1
Ich komme nun wie angekündigt zu Geoffrey Parker, dem Erforscher der „militärischen Revolution“ in der frühen Neuzeit, danach zu Karl Georg Zinn. Aus Parkers Standardwerk gleichnamigen Titels lässt sich entnehmen, mit wie viel Geld diese Revolution erkauft werden musste und wie schwer es den Staaten fiel, es aufzubringen. Da wird gleich anfangs klar, dass mein Argument gegen die „Kriegsthese“ – von den frühneuzeitlichen Kriegen sei der Kapitalismus hervorgebracht worden: so Robert Kurz, der sich auf Parker und Zinn meint stützen zu können – in der 106. Notiz nicht ganz unvernünftig gewesen ist. Ich hatte es in der vorigen Notiz in Erinnerung gerufen: „Die Praxis der Reichtumsunendlichkeit ist in gewisser Weise die Kehrseite ausufernder europäischer Kriege, die bezahlt werden wollten, ein Gesichtspunkt, der häufig in den Vordergrund gestellt wird. Indessen hat es ausufernde Kriege in vielen Weltregionen und Epochen gegeben.“ Dabei dachte ich besonders an China, in dem sich wie in Europa über längere Zeit viele Staaten bekämpften („Zeit der streitenden Reiche“ zwischen 770 und 221 vor Christus), bis es, anders als in Europa, gelang, ein sie einigendes (das heißt nach und nach unterwerfendes) Imperium zu errichten. Zum Vorspiel einer chinesischen kapitalistischen Entwicklung wurde das aber nicht.
Parker betont die Parallelen: „Die Ähnlichkeit zwischen dieser Folge von Ereignissen und der militärischen Revolution in Europa ist verblüffend. In beiden Fällen nahm die Heeresstärke massiv zu, vollzog sich in Taktik und Strategie ein grundlegender Wandel, und wirkte sich der Krieg stärker auf die Gesellschaft aus. Überdies waren in beiden Fällen gleichermaßen tiefgreifende Veränderungen sowohl der Struktur als auch der Theorie des Staates erforderlich. […] Die Ch’in konnten aufgrund ihrer überlegenen militärischen Organisation ganz China unterwerfen; das Abendland dominierte aus demselben Grund schließlich die ganze Welt. Denn der ‚Aufstieg des Westens‘ beruhte in hohem Maße auf der Anwendung von Gewalt, darauf, dass sich das militärische Gleichgewicht zwischen den Europäern und ihren Gegnern in Übersee stetig zugunsten der ersteren verschob. Die These dieses Buches nun lautet, dass der Schlüssel zum erfolgreichen Aufbau der ersten wirklich weltumfassenden Imperien durch den Westen zwischen 1500 und 1750 genau in jenen Verbesserungen der Kriegsführung zu suchen ist, die als ‚militärische Revolution‘ bezeichnet worden sind.“ (Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800, Frankfurt/M. New York 1990 [engl. 1988], S. 22)
Wenn das stimmt, hat eine solche Revolution den Kapitalismus weder zur Ursache noch zur Folge. Und ist die Europäisierung der Welt kein Ausweis der Überlegenheit des Kapitalismus, sondern nur der europäischen Kriegswaffen. Wie wir später sehen werden, gibt es dennoch einen Zusammenhang, in dem sich Krieg und Kapitalismus wechselseitig hervorbringen, nur dass er weiterer Faktoren bedurfte, um funktionieren zu können, und überhaupt viel komplizierter ist. Eins aber sei hier schon im Voraus gesagt: Es scheint, dass sich China den Weg zum Kapitalismus gerade dadurch versperrte, dass es zum vereinigten Imperium wurde. Darin liegt der große Unterschied zu Europa bei allen von Parker hervorgehobenen Parallelen. Die Einsicht, dass ein Imperium kein geeigneter Rahmen für eine kapitalistische Entwicklung ist, steht im Mittelpunkt des Werks von Immanuel Wallerstein, auf dessen Erörterung wir letztlich zusteuern.
