(156) Die Technik wird umorientiert

2. Noch einmal zur Geschichte des Kapitalismus: Entstehungszeit, Aspekte des Funktionierens, Zeit der Auflösung / Sechster Teil - Retractationes

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Ich habe es schon zitiert: Der Kapitalismus, so sieht es Karl Georg Zinn, wurde von der „Vernichtungskultur“ geprägt, „nicht umgekehrt“. Die „Vernichtungskultur“ beginnt in der Mitte des 14. Jahrhunderts, als die Pest sich über Europa ausbreitet. Fast gleichzeitig wird die Feuerwaffe erfunden. Zinn stellt dar, wie nicht nur die europäische Bevölkerung von der Pest dezimiert wurde und was die ökonomischen Folgen waren, sondern auch dass ihr Bewusstsein völlig überfordert war. Die letzte europäische Pest lag tausend Jahre zurück, niemand erinnerte sich mehr daran. Keiner konnte sie erklären, geschweige denn heilen. Alle Ärzte, auch alle staatlichen und religiösen Autoritäten waren hilflos. So schien die Pest in mehr als einem Sinn vom Himmel gefallen zu sein. Dass Gott sie als Strafe für Sünden verhängt hatte, war das Einzige, was den Menschen einfiel. Deshalb zogen Flagellanten durchs Land, deshalb kam es zur ersten gigantischen Judenverfolgung, mit der verglichen die Pogrome der Kreuzzugszeit noch harmlos erscheinen, denn nun wurden die Juden der Brunnenvergiftung beschuldigt und waren ohnehin, wie man glaubte, dem Christengott ein Dorn im Auge. Die Menschen reagierten also mit Aggression gegen sich selbst und gegen andere. Da kamen Feuerwaffen gerade recht. Wer es sich aber leisten konnte, reagierte mit Flucht:

„Die Pest hatte sozusagen eine negative Selektionswirkung, auch in dem sehr konkreten Sinn, dass die hilfreichen und opferbereiten Menschen von der Seuche eher dahingerafft wurden als die Flüchtenden, die ohne Rücksicht auf Pflichten und Gebote ihrem Selbsterhaltungstrieb folgend der Pest auszuweichen suchten und dabei auch über die notwendigen finanziellen Mittel verfügten, so dass sie die besseren Chancen zum Überleben hatten.“ (Kanonen und Pest, a.a.O., S. 15)

„Die zeitgenössischen Ärzte empfahlen als sicherstes Mittel, der Pest zu entgehen, die Flucht.“ (S. 170) Dazu musste man bemittelt sein. Zum Beispiel die Flüchtlinge, die Boccaccio versammelt, damit sie uns und sich selber schöne Geschichten erzählen können, waren bemittelt. Die einen flohen, die anderen bewaffneten sich. Zinn glaubt, dass die „mentalen Wirkungen der Jahrhunderte der Angst, die mit dem Einzug der Pest in Europa Mitte des 14. Jahrhunderts beginnen, […] bis in unsere Zeit fortwirken [dürften]“, und so erscheint ihm die ganze Neuzeit als eine „Epoche der Angst“. (S. 14 f.) Wenn sich später „kapitalistisches Verhalten“ im Sinn Max Webers entwickelt, puritanische Askese, sei das eine „ideologisch vermittelte Technik der Angstbewältigung bzw. –abwehr“ (S. 16). Aber auch die hohe Aggressivität habe sich erhalten und immer neue Katastrophen angerichtet.

Wenn es stimmt, dass die Fluchttendenz eine wesentliche Reaktion auf die Pest war, würde das meinen eigenen Ansatz bestätigen. Ich hatte zwar nicht die Pest für die Krise der mittelalterlichen Produktionsweise verantwortlich gemacht, daraus aber, dass mit Flucht auf diese reagiert wurde, versuchte ich den neuzeitlichen Weg bis hin zum Kapitalismus zu erklären. Das Fluchtverhalten, argumentierte ich, habe sich ideell im Unendlichkeitsstreben artikuliert. Sei Unendlichkeit bei Giordano Bruno noch als Schritt aus einer Enge heraus sehr nachvollziehbar, werde sie bei Spinoza überdies zum Ziel aller Schritte. Dabei sei das Un-Ende, der Nicht-Telos, doch das pure Gegenteil eines Ziels. Aber gerade diese Paradoxie werde bei Spinoza, und in der neuzeitlichen Philosophie überhaupt, zum Selbstzwang des Denkens und Handelns. Die weitere Frage der Untersuchung war dann nur noch, wie sie zunächst in den Staat und von ihm aus in die Ökonomie gelangen konnte, wo sie zur Definition von Kapitallogik wird. Auch dass die neuzeitliche Philosophie eine der Selbsterhaltung ist, habe ich unterstrichen (siehe oben: Die Flüchtenden folgten dem Selbsterhaltungstrieb, statt zu helfen). In der Kapitallogik strebt Selbstheit ins Unendliche.

