(158) Marx zur Rolle der Industrialisierung

2. Noch einmal zur Geschichte des Kapitalismus: Entstehungszeit, Aspekte des Funktionierens, Zeit der Auflösung / Sechster Teil - Retractationes

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Das von Immanuel Wallerstein beschriebene „Weltsystem“, das im langen 16. Jahrhundert entstand, Westeuropa und große Teile Amerikas wie auch Osteuropas umfasste, war nach meinem Dafürhalten weder eine kapitalistische Ökonomie noch musste es zwangsläufig auf eine solche hinauslaufen. Es  b e g ü n s t i g t e  allerdings die kapitalistische Entwicklung, die tatsächlich eintrat, zumal der Faktor, ohne den es nicht gegangen wäre – die Naturwissenschaft -, auch schon vorhanden war und sogar auch von Anfang an mitspielte, wenn auch zunächst noch nicht in kapitalismusinduzierender Weise. Diese meine Auffassung will ich im Folgenden begründen und zwar zunächst so, dass ich einen Unterschied im Herangehen von Wallerstein und Marx unterstreiche. In der nächsten Notiz wird die damit verbundene historische Empirie nachgeliefert.

Mein erstes noch sehr elementares Argument lautet, dass ein sehr weiträumiger Markt nur deshalb, weil er so groß ist, noch kein kapitalistischer Markt ist. Es ist zwar klar, weshalb man glauben kann, dass er es sei. Sind doch in einem solchen Markt gewaltige Geldmengen im Umlauf und können die beteiligten Unternehmer ihr Leben mit dem Versuch zubringen, immer mehr davon für sich selbst abzuzweigen. Der typisch kapitalistische Unendlichkeitsdrive scheint damit schon fertig zu sein. Aber er ist es doch nur als  s u b j e k t i v e s  Phänomen. Dass Menschen, Subjekte, am liebsten immer reicher und mächtiger werden wollen – was letztlich aufs Selbe hinausläuft: sie wünschen unbeschränkte Möglichkeiten -, ist schon immer so gewesen. Aristoteles sagt, Unendlichkeit sei „nur für die Erkenntnis“ (Metaphysik 1048b). Das pure Zählen beweist es: Keine Zahl gibt es, der ich nicht eine nächste anhängen kann, deshalb steht es mir frei, über die kälteste Temperatur des Universums hinauszählen – was aber daran, dass das Universum eine Kältegrenze hat, nichts ändert. So hat auch der Markt eine Ausdehnungsgrenze, die den ihn ihm akkumulierbaren Mehrwert nicht ins Unendliche wachsen lässt.

Das ist eben der Unterschied zwischen einem Markt sans phrase und dem  k a p i t a l i s t i s c h e n  Markt, dass nur letzterer  a l s  M a r k t  ausgedehnt werden kann und muss, während sich im ersten nur die Gewinne eines Teils der Unternehmer ausdehnen. Der Unterschied ergibt sich daraus, dass der Markt sans phrase eine Arbeitsteilung vermittelt, die dazu da ist,  v o r h a n d e n e  Bedürfnisse – oder besser den vorhandenen „Bedarf“, in welchen Begriff das verfügbare Kaufgeld mit eingeht – zu befriedigen, während der Kapitalismus, um sich seiner Bestimmung gemäß dem „unendlichen Mehrwert“ (Marx) anzunähern, den Bedarf immerzu ausweiten und also immer neue Bedürfnisse wecken oder sogar ex nihilo hervorrufen muss.

Wenn man den Unterschied des Objektiven und Subjektiven nicht beachtet, kann einem schon das Gebaren der antiken Händler im Mittelmeer, angefangen mit den Phöniziern und Griechen, als Existenzbeweis kapitalistischer Gesellschaften erscheinen. Der Markt, den sie entwickelten, hatte aber Grenzen in den vorhandenen Bedürfnissen der Käufer. Mit dem Großmarkt des frühneuzeitlichen europäischen Weltsystems verhielt es sich nicht anders. Ansonsten war er schon sehr neuartig. Das zu bestreiten liegt mir fern.