Man muss sich allerdings Rechenschaft ablegen, was man unter einem Imperium verstehen will. Wenn Parker von „weltumfassenden Imperien des Westens“ in der frühen Neuzeit spricht, kann er doch allenfalls Amerika meinen. In Afrika und Asien gab es nur maritime Stützpunkte, die auf ihr Hinterland einwirkten, ohne es beherrschen zu können. Wallerstein würde nur Gebilde wie China oder das antike Römische Reich als Imperium bezeichnen. In Europa war Spanien ein imperialer Kandidat, der aber scheiterte. Von „weltumfassenden Imperien des Westens“ ließe sich vielleicht zwischen dem Ende des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts sprechen, als besonders England und Frankreich auf allen Kontinenten Kolonien unterhielten, also ganze Länder beherrschten. Indessen war diesem Ansatz keine Dauer beschieden; man kann im Rückblick sagen, dass er genauso – und sogar, wie wir sehen werden, aus dem gleichen Grund – scheiterte wie einst der Ansatz der Spanier. Und auch, dass der Kapitalismus seiner durchaus nicht bedurfte, eher noch von ihm behindert wurde. Dass England und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg, zu deren Siegern sie gehörten, hinter Kapitaldeutschland weit zurückfielen, obwohl dieses nie ein nennenswertes Kolonialreich besessen hat, dürfte bezeichnend sein. Das alles jetzt nur zur Ankündigung für später. Die Frage der Imperien wird auch zur erneuten Auseinandersetzung mit Herfried Münkler führen müssen, nach derjenigen vor ein paar Jahren, in der ich ihm in Vielem noch zugestimmt hatte.
2
Nun zur Frage der monetären Kosten der europäischen „militärischen Revolution“ und wie sie aufgebracht wurden. Obwohl Parker keine präzise Gegenüberstellung versucht, die aufgrund der Quellenlage auch gar nicht gelingen könnte, ist von vornherein klar, dass die Kosten in Europa im Vergleich mit China, man möchte fast sagen: „unendlich“ viel höher lagen. Hierin könnte nun doch eine Begünstigung sich herausbildender kapitalistischer Verhältnisse liegen, wenn man nämlich in der Denkweise von Hegel und Engels annimmt, dass die „Quantität in Qualität“ und zwar eben eine kapitalistische „umschlägt“. Die neuartige europäische Technik der Waffen und ihrer Bedienung war extrem teuer. Dabei steigerten sich die offensiven und defensiven Waffen wechselseitig. So kosteten Festungsbauten, die es mit feuernden Kanonen aufzunehmen hatten, eine Menge Geld; zu viel beispielsweise für Siena, deren Führer 1553 beschlossen hatten,
„17 Städte, darunter auch Siena selbst, mit neuen Bastionen und Schutzwällen zu umgeben. Doch Arbeitskräfte, Geldmittel und Baumaterialien waren so schwer zu beschaffen, dass nur wenige der geplanten Verteidigungsanlagen fertig wurden, als die Invasion 1554 begann. Aber die Republik hatten bereits so viel für die Befestigungen ausgegeben, dass keine Geldmittel mehr übrig waren, um ein Entsatzheer aufzustellen oder eine Flotte auszurüsten und zu bemannen, die den Küstenbefestigungen hätte beistehen können. Im April 1555 erklärte Siena nach einer zehnmonatigen zermürbenden Belagerung seine bedingungslose Kapitulation und wurde nach einer kurzen Besatzungszeit von dem benachbarten Florenz annektiert. Die militärische Revolution hatte direkt in den Untergang geführt.“ (a.a.O., S. 32)
Es kam mit der Zeit zu einer dramatischen Vergrößerung der Armeen. „Im Zeitalter der militärischen Revolution erwies sich oft genug die Fähigkeit einzelner Regierungen und Generäle, die Versorgung im Krieg sicherzustellen, als entscheidend für den Ausgang bewaffneter Konflikte.“ (S. 67) „[…] eine Feldarmee von 30 000 Mann benötigte soviel Nahrungsmittel wie die größten Städte jener Zeit.“ (S. 101) „Eine größere Feldarmee konnte gut und gern 20 000 Tiere mit sich führen, die täglich 90 Tonnen Futter oder 400 Morgen Weideland brauchten.“ (S. 103) Dazu kamen die Kosten der Ausbildung der Soldaten. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es war und wie lange es dauerte, bis sie das System der gestaffelten Linien beherrschten: Die vordere Linie schießt gleichzeitig die Gewehre ab, geht dann hinter die zweite, um nachzuladen, währenddem diese schießt, und so weiter. Um das zu lernen, mussten die Soldaten kaserniert werden, ihre Verpflegung schon im Frieden und auch die Kasernen kosteten. Natürlich war das ein die spätere kapitalistische Entwicklung begünstigender Umstand. Wie sich die Arbeits-„Disziplin“ der kapitalistischen Fabrik auf den bereits eingeübten militärischen Drill stützte, hat besonders Michel Foucault erhellend untersucht.