Dass diese Überlegung nur beansprucht, den  i d e e l l e n  F a k t o r  des Übergangs zum Kapitalismus zu benennen, habe ich immer betont. Aber kann er wirklich auf die Pest zurückgeführt werden? Auf den ersten Blick scheint es überzeugender zu sein, als wenn man sagt, eine Wirtschaftskrise habe zu ihr geführt. Auf eine solche Krise kann man doch mit ökonomischer Innovation zu antworten versuchen. Im Grunde genommen habe ich, wie mir jetzt klar wird, an dieser Stelle nicht zuende gedacht. Denn ich fragte mich nicht, wie es nach der Krise des Mittelalters jahrhundertelang weitergehen konnte, bis dann der Kapitalismus kam. Ich bin nicht der Einzige – auch andere nehmen an, die feudalistische Produktionsweise sei trotzdem einfach fortgesetzt worden, obwohl sie andererseits das Mittelalter beendet haben soll. Da ist Zinns Ansatz schon plausibler: Die Pest habe zwar nicht die Produktionsweise verändert, sie aber mit Fluchttendenzen und Aggressivität aufgeladen, die zur kapitalistischen Erbschaft werden sollten. Was die Entstehung des Kapitalismus anbelangt, scheint er sich Immanuel Wallerstein anzuschließen, den er in diesem Zusammenhang erwähnt. Zinn geht es nur darum, zu betonen, dass die von ihm beobachtete Umwälzung derjenigen, die Wallerstein konstatiert, vorausgegangen ist. Und tatsächlich lässt dieser den Kapitalismus wie Marx im 16. Jahrhundert beginnen, genauer gesagt im „langen“ 16. Jahrhundert, das ist zwischen 1450 und 1640 – hundert Jahre  n a c h  der Pest.

Man kann das so stehen lassen, muss aber hinzufügen, dass die europäische Reaktion auf die Pest nicht selbstverständlich war. Sie war ja in der ganzen den Europäern damals bekannten Welt ausgebrochen – auch in China, auch in Ägypten. Gesteigerte Aggression war anderswo nicht die Folge. In Ägypten etwa „breitete sich […] eine mystisch gefärbte islamische Volksfrömmigkeit aus“ (WBG Weltgeschichte Bd. IV, Darmstadt 2. Aufl. 2015, S. 123). Wenn das Flucht war, dann eine nach innen. Dass die Europäer aggressiv reagierten, muss wohl auch auf ihren christlichen Diskurs zurückgeführt werden. Das deutet auch Zinn an, wenn er hervorhebt, dass die europäische Gesellschaft im Bewusstsein einer Endzeitkrise lebte. Er selbst unterstreicht zwar nur, dass es nicht barmherzig zuging, christliche Hemmungen also zusammenbrachen. Im Neuen Testament kann man aber geradezu lesen, dass das bevorstehende Ende der Welt sich in Feuer und Lüge, Krieg und Verfolgung entladen werde.

