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In der vorigen Notiz habe ich gezeigt, dass das Kapital, wie Marx es sah – als ins „Endlose“ strebende Bewegung -, in seinen Augen doch nicht nur etwas war, das am besten gar nicht entstanden wäre. Im Gegenteil, er schreibt ihm eine positive Funktion zu, diejenige der Öffnung einer Enge, wie ich es genannt habe. Hören wir ihn selbst: Das Kapital, urteilt er in den „Grundrissen“, „[treibt] als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums die Arbeit über die Grenzen ihrer Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität“, „weil an die Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist“ (Ausg. Berlin 1953, S. 231). „Erst kommt das Fressen“ ist zwar richtig, aber zu eng, Marx strebt weit darüber hinaus. Allerdings nicht ins Unendliche, sondern zur „reichen Individualität“. Das ist sein Ziel. Ich habe es in den ersten Notizen häufig umschrieben. Dafür brauchte es die Öffnung.
„Daher ist das Kapital produktiv; d.h. ein wesentliches Verhältnis für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Es hört erst auf als solches zu sein, wo die Entwicklung dieser Produktivkräfte selbst an dem Kapital selbst eine Schranke findet.“ (ebd.) Am Ende also erlischt die positive Funktion, und wenn das dadurch geschieht, dass das Kapital „selbst an sich selbst eine Schranke findet“, dann heißt das: Dieselbe Unendlichkeit, die anfangs „produktiv“ war, weil sie „über die Grenzen“ hinausgetrieben hat, wird zuletzt zum unerträglichen Manko. Zuletzt bleibt nur die zwanghafte Grenzüberschreitung um ihrer selbst willen, die eben das ist, was man sonst auch Destruktion nennt.
Aber noch einmal, die Anfänge der unendlichen Bewegung werden dadurch nicht widerlegt. Marx räumt ausdrücklich ein, dass nur das Kapital und sonst gar nichts, nicht Arbeiter, nicht Bauern, die Öffnung der Enge bewerkstelligen konnte: „Es bedarf keines besondren Scharfsinns, um zu begreifen, dass ausgehend f. i. von der aus der Auflösung der Leibeigenschaft hervorgegangenen freien Arbeit [allein]“ das Kapital, „als ihr [gegenüber] fremdes Eigentum und feindliche Macht“, hat “ e n t s t e h n können; d. h. dass sie ihr als Kapital [sc. hat] gegenübertreten müssen.“ (S. 717)
Diese Öffnung geschah ein für alle Mal. Will sagen, mit dem Kapital wird es zwar ein Ende haben, aber nicht mit dem, worin es geschichtlich voranbringend war: „Ebenso leicht ist aber einzusehn, dass die Maschinen nicht aufhören werden Agenten der gesellschaftlichen Produktion zu sein, sobald sie z. B. Eigentum der assoziierten Arbeiter werden.“ (ebd.)
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Wir haben einen Blick auf die Anfänge geworfen: den „Saint-Simonismus“, der als Erfüllung alter Menschheitsträume erscheinen konnte. Hier wurde Anlauf zur Schöpfung eines technischen Paradieses genommen; dass es um den Preis einer unendlichen Bewegung geschah, wurde noch nicht eigens hervorgehoben oder gar problematisiert, außer von Marx. Aber auch Marx glaubte, dass das Aufbau-Programm als solches eine gute Sache war und man deshalb die unendliche Bewegung vorübergehend hinnehmen musste. Wie ging es nun nach dem Saint-Simonismus weiter? Wie hörte das Kapital auf, produktiv zu sein? Oder ist der Zeitpunkt bis heute nicht gekommen?
Zuerst müssen wir die Frage beantworten, was überhaupt unsere Kriterien sind, es zu entscheiden. Ich denke, das ist gar nicht so schwer.