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Der größte Teil Europas und Amerikas in einer einzigen Arbeitsteilung der Massengüter begriffen, die vom Markt nur vermittelt wurde, das war neu. Ein Hauptanliegen meiner Blogreihe ist es, den Unterschied zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus zu betonen, obwohl der Markt, den wir kennen, ein kapitalistischer ist. Ich suche nach einem Weg, wie der Kapitalismus durch eine Ökonomie abgelöst werden kann, in der nichtkapitalistische Märkte eine große wenn auch nicht die einzige Rolle spielen. In dieser Perspektive ist es wichtig zu sehen, dass der europäische Weltmarkt, in dessen Entwicklung wir immer noch stehen, schon selber anfangs kein kapitalistischer war. Es versteht sich allerdings von selbst: Darum, zu  d i e s e n  Anfängen zurückzukehren, kann es nicht gehen. Denn der frühneuzeitliche Weltmarkt war wohl noch schlimmer als der kapitalistische, der ihm folgte. Ich habe ja ausgeführt, dass er in Zentren und Peripherie zerfiel – Wallerstein führt übrigens noch eine dritte Kategorie ein, die „Semiperipherie“, wovon ich hier aber absehe – und dass in der Peripherie unmenschliche Zwangsarbeit bis hin zur Sklaverei geleistet werden musste. Schlimm genug ist freilich auch der heutige Markt, der zwar überwiegend „nur“ noch die „gewöhnliche“ Ausbeutung kennt, dafür aber im Begriff steht, den Planeten ökologisch zu vernichten. Wie auch immer, wenn wir heute eine nachkapitalistische Marktwirtschaft projektieren, muss klar sein, dass sie mehr als nur nachkapitalistisch wäre: Das wäre eine Marktwirtschaft, die  w e l t w e i t  n u r  a u s  Z e n t r e n  besteht.

Es würde sich darum handeln, die Erde als Koexistenz eigenständiger Großräume zu begreifen, wo in jedem eine autarke „inner-internationale“ Arbeitsteilung aufzubauen wäre. Eine Reihe gleichgewichtiger Weltsysteme mithin, die füreinander Außenarenen sind und deren Handel miteinander für keines von ihnen konstitutiv ist. Angenommen, die erste Andere Gesellschaft entsteht im Großraum Europa, würde sie sich zu den anderen Großräumen von vornherein verhalten, als ginge es diesen selbst schon darum, Autarkie zu erreichen, und würde es unterstützen. Die Großräume wären aber nicht nur separater, sondern zugleich auch verbundener als heute. Was heute noch Funktion der Peripherie ist, nämlich ausbeutbare Ressourcen bereitzuhalten, wird ersetzt sein durch ein System gemeinsamer Institutionen der gerechten Verteilung: des Wassers, der seltenen Erden, auch des technischen Wissens und ohnehin der Menschen, die sich niederlassen wo sie wollen. Die Großräume haben zudem gemeinsame Institutionen der planetarischen ökologischen Verwaltung.

Ich will in diesem Kontext eine Nebensache nachtragen. Für die Menschen war es keine, ihr Leid ist unausdenkbar, aber für meine Argumentation. Hier, wo wir immer noch und zum letzten Mal auf den  v o r k a p i t a l i s t i s c h e n  Weltmarkt zurückblicken, kann ich einen Fehler berichtigen, der mir in der in der 77., 78. und 95. Notiz unterlaufen ist. Es war eben von der Ausbeutung der Ressourcen der Peripherie die Rede. Zu denen gehörten früher auch die Menschen, die zu Sklaven gemacht wurden. Marx spricht von der „Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute“ (MEW 23, S. 779). Es ist bekannt, dass die Produktion in Süd- wie auch Nordamerika lange Zeit ohne afrikanische Sklaven nicht durchführbar gewesen wäre. Da habe ich mich zu einer naiven Erörterung hinreißen lassen: Ich stelle mit Polanyi die Ökonomie des westafrikanischen Staates Dahomé dar und streiche ihr  i n t e r e s s a n t e s  G e l d s y s t e m  heraus. Das gewöhnliche Tauschgeld habe aus Kaurimuscheln, das staatliche „Gesellschaftsgeld“ indes aus Sklaven bestanden. Darin habe sich Dahomé vom alten Babylonien unterschieden, dessen Gesellschaftsgeld Edelmetalle waren. Gesellschaftsgeld komme im internationalen Tausch zum Zug und diene zugleich als Recheneinheit für das jeweilige innergesellschaftliche Geld.