Und in Flucht. „Wenn ihr […] von Kriegen und Kriegsgerüchten hört, schreckt nicht auf!“, sagt Jesus seinen Jüngern. „Es muss geschehen. Aber noch ist das nicht das Ende.“ (Markus 13, 7) „Sobald ihr aber das ‚Scheusal der Verödung‘ stehen sehr, wo es nicht darf – der Leser begreife es! – dann sollen die in Judäa in die Berge flüchten.“ (Vs. 14). „Die jetzigen Himmel aber und die Erde“, fügt der zweite Petrusbrief (3, 7) hinzu, „werden durch dasselbe Wort fürs Feuer gehortet“, das heißt durchs Wort desselben Gottes, der Himmel und Erde einst hervorgerufen hat. Und dem fügt wiederum Augustinus hinzu: „Nun fragt vielleicht jemand, wo während der Zeit des Weltbrandes […] die Heiligen sein werden, die doch, da sie Leiber haben, auch an einem räumlichen Ort sein müssen. Wir können antworten“, fährt er fort, „dass sie dann in höheren Regionen sich aufhalten werden, wohin die Flamme jenes Brandes ebenso wenig dringen wird wie einst die Woge der Sündflut.“ (De civitate dei XX 18 nach der Übersetzung von Wilhelm Thimme) Wir sollten diesen religiösen Fluchtkomplex im Gedächtnis behalten, denn unsere Erörterung der Zinnschen Thesen wird zuletzt dahin zurückführen.

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Nicht nur Kriegsdenken und -handeln überhaupt ist nach Zinn die Konsequenz der Pest, sondern dass infolgedessen die ganze Technikentwicklung eine neue Richtung einschlägt: „von der menschenfreundlichen Agrartechnik“ des Mittelalters „zur Rüstungs- und Luxustechnik“ (a.a.O., S. 10), wobei die Rüstungstechnik, wie ich schon zitiert habe, zum neuen Schrittmacher auch der zivilen Technik geworden sei. Auch diese These würde, wenn sie zutrifft, meinen eigenen Ansatz bestärken, und zwar gerade in dem, was mir die Hauptsache ist.

Das von mir propagierte Konzept ökonomischer „Proportionswahlen“ stemmt sich ja gerade der Ideologie des technischen Selbstlaufs entgegen. Gäbe es diesen Selbstlauf, könnte man nichts anderes tun, als ihn zu erforschen und von ihm sich die Produkt- und Warenentwicklung vorgeben zu lassen. Die Kapitalisten behaupten, es sei so, und glauben wohl selbst daran, zumal es ihnen auch nützt. So haben sie jetzt „entdeckt“, dass der erreichte Grad der Automatisierungstechnik uns alle zwingt, die vorhandenen Autos stehenzulassen und neue selbstfahrende zu kaufen. So etwas wie die Frage, ob wir Autos überhaupt immer noch wollen, statt dass das Netz öffentlicher Verkehrsmittel ausgebaut würde, die umweltschonender sind und die Städte nicht so verwüsten, kann in diesem Diskurs gar nicht auftauchen. Selbst die FAZ hat es jetzt entdeckt: „die schöne neue Welt wird nur funktionieren, wenn wir unsere Freiheit an Googles Garderobe abgeben“, was „die Frage des Jahres auf[wirft]: Wollen wir das?“ (Leitartikel vom 5. 1. 2017). In der Tat, und deshalb sollten wir das Recht in Anspruch nehmen, uns selbst auszusuchen, was wir haben wollen, also eben ökonomisch  z u  w ä h l e n ; damit aber  b e s t r e i t e n  wir, dass es einen technischen Selbstlauf gibt. Und Zinn bestreitet es auch. Prüfen wir deshalb, ob seine Argumente tragfähig sind.

Er geht grundsätzlich davon aus, dass die „technologischen Unterschiede“ zwischen verschiedenen Kulturen „erst aus den gesellschaftlich erzeugten Bedürfnissen [resultieren]. Technischer Fortschritt folgt somit zumindest zu einem erheblichen Teil keiner natürlichen oder technikeigenen Entwicklungsdynamik, sondern wird gesellschaftlich gelenkt.“ (a.a.O., S. 24) Dass es den von ihm behaupteten Richtungswechsel gegeben habe – weg von Verbesserungen der Agrartechnik, hin zu solchen der Rüstungstechnik -, werde empirisch bestätigt „durch den  a n s t e i g e n d e n  Lebensstandard im Mittelalter und den  s i n k e n d e n  Lebensstandard in der Neuzeit“. (S. 25) Zinn erinnert daran, dass Georges Duby in seinem Buch Krieger und Bauern, 1977, den Übergang „von der kriegerischen zur wohlstandsbezogenen Wirtschaftsweise im europäischen Hochmittelalter“ beschrieben hatte. Der „technische Entwicklungswandel nach dem Mittelalter“ lasse sich dann aber „als Jahrhunderte währende Stagnation des wohlstandssteigernden technischen Fortschritts deuten, die im technischen Fortschritt des Mittelalters keineswegs angelegt war“. (S. 29)