Es geht ja nicht darum, die Wahrheit über das wirklich Produktive zu kennen. Das Kapital ist eine Institution, mit deren Hilfe die Gesellschaft sich die Lebensmittel verschafft, die sie braucht. Es ist produktiv, wenn es diese Lebensmittel herbeiführt. Man wird den Begriff der Produktivität zuletzt enger fassen, in dem Sinn, dass das Gebrauchte mit dem geringstmöglichen Aufwand produziert sein soll, aber das ändert nichts an der Grundbestimmung: Erst einmal geht es darum, dass produziert wird, was die Menschen brauchen, und nichts anderes. Ein Handy, das spezielle Flugeigenschaften aufwiese, so dass man endlich Weltmeisterschaften im Handyweitwurf veranstalten könnte – nachdem wir doch schon über das Handyfoto verfügen! -, mag mit noch so geringem Aufwand produziert werden, „produktiv“ wären Produktion und Kapitaleinsatz dennoch nicht zu nennen. Von dem Moment an, wo das Kapital andere Lebensmittel herbeiführt, wirkliche und angebliche, als die, die gebraucht werden, hört es auf, produktiv zu sein. Die Frage aber, was gebraucht wird und was nicht, entscheiden natürlich die Kunden.
Das Kapital hört auf, produktiv zu sein, wenn die Kunden das Zeug nicht mehr kaufen wollen, das ihnen auf den Warentisch gelegt wird, oder wenn sie es nur kaufen, weil sie dazu gezwungen sind. Sie sind gezwungen, wenn es ihnen nicht möglich ist, das von ihnen Gebrauchte so anzumelden, dass das Kapital es auch liefern muss, statt irgendetwas anderes zu liefern. Das beste Beispiel ist immer wieder der Verkehr. Untersuchungen, die zeigen, dass in Ballungsräumen – Ruhrgebiet, Bremen – auch die meisten Autofahrer auf öffentlichen Nahverkehr umsteigen würden, wenn nur das Angebot hinreichend wäre, hat es schon Anfang der 1990er Jahre gegeben. Aber wenn man anfängt, einfach dem Willen der Leute nachzugeben, was wird dann aus dem Kapital?
Ich glaube, das Kriterium ist einfach und klar: Sobald es über die Frage, was gebraucht wird, gesellschaftliche Differenzen gibt, es aber nicht die Gesellschaft ist, die ihren Willen durchsetzt, sondern das Kapital, hat dieses aufgehört, produktiv zu sein. Nur seine Macht ist ihm dann noch geblieben.
3
In der Formation, die ich „Saint-Simonismus“ genannt habe, erhielt die Gesellschaft vor allem eine technische Infrastruktur. Eisenbahnen wurden gebaut, Stromleitungen gelegt, Kanäle gestochen, Hochhäuser errichtet. Danach kam der „Fordismus“. In ihm gab es immer noch keine allgemeinen Wahlen, um über den Produktionsweg zu entscheiden, aber immer noch darf angenommen werden, dass Wahlen gar nichts geändert hätten. Der Fordismus als Gebrauchswertprogramm war die Individualisierung des technischen Paradieses, nachdem der Saint-Simonismus wichtige öffentliche Güter hervorgebracht hatte. Mit dem Fordismus wurde die Natur überfordert, aber man hat es nicht gleich gemerkt, und es gab niemanden, der seine Gaben nicht sinnvoll gefunden hätte: das Auto, den Kühlschrank, den Fernseher, das Eigenheim. Auch die damalige Alternativgesellschaft, die Sowjetunion, verfolgte kein anderes Gebrauchswertprogramm.
Seit den 1950er Jahren ist aber ein tiefer Dissens über das zu Konsumierende entstanden. Dies war das Jahrzehnt, in dem die Konsumismuskritik entstand. Sie war zunächst eher abstrakt. In den 1960er Jahren begannen sich Konturen abzuzeichnen. Es gab auf der einen Seite die „Futurologen“, die ihre Träume der Paradiestechnik fortspannen, und auf der anderen, in den USA zunächst, die Ökologiebewegung. Schon damals kritisierte Ralph Nader die Autoindustrie, während man gleichzeitig die wollmilchsauartigen (und auch tödlichen) Wunderautos der James-Bond-Filme bestaunte. Nader kandidierte später gegen Bush und Al Gore, dem er die Präsidentschaft vermasselte.
