld weiter geben kann und soll, wenn die Zeit des Kapitals einmal abgelaufen ist. Kapital kann zwar ohne Ware-Geld nicht existieren, sie erklären aber seine Spezifik nicht, den Expansionszwang ins Unendliche. Zu erklären ist, wie dieser Expansionszwang entstanden ist. Dabei bringen uns Ware und Geld nicht weiter, wohl aber hilft uns die Einsicht in seine drei Dimensionen – die ökonomische, staatliche und naturwissenschaftliche – und in seinen Fetischismus, das heißt seinen religiösen Charakter. Denn es zeigt sich, dass erstens die staatliche Existenzbedingung des Kapitals entstand, bevor es ökonomisch in Erscheinung treten konnte, dass zweitens noch vor der staatlichen die naturwissenschaftliche Existenzbedingung entstand und drittens noch vor der naturwissenschaftlichen die religiöse.
Der Kapitalismus als ökonomisches System entstand am Ende des 18. Jahrhunderts und eigentlich genau genommen […] erst im Jahr 1832, als das Bürgertum in England die Regierungsmacht übernahm und seine Ideen von so etwas wie einer Marktmaschine, einem ‚selbstregulierenden Markt‘ (Karl Polanyi) in die Tat umsetzen konnte. Der Weg aber, der dorthin führte, begann mit der Krise des endenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. Bei seiner Rekonstruktion sind wir bis zur Lehre des Renaissancetheologen und -philosophen Cusanus (Nikolaus von Kues) zurückgegangen: Er war der Erste, der dem Gott der Kirche Unendlichkeit direkt als Attribut zuschrieb, statt diese Kategorie nur als auf Gott weltlich hinführende Metapher gelten zu lassen. Isoliert betrachtet kann er weder als Inaugurator eines Unendlichkeits-Diskurses, den man an seinen diskurstypischen blinden Flecken erkennen würde, noch gar als ‚Fetischist‘ angesehen werden. Seine Argumentation ist vielmehr vollkommen rational. Doch wie sich in der beginnenden Neuzeit die gesellschaftliche Krise entfaltet und es zu vielerlei Fluchtbewegungen kommt, greifen Einige auf ihn zurück, um ihm gleichsam Rationalisierungsfermente zu entlehnen. Dabei sind blinde Flecke hilfreich und so entsteht der neue Diskurs.
Der Erste, von dem es gesagt werden kann, ist Giordano Bruno. Bei ihm sind Unendlichkeits- und Fluchtbewegung schon eins, zugleich erscheint die Flucht noch nicht als solche, sondern als Befreiung aus einer Enge, als Öffnung. Das ist sie auch, nur wird in der Folge deutlich, dass die Bewegung sich als solche verselbständigt und damit ziellos wird – nicht nur in der Physik, wo schon Galilei diese Konsequenz zu ziehen beginnt, sondern in der Weltperspektive überhaupt. In der Philosophie ist seit Spinoza entschieden, dass die unendliche Bewegung nirgends hinführt als eben zur Unendlichkeit. Weil er zugleich den unendlichen Gott mit der Natur identifiziert, gerät der religiöse Charakter des Diskurses in den folgenden Jahrhunderten immer mehr in Vergessenheit. Vor allem aber hat er den Kernsatz des Diskurses artikuliert, der zum verborgenen Kernsatz des Kapitals werden wird. Es gebe ein Wesen, lautet er, bei dem Wirklichkeit und Möglichkeit zusammenfalle; in ihm sei alles unendlich Mögliche immer schon real; beim Menschen falle beides nur l e t z t l i c h zusammen, das heißt er brauche den Zeitverlauf, um alles unendlich Mögliche zu realisieren und so erst zu seiner Wirklichkeit zu gelangen. Man findet bei Cusanus Sätze, die ganz ähnlich klingen, auf sie greift man offenbar zurück, doch was sie nun bedeuten, ist neu.