Dass der Durchbruch zur Industrialisierung nicht schon im 16. Jahrhundert erfolgt sei, könne auf die Ressourcennutzung für Rüstung und Krieg zurückgeführt werden. Jedenfalls ließen „die Ergebnisse der Technikforschung zum Mittelalter vermuten […], dass der technologische Abstand zwischen dem ausgehenden Mittelalter und dem 17./18. Jahrhundert sehr viel geringer gewesen ist, als bisher angenommen wurde“ (S. 41 f.). „Beispielsweise hätten eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Düngung, Versuche zur Zucht ertragreicherer Getreidesorten, der Übergang von der Dreifelderwirtschaft zum Fruchtwechsel im Bereich des Möglichen gelegen. Auch hätten noch Verbesserungen im landwirtschaftlichen Maschinenwesen erfolgen können. Beispielsweise war die Mähmaschine in Gallien (um 300 n. Chr.) höchstwahrscheinlich bekannt. Sie wurde aber erst im 19. Jahrhundert wiedererfunden.“ (S. 57)

„Der Anteil des (landwirtschaftlichen) Mehrprodukts, der für die Vernichtungszwecke verbraucht wurde, blieb während des Mittelalters relativ gering, sonst hätten weder die für den agrartechnischen Fortschritt notwendigen Investitionen erfolgen können, noch wären so viele Kathedralen, neue Städte und Stadtbefestigungen errichtet worden.“ (S. 58) Dies Argument überzeugt nicht so sehr, denn Stadtbefestigungen sind militärische Produktion und es gibt Kirchen, die sich wie Festungen ausnehmen und als solche auch genutzt wurden. Wichtig aber der Hinweis, dass Technikentwicklung im Mittelalter noch eingebettet war in geistige, vor allem auch geistliche Weltdeutungen. Vieles geschah etwa in den arbeitsamen Klöstern der Benediktiner und Zisterzienser („Gebet und Arbeit fügten sich in der Alltagspraxis zusammen“, S. 78; vgl. hierzu auch Wolfgang Stürner, Technik und Kirche im Mittelalter, in Ansgar Stöcklein und Mohammad Rassem, Technik und Religion [Technik und Kultur Bd. 2], Düsseldorf 1990, S. 161-180). Auf die Krise der Pestzeit war die Kirche aber unfähig zu antworten. „Vom 14. Jahrhundert an vollzog sich der technisch-ökonomische Prozess losgelöst von irgendeiner wesentlichen geistig-geistlichen Lenkung, und er geriet in eine  n e u e  Richtung, die durch die Feuerwaffeninnovation nicht nur  s y m b o l i s i e r t  worden ist.“ (S. 77)

Eine Technikentwicklung ohne „Lenkung“ ist eben eine, die als Selbstlauf erscheint. Wir können hinzufügen, dass dieser Selbstlauf auch eine subjektive Seite hat: Der Destruktivität der neuen Produkte entspricht die neue Blindheit des Arbeitens, das in ein „Bete und arbeite“ nicht mehr eingebettet ist; danach, ob Produkte hergestellt werden, die es verdienen, wird nicht mehr gefragt, es geht nur noch um Fleiß versus Faulheit. Dem wird auch der Protestantismus zuarbeiten, der auf den Autoritätszusammenbruch der Kirche reagiert. Wie Zinn erinnert, beginnt er mit John Wyclif zur Zeit der Pest.

„Wesentliche agrartechnische Neuerungen haben seit dem 13. Jahrhundert – bis ins 18./19. Jahrhundert – in Europa nicht mehr stattgefunden. Ähnliches gilt für die Energietechnik, und selbst in der […] Textilindustrie sind herausragende technische Innovationen im 14./15. Jahrhundert nicht festzustellen.“ (S. 98) Später schränkt er ein: Mais, Kartoffelanbau und die Ausweitung des Fischfangs bis hin zur systematischen Süßwasserfischzucht waren neu (S. 144). Allerdings kamen die erstgenannten Güter aus Amerika, wo sie fertig vorgefunden worden waren. Intensiven Bergbau gab es seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, „Bergbau und die Metallurgie waren nun aber wiederum ganz wesentlich vom Rüstungsgeschäft, der Geschützgießerei, abhängig“ (S. 99). Zinn stellt auch zwischen der Pest und der Gewichtsräderuhr einen Zusammenhang her: „Die plötzliche Allgegenwart des Todes, die Angst, von der Seuche in wenigen Tagen, ja gar in Stunden dahingerafft zu werden, obgleich zuvor kein Zeichen von Krankheit oder gar Altersschwäche sichtbar gewesen war, veränderten nicht nur die Einstellung zum Tod, sondern zugleich auch die Wahrnehmung für die so begrenzte Lebenszeit.“ (S. 112)