Mich haben auch die Geld d i s k u r s e  interessiert und so zeige ich, ebenfalls auf der Basis des Materials, das Polanyi zur Verfügung stellt (vgl. Redistribution: Der staatliche Bereich im Dahome des 18. Jahrhunderts, in Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 256-283), wie das Gesellschaftsgeld in Dahomé teils subsumtiven, teils metaphorischen Charakters gewesen sei. Subsumtiv ist es, weil es als Recheneinheit an der Spitze allen Geldes steht, metaphorisch, weil die Sklaven als Botschafter zu den Göttern geschickt werden, zu welchem Zweck man sie natürlich opfern muss. Diesen Punkt habe ich wohl nicht einmal erwähnt, ihn aber überzeugend gefunden. Erwähnt habe ich (in der 78. Notiz), dass die innergesellschaftliche Ökonomie durch Mann-Frau-Boten reguliert wurde. Hier sei noch der metaphorische Diskurs wirksam gewesen. Jedenfalls schien mir einleuchtend, was Polanyi schreibt: Um keinen Mangel an Götterboten zu haben, musste Dahomé viele Kriege führen.

Es ist aber doch wahrscheinlicher, dass die vielen Kriege deshalb geführt wurden, weil die Nachfrage europäischer Mächte nach Sklaven so stark war. Dass die Sklaven Gesellschaftsgeld waren, wird dadurch nur umso anschaulicher. Wie sich die Chinesen nicht für europäische Waren interessierten und die Europäer deshalb ihr Gesellschaftsgeld, das Edelmetall, gegen chinesisches Porzellan tauschten, so interessierten sich die Europäer nicht für afrikanische Waren, weshalb die westafrikanischen Staaten mit  i h r e m  Gesellschaftsgeld, den Sklaven, vor allem europäische Waffen erwarben. „Tatsächlich betrieb zum Beispiel im dicht besiedelten Biafra eine Händleroligarchie ein Orakel, das in der ganzen Region als Sprecher der höchsten Gottheit anerkannt war. Die Urteile dieses (kostenpflichtigen) Orakels wurden dann von Söldnern, die im Dienst der Kaufleute standen, vollstreckt – mit dem Ergebnis, dass aus dieser Gegend zwischen 1650 und 1800 rund eine Million Sklaven exportiert wurden!“ (WBG Weltgeschichte Bd. IV, a.a.O., S. 129) Der metaphorische Diskurs war hier schon zur puren Ideologie verkommen, nicht anders als der metaphorische Rechts-links-Diskurs unserer Tage. „Auf afrikanischer Seite entstanden regelrechte Sklavenfängerstaaten wie […] um 1700 [.] das zentralistisch-absolutistische Dahomey an der Guineaküste, die mit wachsender Nachfrage ihre ‚Fanggebiete‘ immer weiter ins Landesinnere ausdehnten. Dabei kam ihnen zu Hilfe, dass Europäer zunehmend Schusswaffen an Afrikaner verkauften. Die innerafrikanischen Konflikte nahmen dementsprechend vermutlich quantitativ wie qualitativ zu.“ (S. 139)

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Kommen wir auf die Kapitallogik zurück. Der europäische Weltmarkt des 16. Jahrhunderts war kein kapitalistischer; man sieht es daran, dass er als Markt seine Grenzen hatte. Dafür gibt es übrigens einen zusätzlichen Gesichtspunkt: „Das System dehnt sich bis zu einem Punkt aus, an dem der Verlust größer ist als der Gewinn. Ein Faktor dabei ist natürlich die Distanz, abhängig vom Stand der Technologie.“ Er kann durch das „Konzept der Sechzig-Tage-Welt“ bestimmt werden. (Das moderne Weltsystem I, a.a.O., S. 479) Wallerstein zitiert hierzu Ferdinand Fried, der „zu dem Ergebnis [kommt], dass der Weltwirtschaftsraum der römischen Antike in ungefähr 40-60 Tagen zu durchmessen war, wenn die besten Transportmittel benutzt wurden … Auch heute, in unserer Zeit (1939), braucht man 40-60 Tage, um den modernen Weltwirtschaftsraum zu durchmessen, wenn man die normalen Transportnetze des Warenverkehrs benutzt.“ (S. 28 f.)

