(153) Antwortdiskurs und präsentative Demokratie

1. Proportionwahlen und präsentative Demokratie / Sechster Teil - Retractationes

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Alles Wählen, wie es bisher verstanden und organisiert wurde, hat den Frage-Antwort-Mechanismus an der oder jener Stelle eingeschränkt. Ich fasse die Einschränkungen hier noch einmal in einer Liste zusammen:

– Die Chance zu fragen hatten bisher nie alle Teilnehmer, stattdessen mussten sich viele oder die meisten mit dem „Abstimmen“, das heißt Antwortgeben auf nicht mehr beeinflussbare, von anderen gestellte Fragen begnügen. Am geringsten noch war die Schranke beim metaphorischen Wählen, denn wenn hier die jüngeren Männer nur antworteten, wussten sie doch, dass sie später als „Älteste“ auch mit dem Finden der Fragen befasst sein würden. Wesentlich ungünstiger sieht es beim subsumtiven Wählen aus, denn hier ist immer klar, dass nur ein kleiner Kreis, der eigentlich herrschende, die Fragen findet und vorschreibt, während die allermeisten bis zum Lebensende nur antworten. Am ungünstigsten nimmt sich aber das Angleichungs-Wählen aus, denn hier ist praktisch überhaupt niemand zum Fragenaufwerfen berechtigt. Die meisten fragen nur „nach“, dem „Angebot“ nämlich, dieses aber wird hingestellt unter dem Zwang, ein mathematisches Optimum errechnen zu müssen.

– Wie um die wenigen Freiheitsgrade so klein wie möglich zu halten, waren die Wahldiskurse sinnreich mit sozialen Freiheiten und Unfreiheiten kombiniert. So waren Frauen am metaphorischen Wählen niemals beteiligt. Auch das unfreiere subsumtive Wählen schloss sie lange Zeit aus, wie auch die Sklaven, die sich selbst die USA bis ins 19. Jahrhundert hinein hielten. Erst im 20. wurde es überall im Westen auf beide Geschlechter ausgedehnt. Am ökonomischen Angleichungs-Wählen, das am unfreiesten ist, konnten sich aber immer alle beteiligen – selbst Sklaven dürfen kaufen und zuletzt wird das „Recht“ noch den kleinsten Kindern offeriert.

– Streng genommen stimmt es nicht, dass immer ein Teil und meist der größte nur antworten durfte. Zum Begriff der Antwort gehört es nämlich, dass sie darin bestehen kann, die gestellte Frage zurückzuweisen. Dies war aber niemals in den Wahlordnungen vorgesehen. Infolgedessen unterschied sich Antworten nicht von Gehorchen. Auch wer gehorcht, darf ja zwischen mehreren Möglichkeiten, einem Befehl nachzukommen, auswählen. Man kann es auch so ausdrücken, dass wenn nur Einige zum Fragenaufwerfen berechtigt sind, dies schon per se das Antwortenkönnen der Anderen ausschließt. Fragenaufwerfen heißt, dass einige Fragen ausgewählt und andere dafür ausgeschieden werden. Es kann nicht anders geschehen, als dass bestimmte Fragen zurückgewiesen werden. Die Handlung, in der man Fragen zurückweist, ist aber das Antworten. Antwortenkönnen lässt sich vom Fragenaufwerfen nicht trennen.

– Wenn es in einem Gemeinwesen Erwachsene gibt, die zum Fragenaufwerfen nicht imstande sind, dann ist es schon von daher unmöglich, es im Vollsinn zu demokratisieren. Dieser Mangel hat bei allem bisherigen Wählen mitgespielt.