„Gimpel stellt […] mit Bezug auf das 14./15. Jahrhundert resignierend fest: ‚Für die Geschichte der Menschheit ist es ein großes Unglück, dass sich eine alternde Gesellschaft aus dem Bedürfnis nach Frieden heraus von der Technik – mit Ausnahme der Militärtechnik – abwendet.“ (S. 100) Zinn selbst resümiert: „Die für den technischen Fortschritt des 14. Jahrhunderts zentralen Innovationen – Gewichtsräderuhr und Feuerwaffe – sind keine ‚Endprodukte‘ mittelalterlicher Sozialökonomie, sondern technische Grundsteine der politischen Ökonomie der Neuzeit.“ (S. 92) „Bis heute blieb umstritten, ob die Technik, speziell die moderne Technik, etwas wie ‚Eigendynamik‘ aufweist. […] Die Situation zu Beginn der Neuzeit widerlegt eine solche Sichtweise. […] Die Verhältnisse suchten sich sozusagen aus verschiedenen technischen Optionen jene aus, die ihnen gemäß waren.“ Zum Beispiel können „die technischen ‚Verbesserungen‘ der Folterwerkzeuge von der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts an nicht damit erklärt werden […], dass es zuvor an entsprechenden technischen Kenntnissen fehlte; vielmehr muss man hierbei die Zunahme von Gewalt und besonders den inquisitorischen Terror in Betracht ziehen.“ (S. 120)

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Hören wir auch dieses Resümee, das uns noch einen Schritt weiter führt, insofern als das Stichwort „Weltraumfahrt“ in ihm enthalten ist: „[D]as technologische und ökonomische Innovationsniveau allein [ist] kein Indikator für die Problemlösungskapazität von Technik und Wirtschaft: die Feuerwaffeninnovation und die von ihr initiierten Verbesserungs- und Folgeinnovationen im Schwerindustriebereich, in der Feinmechanik und vielen anderen Gewerben stellten zu ihrer Zeit Leistungen in ‚High-Tech-Qualität‘ dar wie heute die Weltraumfahrt, die Mikroelektronik, die Biotechnologie etc. Doch nicht die ‚High-Tech-Güte‘ als solche signalisiert den potentiellen Beitrag der jeweiligen Technik, um die Probleme des menschlichen Daseins besser zu lösen, sondern es kommt auf den Zweck und die Entwicklungsrichtung der technisch-wirtschaftlichen Innovationen an.“ (S. 265)

Ich war schon selbst darauf zu sprechen gekommen: Wie man in vergangenen Jahrhunderten darauf hätte hinweisen können, dass die Militärtechnik doch auch fürs friedliche Leben etwas abwerfe, so wenn die Bohrmaschine nicht nur Kanonenkaliber, sondern auch zivile Holzröhren öffnet, hat man im letzten halben Jahrhundert häufig die Teflonpfanne als Argument für den Nutzen der Raumfahrt präsentiert bekommen. Indessen führt uns Zinns Herangehen auf eine viel umfassendere Frage – die er selbst nicht aufwirft -: Einmal angenommen, es sei wirklich mit beginnender Neuzeit zum technologischen Richtungswechsel, damit auch zum Wechsel der Produktstrategie gekommen, bestand er wirklich „nur“ darin, dass von da an der Schwerpunkt auf Militärgütern lag? Dass ich das „nur“ in Gänsefüße setzen muss, ist klar, denn die Militarisierung, die Zinn hervorhebt, ist allein schon so furchtbar, dass einem der Atem stockt. Dennoch kann gefragt werden, ob der Wechsel nicht eher übergreifend aufs Verlassen der Erde, also auf Raumfahrt gerichtet war. Dafür würde das von Zinn hervorgehobene christliche Endzeitbewusstsein ebenso sprechen wie die Fluchttendenzen, die er ebenfalls hervorhebt. Meine Frage mag verrückt klingen, ich will sie aber zu erklären versuchen.