Ausdrücklich unterstreicht Spinoza den Zwangscharakter dieser Figur, a l l e s z u t u n , w a s m ö g l i c h i s t , die später auch als ‚Freiheit‘ artikuliert werden wird. Das Kapital nach der Definition von Marx entspricht ihr genau: ‚Das Kapital als solches‘, lesen wir in den Grundrissen, ‚setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.‘
Auf Spinoza berufen sich die Deisten, die in der englischen Partei der Whigs und in den europäischen Freimaurerlogen zu großem Einfluss gelangen. Auch Benjamin Franklin übrigens, den Max Weber als Zeugen für den calvinistischen Charakter des frühen Kapitalismus anführen will, hatte in Wahrheit, wie Weber selbst einräumen muss, nur einen calvinistischen Vater und war seinerseits Deist. Dafür, dass im Umkreis der englischen Partei zuletzt die Idee des selbstregulierenden Marktes und damit eben – weil dieser auf grenzenlose, unendliche Bewegung hinausläuft – des Kapitals entstand, waren auch Entwicklungen in Frankreich wichtig gewesen. Die Idee und Praxis einer grenzenlosen Macht- und, als Vorbedingung, auch Reichtumsexpansion, die sich nicht mehr an Möglichkeitsgrenzen band, wie das die größten Reiche der Vergangenheit getan hatten, hatte hier ihre erste große Entfaltung. Die Praxis der Reichtumsunendlichkeit ist in gewisser Weise die Kehrseite ausufernder europäischer Kriege, die bezahlt werden wollten, ein Gesichtspunkt, der häufig in den Vordergrund gestellt wird. Indessen hat es ausufernde Kriege in vielen Weltregionen und Epochen gegeben. Ein französischer Beitrag zur Kapitalismus-Entstehung mag auch die cartesische Philosophie der belebten Maschine gewesen sein, die im englischen Konzept der Marktmaschine jedenfalls wiederkehrt. In Frankreich wie in England beobachten wir, wie es zuerst der Staat ist, der große Kapitalgesellschaften bildet, aus welcher Form sich die private Aktiengesellschaft entwickeln sollte. Letzteres lesen wir auch bei Marx.“
So weit das Selbstzitat, in dem beide Desiderata, von denen eingangs die Rede war, ihre Rolle spielen: meine unzulängliche Argumentation gegen die „Kriegsthese“ am Ende und die ebenfalls unzulängliche Begründung meiner eigenen These, ein unendliches Expansionsstreben ganzer Gesellschaften habe es nie gegeben, bevor welche vom Kapitalismus geprägt worden sind („Expansionszwang ins Unendliche“ sei „Spezifik“ des Kapitals). Ich habe damit erst einmal das Feld, auf das ich mich zurückbesinnen will, in Erinnerung gerufen.
2
Was Kurz angeht, kann ich mich kurz fassen. Es ist so, dass er seine Version der „Kriegsthese“ praktisch nicht begründet und sie auch von Parker und Zinn, auf die er sich zu stützen behauptet, nicht begründet wird. Man gewinnt den Eindruck, dass er sich mit beiden kaum ernsthaft auseinandergesetzt hat. Das tut übrigens seinem Buch Geld ohne Wert keinen Abbruch; wie ich in der Rezension ausgeführt habe, hat es seine sehr großen Qualitäten, die indessen anderswo liegen. Damit, dass der Steuerstaat aus den Kriegen entstand und dieser für die Entstehung des Kapitalismus wichtig war, hat Kurz zwar zweifellos recht. Für ihn verkürzt sich der Zusammenhang aber darauf, dass sich durch den neuartigen Kriegskomplex, neuartig deshalb, weil er sich ausdehnte wie nie zuvor, das Geld entscheidend verselbständigte (a.a.O., S. 128). Mit andern Worten, er greift auf die „Kriegsthese“ deshalb gern zurück, weil er die sogenannte Neue Marxlektüre, die ich beginnend mit der 46. Notiz kritisiert habe, während Kurz ihr Anhänger ist, historiografisch zu bestätigen scheint. Zum Kapitalismus, meint er, komme es automatisch, sobald Geld im modernen, nicht mehr religiösen sondern pur ökonomischen Sinn mitspiele (S. 119: „Es war diese Verschmelzung der heraufdämmernden unheiligen Dreieinigkeit von Kanonen, Staatlichkeit und Geld, die zur Geburt des monströsen Kapitalfetischs führte, natürlich ohne dass sich die bornierten Akteure über die Tragweite ihres Treibens bewusst waren.“). Dahinter steht der übliche Lehrsatz, dass wer das Kapital abschaffen wolle, das Geld abschaffen müsse.