– Es macht einen Unterschied, ob ein Gemeinwesen oder ob ein Einzelner fragt und antwortet. Bei diesem ist es damit getan, dass er unter möglichen Antworten eine auswählt. Es mag Fälle geben, wo ihm die Entscheidung schwer fällt, so dass schon hier von einer Art Mehrheitsbildung gesprochen werden könnte; eine Mehrheit der Gesichtspunkte, Interessen, Rollen, Affekte gibt schließlich den Ausschlag. All das spielt auch mit, wenn eine Gesamtheit von Bürgern Fragen aufwirft und zu antworten versucht, hier aber führen die Interessen und Affekte dazu, dass der Zerfall des Gemeinwesens droht. Deshalb fand man Mechanismen der Komplexitätsreduktion, wobei es schon schwierig genug war, das Nebeneinander mehrerer Parteien friedlich auszuhalten. Ein Gemeinwesen, das zusammenhält, während  a l l e  E i n z e l n e n  je für sich fragen und ihre je eigenen Antworten geben, war niemals vorstellbar. Das Äußerste, wozu man gelangen konnte, war die Mehrheit: Hier konnten die Anliegen Einzelner, die anders waren als die Anliegen anderer Einzelner, noch am ehesten Berücksichtigung finden. Die Mehrheitsposition war aber in sich selbst ein Konsens, der dem Anliegen  j e d e s  Einzelnen niemals genau entsprach. Er entsprach ihm nur besser als die konkurrierende Position. In den archaischen Gesellschaften, die metaphorisch wählten, war schon die Mehrheit als Konsens in sich zu viel: Der Konsens musste alle einschließen. Aber hier wurden noch vor der Konsensbildung die möglichen Optionen unterschieden. Die kapitalistischen Ökonomie verträgt selbst das nicht, stattdessen muss immer das Optimum gesucht und gewählt werden.

Das sind die Schranken. Ihr Wegfall würde ein Wählen rein nach dem Antwort-Diskurs definieren:

–  A l l e  Wählenden antworten nicht nur, sondern fragen auch;

– alle haben dazu  d i e  F ä h i g k e i t ;

–  d a s   G e m e i n w e s e n  wählt: „Alle Wählenden“ heißt alle, die zum Gemeinwesen gehören;

– es heißt auch, dass alle so wählen, wie es ihnen  a l s  E i n z e l n e n  in den Sinn kommt, und dennoch ihre Allheit – der Zusammenhalt des Gemeinwesens – gewahrt bleibt; aus diesem Grund spreche ich von der  p r ä s e n t a t i v e n  D e m o k r a t i e , in der eben die Einzelnen nicht repräsentiert werden, sondern selbst als Einzelne agieren und sich Geltung verschaffen;

– wenn Wählen Fragen und Antworten heißt, heißt es, dass Fragen entweder so beantwortet werden, wie sie gestellt worden sind, oder so, dass  d e n  F r a g e n  w i d e r s p r o c h e n  w i r d  und man sie zurückweist, um andere an ihre Stelle zu setzen.

2

Wie jetzt zu zeigen, werden die fünf Kriterien von den „Proportionswahlen“, die ich in der Blogreihe vorgestellt habe, sämtlich erfüllt. In der Anderen Gesellschaft, von der ich immer spreche, laufen zwar auch die historisch älteren Wahlarten weiter mit. Die neuen ökonomischen Wahlen sollen aber hinzukommen und dominant sein. Wie die neue Dominanz das Ältere mit der Zeit verwandelt, muss man abwarten. Der Vorgang ist jedenfalls nicht so, dass ein älteres Wählen nun auch noch auf den ökonomischen Bereich ausgedehnt wird, sondern gerade umgekehrt:  E r s t m a l s  kann  w i r k l i c h  f r e i  gewählt werden, in einem Teilbereich zunächst nur, doch weil es der grundlegende ist, steht zu erwarten, dass die  n e u e  F r e i h e i t  aufs Ältere allmählich übergreift.

„Alle Wählenden antworten nicht nur, sondern fragen auch“ – die vom subsumtiven Wählen untrennbare Scheidung in Deliberierende und bloß Abstimmende, das heißt in Herrschende und Beherrschte, ist aufgehoben. Es gibt zwar auch bei der Proportionswahl Gruppen, die ökonomische Programme ausarbeiten und zur Wahl stellen. Aber erstens steht es allen Individuen frei, solche Gruppen je und je ad hoc zu bilden. Und zweitens heißt „zur Wahl stellen“ hier nur, dass solche Programme  v o r g e l e g t  w e r d e n  und von allen Wählenden berücksichtigt werden  k ö n n e n , nicht müssen. Sie sind nur eine Orientierungshilfe bei dem, was jedes wählende Individuum für sich allein tut, nach Beratschlagung vielleicht mit Angehörigen und Freunden, nämlich dass es über die Proportionen seines eigenen Kontos und Portemonnaies entscheidet.