Da aber ein Krieg den nächsten ablöste, statt dass es wie in China zum imperialen Frieden kam, entwickelte sich die Kriegstechnik immer weiter und wurde immer kostspieliger. Wenn in einem Staat eine neue Waffe erfunden wurde, mussten die Konkurrenten sie auch erwerben. Zum Beispiel wurden Kanonen erfunden, die man auch auf Schiffen gebrauchen konnte. Das Problem war ihr Rückstoß beim Abschießen der Kugel; es wurde aufgefangen, indem man sie auf Schienen setzte, wo sie ohne Erschütterung des Decks zurückrollten und wieder vorgeschoben werden konnten. Gegen diese Technik hatte keine Küste außerhalb Europas ein Chance. Aber wie nun brachte Europa das Geld auf? Siena hatte sich übernommen; andere Stadtstaaten konnten sich eine Zeitlang halten, weil sie nicht noch 16 Vasallenstädte beherrschen wollten. Immerhin waren sie es, die in der Waffenherstellung eine Einnahmenquelle hatten. Damit ließen sich je eigene Stadtmauern schon bezahlen. Ganz andere Summen mussten indes die gegeneinander kämpfenden Staaten aufbringen. Staaten mit „halbwegs ausreichende[n] einheimische[n] Ressourcen“ waren nur Frankreich, England und Russland. Sie waren es über längere Zeit, es hätte aber nicht ewig so weitergehen können, und viel hing von der Staatskunst in den Konflikten ab (Ludwig XIV., Peter der Große, Cromwell) (S. 87).
„Die englische Regierung unter den Tudors gab für ihre Kriege mit Frankreich und Schottland zwischen 1538 und 1552 insgesamt 3,5 Millionen Pfund aus, davon allein zwischen 1542 und 1550 jährlich fast 450 000 Pfund. Da die Jahreseinkünfte der Krone in dieser Zeit bei nur rund 200 000 Pfund lagen, entstand sehr schnell ein gewaltiges Defizit. Zum Teil wurde dieses durch den Verkauf der kirchlichen Besitzungen ausgeglichen, die nach Heinrichs VIII. Bruch mit Rom beschlagnahmt worden waren […], zum Teil auch durch neue Steuern, Zwangsanleihen und Konfiskationen gedeckt. Trotzdem musste noch eine hohe Summe gegen Zinsen auf ausländischen Geldmärkten beschafft werden: Im Jahr 1552 beliefen sich diese Kredite auf 500 000 Pfund, die erst 1587 vollständig zurückgezahlt wurden.“ (ebd)
Man könnte nun meinen, Spanien habe es leichter gehabt als alle bisher genannten Mächte, weil ihm doch über längere Zeit das amerikanische Gold und Silber zufloss. Dem war aber nicht so, weil gerade Spanien sich übernahm, und es übernahm sich, weil es, a n d e r s a l s E n g l a n d , ein Imperium zu gründen beziehungsweise aufrechtzuerhalten versuchte. England und die Niederlande führten später Krieg gegeneinander, woraus England als Sieger hervorging; aber England kam nicht auf die Idee, sich die Niederlande als eigene Provinz zu halten, wie es Spanien versuchte. Dieser Versuch war der Fehler. Alles amerikanische Edelmetall hatte die ungeheuren Kredite nicht decken können, die Spanien brauchte, als es ein Imperium sein wollte. Immer wieder erklärte es seinen Bankrott, immer wieder waren militärische Fehlschläge die Folge. „Als 1575 die Zahlungen eingestellt wurden, fehlten Philipp II. die Mittel, die erfolgreichen Operationen seiner Armee in Flandern gegen die holländischen Rebellen fortzusetzen. Nach neun Monaten ohne Sold meuterten seine Soldaten, und der König verlor die Kontrolle über die Niederlande.“ Die Holländer aber, fährt Parker fort, „waren zu dieser Zeit […] bereits in der Lage, eine große, schlagkräftige Armee so lange wie irgend nötig zu finanzieren.“ Sie hatten nämlich „eine neue Form der Geldbeschaffung ersonnen“. (S. 88)
Der wesentliche Punkt war die Deckung für Kredite durch künftige Steuereinnahmen. „Da die angebotenen Zinskurse hoch und die Sicherheit gut waren, sorgten einheimische und ausländische Investoren für einen ergiebigen Zustrom von Kapital. […] Die holländische ‚Finanzrevolution‘ war so erfolgreich, dass sie gegen Ende des 17. Jahrhunderts auch nach England übergriff: So konnten Wilhelm III. und seine Verbündeten Frankreich unter Ludwig XIV. trotz dessen überlegener Ressourcen Widerstand leisten.“ (S. 88 f.) Was bedeutet das? Es bedeutet einerseits, dass die Niederlande wie dann auch England weniger Geld aufzubringen hatte als Spanien, weil ihre Kriegsziele, jedenfalls wenn man sie am imperialen Maßstab misst, bescheidener waren; andererseits aber auch, dass sie mehr als Spanien über eigene Produktivkräfte verfügten, die sich für Kreditgeber als „Sicherheiten“ darstellten und es ihnen also leicher machten, diese aufstrebenden Staaten zu beleihen. Wer ihre Produktivkräfte bereits für kapitalistische hält – auf jeden Fall verfügten sie über aufblühende Märkte -, wird dann sagen müssen, dass ein beginnender Kapitalismus Kriege zu führen erlaubte, nicht aber umgekehrt, dass die Kriege den Kapitalismus hervorgebracht hätten.