Die Transportdistanz ist nur ein Faktor von mehreren. Wallerstein spricht von  G e w i n n grenzen. Wenn das Gesamtsystem so beschaffen ist, dass die Grenzen der Transportdistanz zugleich seine Gewinngrenzen sind, kann es nicht kapitalistisch genannt werden. Denn eine kapitalistische Wirtschaft ist eine, die „wächst“, ja von der heute jedermann weiß, dass sie zusammenbräche, würde sie nicht  e n d l o s  „wachsen“. Die europäische Weltwirtschaft des 16. Jahrhunderts musste weder, noch konnte sie unendlich expandieren. Warum nicht? Die Frage wird umzukehren sein: Was macht eine Ökonomie aus, die endlos expandieren kann und sogar muss?

Eine  a g r a r i s c h e  Wirtschaft jedenfalls, wie sie im 16. Jahrhundert bestand, war keine solche Ökonomie und konnte es nicht sein. Die Begründung liefert Marx. Marx neigte zwar dazu, den bloßen Umstand, dass in einer Ökonomie nur noch für den Markt produziert wird, überzubewerten, ich meine hinsichtlich ihrer Macht oder Ohnmacht, dem Kapitalismus zu verfallen. Die Unfähigkeit einer solchen Ökonomie, sich dem „unendlichen Mehrwert“ zu nähern (was den Kapitalismus erst definiert, vgl. MEW 42, S. 254), strich er aber klar heraus. Wir lesen im zweiten Band der Theorien über den Mehrwert, dass die Masse des Mehrwerts in der Agrikultur geringer sei als in der Industrie, weil jene anders als die Industrie nicht einmal den  a b s o l u t e n  Mehrwert zu steigern vermag (MEW 26.2, S. 14), während ihr der  r e l a t i v e , den es  n u r  in der Industrie geben kann, von vornherein gar nicht zu Gebote steht. Es ist klar, dass dies natürlich nur so lange gilt, wie die  Agrikultur nicht ihrerseits industrialisiert worden ist. Die Industrialisierung tritt anfangs neben sie und erfasst sie dann selber. Dies geschieht aber erst im 19. Jahrhundert.

Als Mehrwert bezeichnet Marx den Wert desjenigen Teils des Arbeitstags eines Arbeiters oder einer Arbeiterin, den sich der ihn oder sie beschäftigenden Kapitalist ohne Gegenleistung aneignet. Angenommen, sie erarbeitet in acht Stunden ein Produkt, das der Kapitalist zum Wert 8 verkaufen wird. Dafür erhält sie einen Lohn zum Wert 6 – als hätte sie sechs statt acht Stunden gearbeitet -, der so groß ist, dass sie auf einem kulturell üblichen Niveau ihre Arbeitskraft und ihr Leben (das eine lässt sich vom andern nicht trennen) reproduzieren kann. Was „üblich“ ist, ist in mehr oder weniger friedlichen Klassenkämpfen entschieden worden. Dem Kapitalist bleibt also ein Mehrwert von 2. Die Annahme, dass er ihm bleibt, ist logisch unvermeidlich, denn sonst müsste man fragen, was er denn davon hat, die Arbeiterin zu beschäftigen und ihr Produkt zu verkaufen. (Genau genommen lässt sich der Begriff „Mehrwert“ nur auf das beziehen, was sich die gesamte Kapitalistenklasse aneignet; wie sich das dann verteilt und was bei unserem Kapitalisten hängenbleibt, ist also eine Frage für sich; aber davon abstrahieren wir jetzt.) Will dieser Kapitalist seinen Mehrwert nun steigern, hat er zwei Möglichkeiten. Er kann erstens den Arbeitstag verlängern. Wenn die Arbeiterin 10 Stunden arbeitet, schafft sie nicht mehr nur ein, sondern eineinviertel Produkte. Ihr Lohn bleibt aber gleich, falls keine starke Gewerkschaft den Deal verhindert. Mehrwert, der auf diese Art zustande kommt und auch nur so vergrößert werden kann, dadurch also dass der Arbeiter oder die Arbeiterin eine Zeitlang ohne Gegenleistung für den Kapitalisten arbeitet und diese Zeit noch vergrößert wird, heißt bei Marx „absoluter“ Mehrwert.