Es geht hier nicht mehr darum, dass die Position einer Mehrheit in der Weise sich durchsetzt, dass ihr eine Minderheit entspricht, die leer ausgeht, und ihr allenfalls Zugeständnisse gemacht werden. Sondern  a l l e  Positionen, die Positionen  a l l e r  E i n z e l n e n , werden gültig (mit den in der 113. Notiz erörterten Ausnahmen), obwohl sie alle verschieden sind. Das eben macht die „präsentative Demokratie“ aus. Und doch geht es  a u c h  darum, dass Mehrheit und Minderheit festgestellt werden und die Feststellung  o b j e k t i v e  K o n s e q u e n z e n  hat. Denn es werden ja Proportionen gewählt. Motorisierter Privatverkehr und öffentlicher Verkehr, um ein Beispiel zu nehmen, bilden eine Proportion, diese wird gewählt und das Ergebnis kann sein – ökologische Wahlkämpfer werden dafür eintreten -, dass in Zukunft mehr öffentlicher als privater Verkehr produziert wird. Alle Einzelnen aber, die weiter Privatautos fahren wollen, können das tun, obwohl sie mit ihrem Willen in die Minderheit geraten sind.

„Alle haben dazu die Fähigkeit“: Das ist die Eigenart des Ökonomischen, dass jeder und jede an ihm teilhat, eine Vorstellung der eigenen Bedürfnisse hat und diese also auch artikulieren kann. Müsste eine Einzelne sich überlegen, welche Konsequenzen es fürs Gesamtgefüge der volkswirtschaftlichen Proportionen hat, wenn sie dafür votiert, ohne Auto in der Stadt zu leben, und sich sagt, dass viele andere vielleicht genauso votieren, sie wäre wohl überfordert. Aber sie braucht das nicht zu überlegen. Wenn sie es überlegen will, aber nur dann, kann sie die im Umlauf befindlichen Wahlprogramme zur Kenntnis nehmen. Und natürlich ist zu hoffen und wird es propagiert werden, dass sie es will. Denn als  g e s e l l s c h a f t l i c h e s Individuum sollte sie sich für die Konsequenzen, die ihr privater Lebensstil für andere hat, schon interessieren. Aber dieser ist es jedenfalls, den sie in der Wahl zur Geltung bringt. Fügt man noch hinzu, dass wenn alle ihre Stimme abgegeben haben, das Wahlergebnis im Fall, dass es vom Möglichen abweicht, diesem angepasst wird, ist auch das andere Kriterium erfüllt: „Alle wählen so, wie es ihnen  a l s  E i n z e l n e n  in den Sinn kommt, und dennoch bleibt ihre Allheit – der Zusammenhalt des Gemeinwesens – gewahrt.“

Wenn ich sagte, es stehe allen Individuen frei, eine Gruppe zu bilden, die ein Wahlprogramm vorlegt, scheint das auf den ersten Blick eine Überforderung zu sein; man glaubt, nur ausgebildete Volkswirtschaftler könnten sich dergleichen zutrauen. Es ist aber keine. Denn wie ich ausgeführt habe, bilden sich solche Gruppen nicht ohne Anlässe, die jedermann problematisch erscheinen (können). Nehmen wir die Frage des Rindfleischs, wozu es das ungemindert wichtige Buch von Jeremy Rifkin gibt (Das Imperium der Rinder, Frankfurt/M. New York 1994). Vielleicht interessiert sich niemand für sie, aber volkswirtschaftlich kompetent muss man nicht sein, um sich interessieren zu können. Jedermann, der begreifen will, begreift rasch, dass ein Mengenverhältnis von einem Rind, das auf drei Menschen kommt, ökologisch und für die Nahrung der Menschheit die verheerendsten Folgen hat; ein kleiner Teil der Menschheit frisst sich über daran und wird dadurch sogar noch kränker, als er sein müsste (die UNO rief es 2015 in Erinnerung, ein einzelner bayerischer Minister reichte, es abbügeln zu können), während dem großen Rest Anbauflächen verloren gehen und diese mit der Zeit zu Wüsten werden. Man kann es in einer Minute erläutern. Dies Wissen, verbunden mit Engagement, ist hinreichend, eine Gruppe bilden zu können, die für eine andere Proportion Fleischnahrung zu pflanzlicher Nahrung eintritt. Wenn die Gruppe eine gewisse Schwelle an Unterschriften sammeln kann, müssen Proportionswahlen abgehalten werden. Diese Gruppe muss dann freilich mit dieser einen Proportion alle anderen in Übereinstimmung bringen. Aber dazu kann sie die institutionalisierte Hilfe von Volkswirtschaftlern in Anspruch nehmen (wie das schon heute die ausgelosten Gruppen der „deliberativen Demokratie“ tun können).