Das ist es, was wir von Parker gewinnen können. Zu Zinn leiten Sätze über, die uns erschrecken lassen:
„Im Jahr 1650 hatte Europa bereits in vier verschiedenen Gebieten die militärische Herrschaft an sich gerissen: In Zentral- und Nordostamerika, in Sibirien, in einigen afrikanischen Küstenregionen südlich der Sahara und auf den Inseln Südostasiens. So unterschiedlich diese Gebiete und ihre Bewohner auch waren, so hatten sie doch mit den europäischen Eindringlingen in einer entscheidenden Hinsicht dieselbe Erfahrung gemacht: Die weißen Männer kämpften ihrem Verständnis nach unfair, und (was schlimmer war) sie kämpften, um zu töten. Die Narragansetts in Neu England missbilligten die Kriegsführung der Kolonisten aufs schärfste. ‚Es war zu wild‘, sagte ein Krieger 1638 zu einem englischen Hauptmann, ‚und es kommen zu viele Männer um‘. Der Hauptmann widersprach nicht. Die Indianer, mutmaßte er, ‚könnten sieben Jahre lang kämpfen und keine sieben Männer töten.‘ Roger Williams, ein Kolonialgouverneur, räumte ebenfalls ein, dass die Kämpfe der Indianer ‚viel weniger blutig und zerstörerisch sind als die grausamen Kriege in Europa‘. Auf der anderen Seite des Globus waren die Völker Indonesiens im selben Zeitraum ebenso entsetzt über die Destruktivität der europäischen Kriegführung. Die Männer auf Java beispielsweise ‚kämpfen nur sehr widerwillig, wenn sie die Wahl haben‘.“ (S. 146)
Das alles hat mit dem Kapitalismus noch überhaupt gar nichts zu tun – außer dass man sich fragen muss, ob es je einen gegeben hat, in den die destruktive Erbschaft nicht eingegangen wäre -, aber es ist wahrlich auch so gewichtig genug.
3
Karl Georg Zinns Buch lebt vom Erschrecken über die europäische Destruktivität. Der Kapitalismus, schreibt er, wurde von der „Vernichtungskultur“ geprägt, „nicht umgekehrt“ (Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Opladen 1989, S. 10). Den Ursprung dieser Kultur sieht er im Zusammentreffen der Pest, die sich um 1350 über ganz Europa ausbreitete – und erst im dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, „aus bisher unbekannten Gründen“ (S. 21), verschwand – mit der Erfindung der Feuerwaffe. Dies Zusammentreffen erscheint als Zufall. Es sei eine „historische Synchronizität“ im Sinne C. G. Jungs, die, so Wikipedia, „durch die über Jahrhunderte wirksamen Folgen der beiden kausal nicht verknüpfbaren Phänomene“ frappiere; sie werden aber dennoch, das ist die Bedeutung des Begriffs, „vom Beobachter […] als sinnhaft verbunden erlebt“. Es sind eben, so wieder Zinn, zwei gleichermaßen „zerstörerische[.] Momente“, die „zeitlich kaum drei Jahrzehnte auseinander[liegen]“. Aber besteht nicht sogar doch ein Kausalzusammenhang, wenn festgestellt werden kann, dass „[d]ie unsicheren gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im Europa des 14. Jahrhunderts […] einen äußerst günstigen Boden für die Aufnahme der Feuerwaffeninnovation“ bildeten? (S. 27)
Das wäre dann der Unterschied zu China, von dem ja gesagt wird, es habe die Feuerwaffe früher erfunden. In China fehlte der Bedarf. Es ist bekannt, dass viele Erfindungen zunächst oder dauerhaft verpuffen, weil sie von der Umwelt der Erfinder nicht interessant gefunden werden. Das chinesische Imperium hatte aber sogar Gründe, Feuerwaffen geradezu abzulehnen: Die Untertanen hielt man auch so in Schach, hätten Feuerwaffen in ihre Hände gelangen können, wäre das schwieriger geworden (vgl. Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem I, Wien 2004 [engl. 1974], S. 68; in Japan dieselbe Situation, vgl. WBG Weltgeschichte Bd. IV, 2. Aufl. Darmstadt 2015, S. 46). Nach Zinns Auffassung hat China, eben weil es sich nicht interessierte, die Feuerwaffe nicht einmal wirklich erfunden: „Die geläufige Meinung, dass die Chinesen als erste über Schießpulver verfügten, bedarf der Präzisierung. Zwar waren den Chinesen Explosivstoffe bekannt, […] aber das spezielle Gemisch aus Salpeter, Schwefel und Holzkohle, zumal in einem Verhältnis, das als Treibmittel für Geschütze geeignet ist, lässt sich in China vor dem 14. Jahrhundert nicht nachweisen.“ (a.a.O., S. 122)