Der „relative“ setzt die Industrialisierung voraus. Angenommen, der Kapitalist kann den Arbeitstag nicht verlängern, weil ein Gesetz es verhindert, zu dem eine starke Gewerkschaft den Staat hat nötigen können. Um den Mehrwert nun dennoch zu steigern, kann er Maschinen in den Produktionsprozess einfügen, die bewirken, dass unser Produkt von unserer Arbeiterin in nicht mehr 8 sondern sage 2 Stunden erarbeitet werden kann. Da er ihr immer noch den Lohn im Wert von 6 zahlt und das Produkt immer noch im Wert von 8 verkauft, ist sein Mehrwert von 2 auf 6 gestiegen. Das ist der relative Mehrwert. Allerdings hat er auch die Maschine bezahlen müssen. Sobald der Kapitalismus in die Ära der Maschinenproduktion und –entwicklung eintritt, wird der Maschinenanteil immer größer, damit auch immer teurer, während aber auch der Mehrwert pro Arbeiter oder Arbeiterin immer größer wird. Andererseits werden immer weniger Arbeiter zur Produktion des in Rede stehenden Produkts überhaupt noch benötigt, was wiederum die  M a s s e  des Mehrwerts vermindert. Dies wird aber dadurch mehr als ausgeglichen, dass die Maschinerie in derselben Zeit immer mehr Exemplare des Produkts zu produzieren erlaubt.

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Wie gesagt, die Masse des Mehrwerts muss in einer nichtindustrialisierten Agrikultur geringer sein als in der Industrie, und das heißt schlechthin gesprochen, sie muss gering sein. Denn der absolute Mehrwert kann nicht gesteigert werden, weil sich der Arbeitstag nicht verlängern lässt. „In der Agrikultur kann nicht bei Gasbeleuchtung gearbeitet werden“, sagt Marx (ebd) – selbst wenn es Gasbeleuchtung im 16. Jahrhundert schon gegeben hätte. Es gibt sie nicht und auch noch keine Traktoren, auch keine chemische Bedüngung, also überhaupt keine Möglichkeit, die starre Grenze des absoluten Mehrwerts durch relativen Mehrwert zu überspielen. Das aber bedeutet, und darauf will ich hinaus, es kann in einer solchen Ökonomie unmöglich zu einer Bewegung kommen, die sich dem  u n e n d l i c h e n  Mehrwert  o b j e k t i v  nähert, das heißt die imstande und sogar gezwungen ist,  j e d e  G r e n z e  des Mehrwerts und so auch immerfort die gegebene Grenze des Marktes zu übersteigen. Kurzum, eine solche Ökonomie kann nicht kapitalistisch sein. Diese Eigenschaft kann nur eine industrialisierte Ökonomie haben.

Um den Mehrwert innerhalb des begrenzten Marktes zu steigern, bleiben dem Kapitalisten der nichtindustrialisierten Agrikultur wieder zwei Möglichkeiten. Er kann erstens das Glück haben, dass sehr viele Arbeiter zur Verfügung stehen und sich einsetzen lassen (ebd). Dies ist aber in der Peripherie gerade nicht der Fall, und auch in den Zentren nicht, wenn dort der Boden in Weideland verwandelt wird. Oder er kann den Lohn „unter sein traditionelles Niveau“ herabdrücken (S. 11). Dafür bestehen in der Peripherie des 16. Jahrhunderts die besten Bedingungen. Gerade weil dieser Weg noch bleibt, gibt es dort Zwangsarbeit bis hin zur Sklaverei. Mit Kapitalismus hat das aber nichts zu tun. Ich würde die damals entstandene Produktionsweise, die den Feudalismus ablöste, ohne schon kapitalistisch zu sein, als „hierarchische Marktwirtschaft“ bezeichnen. Hierarchisch, weil Unternehmer wie Arbeitskräfte im Zentrum besser gestellt waren als in der letztendlich von beiden, wenn auch natürlich in sehr verschiedenem Verhältnis, ausgebeuteten Peripherie.