„‚Alle Wählenden‘ heißt alle, die zum Gemeinwesen gehören.“ Diese Regel kann durchgehalten werden, ohne dass ausländischen Anbietern der Zugang zum inneren Markt verlegt werden müsste. Sie sind den inländischen Anbietern gleichgestellt, was nun eben heißt, sie haben in Rahmen desselben Proportionsgefüges zu produzieren und anzubieten wie diese. Dass Kinder nicht mitwählen, ist keine konzeptionelle und verfassungsmäßige, sondern nur eine logische Einschränkung: Sie haben ja nicht unabhängig von ihren Eltern ein Portemonnaie, das sie aufteilen könnten. Man könnte sogar überlegen, ob man sie im Rahmen ihres Taschengelds mitwählen lässt. Da das aber die Reicheren zum Missbrauch treiben mag, wird es wahrscheinlich besser sein, das Wahlrecht strikt ans  s e l b s t e r z i e l t e  Einkommen zu binden. (Oder man lässt Kinder mitwählen, damit ihre Stimme bemerkt wird, aber es hätte auf der Basis von Null Einkommen keine ökonomischen Konsequenzen.) Ein solches Wahlsystem hat mehr Berechtigte als das subsumtive und sogar auch als das metaphorische. Mehr als das subsumtive, weil viele Menschen schon vor dem parlamentarischen Wahlalter Geld verdienen, und mehr als das metaphorische, weil niemand warten muss, bis er oder sie „alt“ geworden ist. Ökonomische Bedürfnisse ziehen sich ja durch alle Lebensalter und haben in jedem ihren eigentümlichen Charaker. Es wird nun freilich auch nicht mehr möglich sein, die Produktion nur an der Jugend auszurichten, wie es heute geschieht.

3

Wir kommen zum Wichtigsten: Diese Wahlen folgen den Antwortdiskurs dann und nur dann, wenn sie es zulassen, dass Fragen nicht nur aufgeworfen, sondern auch zurückgewiesen werden können, und zwar von allen. Was sind in der Ökonomie Fragen? Wie ich oft unterstrichen habe, sind sie nicht das, was in der Summe die sogenannte „Nachfrage“ ausmacht. Diese ist bestenfalls Antwort, auf das Warenangebot nämlich, überwiegend aber auch Gehorsam, weil den Nachfragenden nichts übrigbleibt, als  v o m  A n g e b o t e n e n  etwas auszuwählen. Die grundlegende und „eigentliche“ Frage der Ökonomie lautet heute „Was präsentieren wir als Angebot“. Die sie stellen, sind die Kapitalisten und das zeigt erst einmal, dass diese Fragenden sich nur selbst fragen (wenn man das „fragen“ nennen kann, was sie tun; eigentlich rechnen sie nur). Die „Nachfrage“ demgegenüber, wenn einer sich etwa fragt, ob er VW oder BMW kaufen soll, kommt nur unter der Voraussetzung jener schon gegebenen Antworten (die eigentlich keine sind) der Kapitalisten ins Spiel, etwa als wenn ich in einem Labyrinth ausgesetzt bin und mich nun frage, ob ich links oder rechts den Ausweg suche.

In der Anderen Gesellschaft befragen sich stattdessen die Individuen selbst, alle Individuen, woraufhin nicht nur die „Nachfrage“ obsolet wird, sondern das „Angebot“ nicht minder. Dies Wort hat seinen Sinn verloren, weil es keine Sondergruppe mehr gibt, die über das zu Produzierende entscheidet. „Angebot“ heißt, es ist etwas produziert worden unter der Regie von Leuten, die es dann dem Gehorsam der Käufer überlassen – steckt doch im „Angebot“ das Gebot -, ganz wie das Nachfragen schon in der Bibel denen geboten ist, die sich darum kümmern sollen, ob Gott der Herr einen neuen Befehl parat hat, den sie nur noch nicht kennen (vgl. Jesaja 65). Da in der Anderen Gesellschaft  a l l e  ökonomisch sich selbst fragen,  g e b i e t e t  n i e m a n d  dem Anderen: „Was soll produziert werden“ ist nun wirklich eine Frage geworden. Und zwar fragen alle indirekt: „Was sind meine ökonomischen Bedürfnisse?“ Alle Bedürfnisse zusammen implizieren eine bestimmte Produktion.