Zunächst ein empirischer und aktueller Hinweis. Es ist bekannt, dass die Vereinigten Staaten die Raumfahrt nach dem Zweiten Weltkrieg deshalb förderten, weil sie sich militärischen Nutzen davon versprachen. Über den Sputnik zum Beispiel, der 1958 im Orbit ausgesetzt wurde, wurde in Militärkreisen ganz anders gesprochen als in der Öffentlichkeit. Den US-Militärs sagte er einerseits, dass die Sowjetunion nun über Langstreckenraketen verfügte, die Atombomben bis über die USA tragen konnten, andererseits waren sie auch erleichtert, weil sie ebenfalls Satelliten aussetzen wollten und zwar zur Militärspionage; da die Sowjets ihnen zuvorgekommen waren, hatten sie keinen internationalen Protest zu befürchten. So erscheint der Diskurs, der zeitgleich die Medien beherrschte – eine neue Ära der Menschheit breche an und so weiter – als pure Ideologie. Aber wiederum lag das Weltraumprogramm der USA, in dem die militärisch wie zivil nutzbaren Raketen entwickelt wurden, in den Händen solcher Zeitgenossen wie Wernher von Braun und Ernst Stuhlinger, denen die Militärpläne ihrer Geld- und Ressourcengeber völlig gleichgültig waren; sie fragten nur danach, wie der Weg zum Mars und darüber hinaus baldmöglichst gebahnt werden könne. Für diese Strategen waren die Generäle weiter nichts als nützliche Idioten; dass sie nebenbei dem Krieg und damit unnennbarem Menschenleid in die Hände arbeiteten, war ihnen egal; von Braun hatte ja sogar in Nazideutschland ein KZ betrieben.

Wer sich hier wessen bediente, die Raumfahrer der Militärs oder umgekehrt, bleibt unklar, ist aber im Grunde auch unwichtig, weil beide Seiten gut zusammenarbeiten konnten. Ebenso unklar ist das Verhältnis der Faktoren, des destruktiven und des erdzentrifugalen, wenn wir auf den historischen Anfang der Entwicklung schauen. Ich rede vom Anfang der modernen Naturwissenschaft, den wir mit Galilei ansetzen können. Dessen Hauptwerk, die Discorsi, besteht aus drei Teilen: Im dritten Teil geht es um die Frage, wie eine Kanone aufgestellt sein muss, damit ihre Kugel am weitesten trägt, das heißt was deren optimale Parabel ist; im zweiten um das berühmte Fallgesetz. Die Teile bauen systematisch aufeinander auf, insofern als das Fallgesetz in der Kugelbahn nur mitspielt, im zweiten Teil als solches isoliert und verallgemeinert wird und da seinen wesentlichen Gehalt zeigt, die unendliche Beschleunigung. Mit dem dritten Teil dient Galilei seinen Geldgebern, der zweite führt konsequent zuendegedacht ins Weltall. Er führt zunächst zur Industrialisierung, zum sich beschleunigenden Auto etwa; es hängt dann aber nur vom Beschleunigungsgrad ab, von wann an das Auto zum Flugzeug und das Flugzeug zur Rakete wird, die sich von der Erdanziehung befreien kann.

Galilei hat von Giordano Bruno, Bruno vom Kardinal Cusanus gewusst. Auf dieser Linie hat sich eine religiöse Innovation, die Unendlichkeitstheologie des Letztgenannten, in eine säkulare Philosophie und in technisch anwendbare Physik verwandelt. Was Bruno dachte, habe ich schon einmal zitiert, im ersten Halbjahr der Blogreihe: „Eingedenk […] der uns innewohnenden Gottheit […] wird der Geist, sich seiner Macht bewusst, den Flug ins Unendliche wagen, wo er zuvor im engsten Kerker eingeschlossen war, […] und noch dazu waren seine Flügel gewissermaßen beschnitten mit dem Messer eines stumpfen gewohnheitsmäßigen Glaubens, der zwischen uns und der Herrlichkeit neidischer Götter eine Nebelwand bildete, ja eine Wolkenbank aus der eigenen Einbildungskraft schuf, die er selbst für aus Erz und Stahl bestehend ansah. Aber befreit von diesem Schreckbilde der Sterblichkeit […], von den Ketten grausamer Erinnyen und den Einbildungen parteiischer Liebe schwingt er sich dem Äther zu, durchschwebt das unbegrenzte Raumgebiet so großer und zahlloser Welten, besucht die Gestirne und überfliegt die eingebildeten Grenzen des Alls.“