Die Länge des Arbeitstags vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne gehört zu den Naturgrenzen, die der Agrikultur unübersteigbar sind. Eine andere Naturgrenze ist der Boden. Selbst beim Einsatz von Chemie lässt er sich nicht beliebig kneten (ganz abgesehen von den antiökologischen Folgen). Auch diese Grenzen machen es unmöglich, den Gewinn ins Unendliche zu steigern. Unendliche Steigerung ist nur denkbar, wenn (fast) alle Bestandteile des Produktionsprozesses von Naturschranken befreit, also  k ü n s t l i c h  sind und, was die Antriebsenergie angeht, laufend zur Verfügung stehen. Denn nur dann kann sich der Prozess aus sich selbst heraus permanent erneuern. Nur dann ist es möglich, Produkte ständig zu „verbessern“ und immer neue zu erfinden. Nur so kann nicht nur der Gewinn einzelner Kapitalisten, sondern können ganze Märkte expandieren. Dies setzt eben die Industrialisierung voraus. Mit nichtindustrialisierter Landwirtschaft ist es nicht zu machen.

Industrialisierung aber setzt die Anwendung von Ergebnissen naturwissenschaftlicher Forschung voraus. „Die große Industrie“, schreibt Marx, „musste sich […] ihres charakteristischen Produktionsmittels, der Maschine selbst, bemächtigen und Maschinen durch Maschinen produzieren. So erst schuf sie ihre adäquate technische Unterlage und  s t e l l t e  s i c h  a u f  i h r e  e i g e n e n  F ü ß e . Mit dem wachsenden Maschinenbetrieb in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts bemächtigte sich die Maschinerie in der Tat allmählich der Fabrikation der Werkzeugmaschinen. Jedoch erst während der letztverflossnen Dezennien des 19. Jahrhunderts“ – der Text erschien 1867 – „riefen ungeheurer Eisenbahnbau und ozeanische Dampfschifffahrt die zur Konstruktion von ersten Motoren angewandten zyklopischen Maschinen ins Leben.“ (MEW 23, S. 405, meine Herv.). „Als Maschinerie erhält das Arbeitsmittel eine materielle Existenzweise, welche Ersetzung der Menschenkraft durch Naturkräfte und erfahrungsmäßiger Routine  d u r c h  b e w u s s t e  A n w e n d u n g  d e r  N a t u r w i s s e n s c h a f t  b e d i n g t .“ (S. 407) Und wie die Industrie der maschinellen Maschinenproduktion bedarf, um auf „eignen Füßen“ zu stellen, so die Agrokultur der Industrie, um als kapitalistische ihre „konstante Grundlage“ zu haben (S. 776).

Die allgemeinste Aussage von Marx zum Zusammenhang von Kapitalismus und Anwendung der Naturwissenschaft wurde schon in unserer Erörterung der Pestfolgen zitiert (156. Notiz): Die kapitalistische Produktionsweise habe sich erst „als eine Produktionsweise sui generis gestaltet“, als es zur „Anwendung von Wissenschaft und Maschinerie auf die unmittelbare Produktion“ gekommen sei (Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt/M. 1969, S. 61). So sei es die „direkt aus der Wissenschaft entspringende Analyse und Anwendung mechanischer und chemischer Gesetze, welche die Maschine befähigt dieselbe Arbeit zu verrichten, die früher der Arbeiter verrichtete“ (Grundrisse, Berlin 1953, S. 591).

Bei Wallerstein wird man solche Aussagen vergeblich suchen. Nicht nur, dass er die Industrialisierung für keinen bedeutsamen Einschnitt in der Akkumulationsgeschichte ansieht, ist für ihn die „Konzeption der ‚industriellen Revolution‘“ als solche bereits „in höchstem Grade irreführend“ (Das moderne Weltsystem III, Wien 2004 [engl. 1989], S. 51). Jürgen Osterhammel, der Wallerstein den „einflussreichste[n] Globaltheoretiker der 1970er und 1980er Jahre“ nennt, hält ihn deswegen für überholt (nur „ziemlich alte[.] Einwände[.]“ habe er vorgebracht: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 926). Mit den Marxschen Ausführungen zur Industrialisierung setzt sich Wallerstein, soweit ich sehe, nirgends auseinander. Es ist aber offensichtlich, wogegen sich sein Widerstand richtet: eben gegen die mit dem Konzept verbundene Annahme, dass die industrielle Revolution zugleich erst die kapitalistische ist.