Aber Kurz geht auch auf das Geschichtliche in Wahrheit überhaupt nicht ein. Vor allem wenn er behauptet: „Der allseitige Zwang zum ‚Geldverdienen‘ nicht für eigene Zwecke, sondern für den fremden, äußeren Zweck des staatlich-militärisch-industriellen Monsters konstituierte einen noch nie dagewesenen Markt, auf dem die ‚Wechselseitigkeit‘ der Akteure nur noch eine leere formale Hülle war, weil lediglich ein funktionales Handeln für die gewaltsam darüber gestülpte ‚Geldbeschaffungsmaschine‘“ (S. 120), fragt man sich, wovon er denn eigentlich spricht. Wie konnte denn auf dem Markt der Kriegsgüter Geld beschafft werden? Gewiss beschafften es sich deren Verkäufer, doch die Staaten als einzige Käufer verloren es im selben Maß. Auf diese Art kommt ganz bestimmt keine Marktwirtschaft in Gang, und kapitalistisch, als beständig sich ausdehnend, kann sie schon gar nicht werden. Wir werden es noch näher sehen, wenn wir Parker, Zinn, Wallerstein und auch noch einmal Marx lesen. Wenn hier jemand etwas „überstülpt“, dann Kurz selber, der die Generalthese der Neuen Marxlektüre wie einen Bachschen Cantus firmus über einer Realgeschichte schweben lässt, die ganz anders geartet war.
Bevor wir zu den von Kurz genannten Autoren kommen, will ich noch knapp auf David Graeber eingehen, dem es ebenfalls wichtig ist, Märkte vom Krieg herzuleiten. Bei ihm wird noch deutlicher als bei Kurz, dass das eine Art ist, Märkte zu diskriminieren. Was vom Krieg herrührt, wie kann das gut sein? Dabei geht er auf kapitalistische Märkte nicht einmal ein, was sein auf Indien und China, danach erst auf Griechenland bezogenes Argument auch gar nicht hergeben würde. Ich habe es in der 97. Notiz zitiert und eigentlich unkommentiert stehengelassen:
„Märkte entstanden eindeutig im Zusammenhang mit den Armeen der Antike; wir brauchen nur einen Blick auf Kautylas Arthashastra zu werfen, den ‚Kreis der Souveränität‘ der Sassaniden oder die chinesischen ‚Reden über Salz und Eisen‘, dann stellen wir fest, dass die meisten antiken Herrscher einen großen Teil ihrer Zeit darauf verwendeten, über die Beziehung zwischen Minen, Soldaten, Steuern und Essen nachzudenken. Die meisten kamen zu dem Schluss, derartige Märkte seien nicht nur hilfreich, um die Soldaten zu ernähren, sondern in vielerlei Weise nützlich, denn ihre Existenz bedeutete, dass die Beamten nicht mehr alles, was sie brauchten, bei der breiten Bevölkerung requirieren oder die Möglichkeit ersinnen mussten, wie man es auf den königlichen Ländereien und in den königlichen Werkstätten produzieren konnte.“ „Wenn man […] den Soldaten einfach Münzen gab und dann verfügte, jede Familie im Königreich habe dem König eine solche Münze zu zahlen, dann hatte man mit einem Schlag seine ganze Volkswirtschaft in eine gewaltige Maschinerie zur Versorgung der Soldaten verwandelt. […] Als Nebeneffekt entstanden Märkte.“ (Schulden. Die ersten 5.000 Jahre, Stuttgart 2012, S. 56)
Über Griechenland: „Wohl dienten die griechischen Münzen zunächst hauptsächlich dazu, Soldaten zu entlohnen, Strafen und Gebühren zu zahlen und Abgaben an die Regierung zu entrichten. Die griechischen Stadtstaaten gaben als Zeichen ihrer Unabhängigkeit ihre eigenen Münzen aus. Es dauerte nicht lange, bis die Münzen überall für alltägliche Geschäfte verwendet wurden. Ab dem 5. Jahrhundert fungierte in den griechischen Städten die Agorá, der Platz, auf dem öffentliche Debatten und Bürgerversammlungen stattfanden, auch als Marktplatz.“ (S. 195 f.)