Ich habe 2009 nicht gesehen, dass die Fluchtgedanken mit dem Schrecken einer Pest zusammenhängen könnten, wohl aber dass es Fluchtgedanken waren. Die Flucht aber führt hier nicht nach Asien und Amerika, wo man Kanonen an Bord haben musste, sondern ist Erdflucht. Kann man sagen, dass der damals begründeten Naturwissenschaft die Fluchttendenz eingeschrieben wurde und es immer blieb? In derselben 15. Notiz, in der ich Bruno zitierte, zitierte ich anschließend auch Marx: Die kapitalistische Produktionsweise habe sich erst „als eine Produktionsweise sui generis gestaltet“, als es zur „Anwendung von Wissenschaft und Maschinerie auf die unmittelbare Produktion“ gekommen sei (Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt/M. 1969, S. 61). Darin liegt, dass die Anwendung von Maschinerie die Anwendung von Wissenschaft ist: Es sei die „direkt aus der Wissenschaft entspringende Analyse und Anwendung mechanischer und chemischer Gesetze, welche die Maschine befähigt dieselbe Arbeit zu verrichten, die früher der Arbeiter verrichtete“ (Grundrisse, Berlin 1953, S. 591). Solche Wissenschaft hat mit Pionieren wie Galilei und Bruno begonnen.

Da fragt man sich wieder, wer wen anwendet: die Kapitalisten die Naturwissenschaft oder diese die Kapitalisten. Könnte es nicht sein, dass die Naturwissenschaft im Kleinen zwar den Befehlen des Kapitals sich unterwirft, indem sie ihm etwa selbstfahrende Autos liefert, wenn es sich denn auf diese Art gigantischer verwerten lässt, im Großen aber ihre eigene Agenda der unablässigen Beschleunigung, der Ertastung des unendlichen Alls und der dazu nötigen Ersetzung des Menschen durch Maschinen unbehindert, weil undurchschaut – weder von den allermeisten Wissenschaftlern noch gar von den Kapitalisten – vorantreibt? Die selbstfahrenden Autos zum Beispiel könnten auch als Zwischenschritt zum Auto, in dem gar niemand mehr sitzt, verstanden werden. Wie man weiß, wird es am meisten von Google gefördert. Dessen Director of Engineering heißt Ray Kurzweil.

Zurück zu Zinn. Für seine Betrachtung der militärischen Folgen dessen, was er als Fluchttendenz ausgehend von der Pest wertet, spricht dass er sie mit viel Empirie untermauern kann. Ob es genug Empirie ist, ist dennoch die Frage. Als bewiesen können Zinns Thesen nicht gelten. (Was in der Propyläen Technikgeschichte zu lesen ist, die kurz nach seiner Veröffentlichung erschien, Bd. 2 Frankfurt/M. Berlin 1992, Bd. 3 1991, lädt zu keiner klaren Schlussfolgerung ein.) Sie sind aber gewichtig und wurden deshalb hier angeführt. In noch viel größerem Maß ist meine These, dass wenn von der frühneuzeitlichen Fluchttendenz eine nachhaltige Wirkung bis zum heutigen Tag ausgegangen sein sollte, es sich übergreifend um eine Tendenz zur Erdflucht handeln könnte, nur eben eine These. Auch sie ist aber begründet genug, dass man sie wenigstens im Auge behalten sollte. Und jedenfalls gilt für die Technik selbstfahrender Autos und der Erdflucht dasselbe wie für die militärische Technik: „Es kommt“, mit Zinn zu sprechen, „auf den Zweck und die Entwicklungsrichtung der technisch-wirtschaftlichen Innovationen an“ – wo ich hinzufüge, dass diese Richtung, eben weil sie statt selbstverständlich zu sein „aus den gesellschaftlich erzeugten Bedürfnissen resultiert“,  g e w ä h l t  werden können sollte, von der Gesellschaft, in allgemeinen freien Wahlen.