Sein eigenes Konzept, wonach eine voll ausgebildete kapitalistische Dynamik bereits im 16. Jahrhundert eingesetzt habe („Agrarkapitalismus“: Aufstieg und künftiger Niedergang des kapitalistischen Weltsystems. Zur Grundlegung vergleichender Analyse, in Dieter Senghaas [Hg.], Kapitalistische Weltökonomie. Kontroversen über ihren Ursprung und ihre Entwicklungsdynamik, Frankfurt/M. 1979, S. 31-67, hier S. 45), ist in der innermarxistischen Debatte zurückgewiesen worden, doch spielten auch da die Marxschen Ausführungen keine Rolle. Marx wurde vielmehr nur „subjektiv“ gelesen, das heißt man unterstrich seine Aussage, dass Kapitalismus ein Klassenverhältnis zwischen ausbeutendem Kapital und ausgebeuteter (vertrags)freier Lohnarbeit sei (vgl. Klaus Müller, Modernisierung und Weltsystem: Immanuel Wallersteins globalistische Wende der Modernisierungstheorie, in Carsten Stark und Christian Lahusen [Hg.], Theorien der Gesellschaft. Einführung in zentrale Paradigmen der soziologischen Gegenwartsanalyse, München 2002, S. 203-235, hier S. 230). Diese Aussage ist allerdings  f a k t i s c h  vom Konzept der industriellen Revolution untrennbar. Ich habe es oben schon angedeutet und komme unten darauf zurück. (Frühe Debatten über Wallersteins Ansatz finden sich in Senghaas, a.a.O.)

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Davon, dass die Naturwissenschaft systematisch angewandt wird, kann erst von der Mitte des 19. Jahrhunderts an die Rede sein: „Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein konnte […] bislang kaum eine technische Innovation als Ergebnis wissenschaftlicher Überlegungen identifiziert werden.“ (WBG Weltgeschichte Bd. IV, a.a.O., S. 59) Da beginnt also erst im strengen Sinn der Kapitalismus. Da erst hat die Kapitallogik die ökonomische Basis der fortgeschrittensten Gesellschaften, das heißt mit Wallerstein der Zentren eines europäischen Weltsystems, das zunächst noch keine „Globalisierung“ des ganzen Planeten, aber von Anfang an sehr groß ist, vollkommen erfasst.

Keinem Zweifel unterliegt es, dass alle notwendigen Existenzbedingungen des Kapitalismus schon seit dem 16. Jahrhundert in Entstehung begriffen sind. Die Frage bleibt aber, ob es da schon zwangsläufig war, dass sie sich früher oder später zusammenschließen mussten. Es ist im Grunde allgemein bekannt, dass Marx die Frage eindeutig verneint. Denn wenn es erst zur Industrialisierung kommen muss, damit der Kapitalismus auf eigenen Füßen steht und so erst unumkehrbar wird, gehört dazu ja auch, dass erst mit ihr das  V e r h ä l t n i s  v o n  K a p i t a l  u n d  ( v e r t r a g s ) f r e i e r  L o h n a r b e i t  systematisch und unumkehrbar gegeben ist. Es ist dies der Gesichtspunkt, den Marx selbst ins Zentrum seiner Überlegungen stellt. Wie wir schon sagten, bedarf es solcher „freien“ Arbeiter, weil nur von ihnen erwartet werden kann, dass sie die immer diffiziler werdenden technischen Aufgaben der kapitalistischen Produktion „con amore“ ausführen. Das reale Zusammentreffen der beiden Klassen hält Marx aber für historisch kontingent. Sein ausführlicher Rückgriff in die Geschichte seit dem 16. Jahrhundert dient, wenn man einfach die Seiten des Kapitels über die „ursprüngliche Akkumulation“ in Das Kapital Buch I zählt, zu zwei Dritteln nur dem Erweis, dass Arbeitskräfte verfügbar wurden, welche sich der Reichtum, der sich gleichzeitig ansammelte, zuletzt zunutze machte. Und zugleich weiß Marx, dass auch andernorts und zu anderer Zeit Geld und Arbeitskräfte nebeneinander vorhanden waren, durchaus aber nicht zusammenfanden (vgl. MEW 19, S. 111 f.).