Bevor ich Zinns Überlegungen zur europäischen Destruktivität weiterverfolge, will ich mit seiner Hilfe das Thema Kapitalismus und Kriegskosten zuendeführen. Die Feuerwaffe wird in der Stadt entwickelt und produziert. Sie ist die Waffe des Bürgertums. (S. 17) Die kapitalistische Entwicklung, urteilt Zinn zunächst, werde von der Rüstungsexpansion begünstigt, „weil die hohen Rüstungsausgaben der Akkumulation gerade technischen Schlüsselbereichen zugute kommen“ (S. 18). In der Tat entfalten sich wichtige V o r a u s s e t z u n g e n des Kapitalismus, die zugleich Existenzbedingungen sind: Der Kapitalstock der reichen Familien wird größer, die Naturwissenschaft wird angeschoben. (Dazu kommt die von Parker, ja schon von Sombart hervorgehobene Entstehung des modernen Staates, auf den der Kapitalismus angewiesen sein wird.) Dann lesen wir aber auch, dass ein Staat desto mehr auf dem Weg zum Kapitalismus ist, j e w e n i g e r seine Produktion sich auf Kriege ausrichtet:
„Der Unterschied der englischen und kontinentaleuropäischen Situation im 16. Jahrhundert – innerer Friede dort und Kriegsverwüstung hier – spielte sicherlich, wie John U. Nef ausführlich dargelegt hat, die entscheidende Rolle für die deutlichen Unterschiede der wirtschaftlich-technischen Entwicklung auf der britischen Insel und auf dem Kontinent. England investierte einen größeren Teil seines Mehrprodukts produktiv, und das kommerzielle Interesse diente stärker zivilen, nicht militärischen Innovationen.“ (S. 45)
Wiederum dürfen wir uns die Zusammenhänge nicht zu einfach vorstellen. Denn militärische und zivile Produktion können sich wechselseitig befruchten. „Der Kanonenguss aus Bronze nutzt das Können der Glockengießer“ (S. 26) – was für ein Coming Out. Wenn dann die Produktion sich militarisiert, lassen sich Produktiv- und Destruktivkräfte bald gar nicht mehr trennen: Militärische Verbesserungs- und Folgeinnovationen „erweiterten“ die technische Kenntnis „in einem Ausmaß […], dass schließlich nicht mehr klar unterschieden werden kann, welche zivil genutzten Techniken letztlich“ auf die Feuerwaffe „und welche auf originär friedliche Technikentwicklungen zurückzuführen sind. […] Beispielsweise taucht um 1430 gleichzeitig die Bohrmaschine für das Holzröhren- und das Kaliberbohren für Kanonen auf.“ (S. 96) Das erinnert an die Geschichte, die uns bis zum Überdruss erzählt wurde: Die Teflonpfanne sei der Weltraumfahrt zu verdanken. Aber es ist ja wahr.
Wir nähern uns damit der Innovationskraft, die Zinn selber in Gestalt seines Buches einbringt. Denn eine Frage wirft er auf, die das Thema „Kosten und wer sie aufbringt“, so wichtig es ist, noch weit hinter sich lässt: Welchen Weg gehen Produktion und Technik? Ergibt sich die Richtung zwangsläufig? Und ist es immer dieselbe Richtung? Wer meine Blogreihe gelesen hat, weiß, dass es diese Frage ist, die mich am meisten beschäftigt hat. So habe ich allen Anlass, Robert Kurz zu danken für den Hinweis auf Zinn, den ich sonst wohl übersehen hätte. Mehr dazu, und auch zu weiteren Zinnschen Innovationen, in der nächsten Notiz.