Da Graeber mit Indien und China beginnt, ist klar, dass sein Argument nur beansprucht, Märkte überhaupt, nicht kapitalistische Märkte aus dem Krieg herzuleiten. Auch so aber leidet es unter derselben Schwäche wie das Kurzsche Argument: Der staatliche Kauf von Kriegsingredienzien, in diesem Fall Söldnern, konstituiert keinen Markt, wenn man diesen mit Marx durch die Struktur W-G-W, also Ware gegen Geld, Geld wieder gegen Ware, definiert. Denn das Geld, das die Söldner gegen Ware hergeben, resultiert seinerseits nicht aus einem Warenverkauf, vielmehr aus staatlicher Gewaltanwendung. Ich möchte noch etwas Anderes hervorheben. Dass Söldner ihren Sold Marketendern und Marketenderinnen wie der Mutter Courage gaben, ist unbestreitbar. Ist das „schlimm“? Ja, es ist schlimm. Der Brechtschen Veranschaulichung kann sich niemand entziehen. Doch als die Mutter Courage Waren anbot, waren schon zwei Jahrtausende mit Söldner- (und anderen) Kriegen vergangen. Klar, da hätten sie längst verschwunden sein sollen. Graeber indes schreibt über den Anfang der Entwicklung und hätte gut getan zu erwähnen, dass das Marketenderwesen anfangs einen zivilisatorischen Fortschritt bedeutete. Inwiefern, kann man bei Xenophon nachlesen. In dessen Anabasis tritt der Autor selbst als Anführer von Söldnern auf, die sich durch Feindesland schlagen: „Wo wir“, lässt er sich eine Rede halten,
„auf unserem Zuge keinen Markt finden, sei es im barbarischen oder griechischen Land, da nehmen wir die Lebensmittel, nicht aus Übermut, sondern aus Not. Auch die Karduchen, Taochen und Chaldäer, die doch dem [‚barbarischen‘] Großkönig nicht untertan sind, haben wir uns ja zu Feinden gemacht, […] weil wir gezwungen waren, die Lebensmittel zu nehmen, da sie keinen Markt eröffneten. Die Makronen aber, die ja auch Barbaren sind, haben wir für unsere Freunde gehalten und ihnen nichts gewalttätig weggenommen, da sie, so gut sie konnten, uns einen Markt eröffneten. Die Kotyoriten aber […] haben es selbst verschuldet, wenn wir ihnen etwas genommen haben. Denn nicht wie Freunde sind sie mit uns verfahren, vielmehr haben sie die Tore verschlossen, ohne uns aufzunehmen oder Lebensmittel zum Kauf herauszuschicken.“ (V, 5 nach der Übersetzung von Walter Müri)
„Ihnen etwas genommen haben“, was das heißt, wird an vielen Stellen des Berichts deutlich. Es heißt Brandschatzung. Es heißt, dass „sobald sie einmal eingedrungen waren“, es „ein furchtbares Schauspiel“ gab: „die Frauen warfen ihre Kinder hinunter und stürzten sich ihnen nach und die Männer desgleichen“ (IV, 7). Wenn stattdessen ein Markt eröffnet wird, kann das den Krieg bestimmt nicht rechtfertigen. Doch lässt sich auch kein Argument gegen Märkte daraus gewinnen.