Es ist eben  k e i n  G e s c h i c h t s g e s e t z , das den Kapitalismus schon im 16. Jahrhundert „notwendig“ machte. Er war nur möglich geworden. Ja man kann im Rückblick von einer „hohen Wahrscheinlichkeit“ sprechen. Weil die Existenzbedingungen vorhanden waren und sich nicht widersprachen. Weil gerade die Naturwissenschaft von Anfang eine hohe Wertschätzung erfuhr, von den Staaten zunächst, deren Militärstärke von ihr in einem Maß gesteigert wurde, das jede Erwartung übertraf. Dass sie aber auch in den Markt eingreifen würde, war damit noch nicht entschieden.

Wenn es eine Gesetzmäßigkeit gibt, dann besteht sie nur in den „drei Quellen und drei Bestandteilen“ – so habe ich in der 17. Notiz formuliert -, die zusammenfinden müssen, damit so etwas wie Kapitallogik entstehen kann. Ich schrieb damals: „Kapital, Naturwissenschaft und Staat, oder genauer: das Kapital erstens im isoliert ökonomischen Sinn, wo es sich als Kreislauf von Ware, Geld, Produktion und wieder Ware darstellt, zweitens seine konstitutive Beziehung zur Naturwissenschaft und drittens seine konstitutive Beziehung zum Staat sind die drei Quellen und drei Bestandteile des ‚Kapitals im allgemeinen‘.“ Ein Teil dieser Formulierung ist unklar, wo ich nämlich vom „Kapital im isoliert ökonomischen Sinn“ spreche. So etwas gibt es eben gar nicht und die Erläuterung, die folgt, ist denn auch keine  T e i l definition des Kapitals, sondern eine  v o l l s t ä n d i g e des  M a r k t e s , der für sich genommen nicht kapitalistisch sein muss. Die „drei Quellen und drei Bestandteile“ sind also ganz einfach der Staat, der Markt und die Naturwissenschaft – von denen jede(r) dann und nur dann kapitalistisch ist, wenn er sich unter der Losung, das Unendliche zu erlangen, mit den beiden anderen verbindet. Die Erlangung nicht nur zu wünschen, sondern auch zu können, haben wohl schon immer alle drei Quellen auch einzeln gewollt. Aber nur die Naturwissenschaft hat den gangbaren Weg gezeigt, jedes vorläufige Ende zumindest so oft zu übersteigen, „bis alles in Scherben fällt“. Sie war es, die dem Staat die Atombombe verschaffte und dem Markt die industrielle Warenproduktion, durch welche er sich ausweiten lässt bis zur ökologischen Katastrophe.

Unter den drei Quellen des Kapitals ist nicht der Markt die treibende Kraft, wie die meisten Marxisten bis heute glauben, sondern die Naturwissenschaft in ihrer historisch bestimmten, vom ausgehenden Mittelalter auf die Fluchtbahn gesetzten Gestalt. Marx selbst hätte es wissen können, denn es sind  s e i n e  theoretischen Einsichten, die den Schluss nahelegen. Wenn er dennoch dem Markt alle Schuld auflud und die Naturwissenschaft so wie sie war und ist in den Kommunismus mitnehmen wollte, dann wohl deshalb, weil er sich mit der Akkumulationsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert nur in einer Hinsicht detailliert befasste. Außerdem weil ihm, wie man wohl sagen darf, seine Religionskritik in eine allzu undifferenzierte Wissenschaftsgläubigkeit umgeschlagen war. Wie schon gesagt, interessierte ihn vor allem die Entstehung der Arbeiterklasse. Ansonsten sah er einen Weltmarkt, der sich nach und nach wie zwangsläufig in den kapitalistischen verwandelte, und führte es auf die unendliche Zählbarkeit des Geldes zurück. Dabei ist Geld für sich genommen vollkommen ohnmächtig. Von den Staaten kann das nicht gesagt werden – kreativ ist aber nur die Naturwissenschaft.