So allgemein wird aber niemals gefragt, sondern die Fragen sind stets spezifischer gewesen und werden es bleiben. In ihrer Spezifik können sie dann auch zurückgewiesen werden. Schon die bloße Ingangsetzung der Anderen Gesellschaft weist die Selbstfragen derer zurück, die heute allein die Produktion beherrschen – der Kapitalisten. Alles was sie produzieren lassen, steht ja unter der Frage „Wie maximiere ich den Profit“. Als Antwort erscheint dann etwa die Strategie des Verkaufs selbstfahrender Autos. Es steht auch unter Fragen, die von der historisch bestimmten Naturwissenschaft nahegelegt werden, was die Kapitalisten nicht einmal selbst durchschauen, etwa „Wie treibe ich das Beschleunigen voran“ oder „Wie ersetze ich die natürliche Welt durch eine künstliche“. Die Wählenden werden nicht nur das oder jenes bestimmte „Angebot“ ablehnen, sondern ihre Wahl einer anderen Antwort wird die Zurückweisung der Fragen selber, auf die ein solches „Angebot“ erfolgte, implizieren.

Aber das ist nicht alles und erledigt sich ja mit der bloßen Gründung der Anderen Gesellschaft. Von da an kann es nur noch darum gehen, dass  d i e  W ä h l e n d e n  nicht nur sich selbst fragen, was ihre ökonomischen Bedürfnisse sind, sondern diese Selbstfragen gegebenenfalls auch selbst zurückweisen. Die Selbstbefragung als solche wird natürlich nie zurückgenommen, ihr Ergebnis aber soll stets überdacht werden können. Ein Fragen, das nur anfinge und dann wieder aufhörte, wäre ja auch ein Unding. Dass mir nahegelegt wird, meine Selbstfrage zu überdenken, ist an der Proportionswahl geradezu das Wichtigste.

Um das Vernünftige durchsetzen, zum Beispiel die ökologisch Vernunft, gibt es zwei Möglichkeiten, die Diktatur und das freiwillige Vernünftigwerden einer Mehrheit, die sich immerzu noch vergrößert. In Wahrheit gibt es nur eine Möglichkeit, die letztere, denn nachhaltige Diktaturen sind in der modernen Welt unmöglich geworden, und nachhaltig müsste sie schon sein, um etwas bewegen zu können. Proportionswahlen sind die ökonomische und auch politische Form, in der die teilnehmenden Menschen sich selbst, weil niemand es ihnen abnimmt, zur Vernunft bringen können. Es geht so vor sich, dass der Proportionswahlkampf verstockte Positionen, die ich vielleicht vertrete, in Frage und zur Diskussion stellt. Sie konfrontiert mich mit Informationen, etwa zu den verheerenden Folgen übermäßigen Rindfleischkonsums, und kann den Gedankenverbund, auf den sich meine bisherige Haltung stützt, ins Wanken bringen. Nicht alle werden sich beeindrucken lassen, einige aber schon – bei der Erörterung der „deliberativen Demokratie“ haben wir gesehen, dass dies inzwischen sogar empirisch belegt ist -; es kommt dann eine etwas andere Proportion heraus. Auf dem sozialen Gebiet ist es nicht anders. Ob „Entwicklungshilfe“ von einem fernen Ministerium aus betrieben wird oder ich selbst entscheide, wie viel von meinen Steuern eher dafür als für mein Bedingungsloses Grundeinkommen abgezweigt werden soll, macht einen Unterschied. Derart kann etwas vorankommen, anders nicht.

Wahlen solcher Art hat es noch nie gegeben, weder auf ökonomischem Feld noch auf politischem. Ich propagiere also nicht einfach, dass nunmehr auch die Ökonomie gewählt werden solle. Vielmehr schlage ich ein Wählen  n a c h  d e m  A n t w o r t d i s k u r s  vor. Und da es in der Ökonomie schon heute an keiner Möglichkeitsbedingung mehr fehlt, wünschte ich mir die sofortige Verwirklichung.

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Es folgt ein weiteres und nun wirklich letztes Kapitel, in dem es noch einmal um die Eigenart des Kapitalismus, um seine Entstehung und auch um die Revolution geht, die ihn beenden wird. Der Turnus ist wie bisher: Jeden Montag, beginnend mit dem nächsten, wird ein Eintrag veröffentlicht.