Inzwischen leben wir in einer „postfordistischen“ Zeit, die sich schwer charakterisieren lässt, da wir „das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn“ können, um mit Walter Benjamin zu sprechen. Der zentrale Gebrauchswert ist aber zweifellos der Personal Computer. Dass er einen gewaltigen und begrüßenswerten „Fortschritt der Produktivkräfte“ darstellt, steht außer Frage, wiederum auch ohne allgemeine Wahlen über den Produktionsweg.
Doch es gibt einen Dissens, und sogar nicht nur einen. PC, Digitalisierung, Internet können radikal verschieden genutzt werden. Als André Gorz über ihren Nutzen für den Aufbau emanzipatorischer Netzwerke, ja für Schritte zu einer nichtkapitalistischen Produktionsweise nachdachte, bemerkte er, dass sie von anderen vielmehr als Vorstufe zur „künstlichen Intelligenz“ einer außermenschlichen, ja menschenfeindlichen Maschinen-Population begriffen wurden (ich habe es schon in der 8. Notiz erwähnt). Der Öffentlichkeit ist immerhin die Möglichkeit bewusst, mit der neuen Technik das Privateigentum am Wissen auszuhebeln, und auch die Gefahr, dass ein alles überwachender Staat das Internet zunächst zunehmend kontrollieren und es zuletzt zum Orwellschen Big Brother umbauen könnte. Dieselbe Zwiespältigkeit der neuen Technik war bereits Gegenstand einer Schrift gewesen, die vielen als Startschuss zur „Postmoderne“ galt, nämlich des Büchleins Das postmoderne Wissen, Graz Wien 1986, von Jean-Francois Lyotard. Der französische Philosoph hat in einer anderen Schrift auch das antihumane Maschinenprogramm erörtert, in einem Ton sogar, als könne es gar nicht mehr aufgehalten werden: OIKOS, in Joschka Fischer (Hg.), Ökologie im Endspiel, München 1989, S. 39-55.
Während Lyotard zu den Bedenkenträgern gehörte, fand das antihumane Programm bei Michael Hardt und Toni Negri naives Gehör: Sie freuen sich auf die „körperlichen Mutationen“ eines „anthropologischen Exodus“, weil er ja zur „Schaffung eines Körpers“ führen könnte, „der vollkommen unfähig ist, sich einer Befehlsgewalt zu unterwerfen“ (Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M. New York 2003, S. 227 f.). Und sie glauben sogar, gerade unter der Fahne dieses „Exodus“ ließen sich die antikapitalistischen Kräfte sammeln. Dass es sich um einen weiteren Schritt ins Unendliche handelt, sehen sie genau, meinen aber, das Streben dorthin sei gerade das Marxsche, das kommunistische Streben, während das Kapital die unendliche Bewegung nicht durchhalten könne. Darin liege ja seine Schranke: Es sei „durch Finalität blockiert“ (S. 96)! So blockiert ist es jedenfalls nicht, dass es nicht schon heute an körperlichen Mutationen arbeitet – wozu Hardt/Negri grünes Licht geben.
4
Diesen Charakter hat die kapitalistische Öffnung „über die Naturbedürftigkeit hinaus“ inzwischen angenommen. Kein Ende der Öffnungen: Inzwischen gibt es schon Stimmen, die die Erde als eine Art Gefängnis begreifen, dem es zu entkommen gelte. So Jesco von Puttkamer, Planungschef der NASA, den ich in der 8. Notiz zitiert habe. Aber was heißt „inzwischen“? Es gibt solche Stimmen seit über hundert Jahren. Wir sollten die Gelegenheit, wenigstens noch eine weitere Stimme anzuhören, nicht verstreichen lassen: die von John Desmond Bernal, dessen vierbändiges Werk Wissenschaft. Science in History, Reinbek 1970 (Erstausg. 1954, letzte bearbeitete Aufl. 1965) so viele 68er-Bücherschränke ziert.
Hier wird noch einmal das technische Paradies beschworen, kurz bevor uns die ökologische Angst überkam: „Innerhalb eines halben Jahrhunderts wird, wenn der Krieg geächtet werden kann, billige Energie aus Kernspaltung und vielleicht noch billigere aus Kernverschmelzung in beliebigen Mengen zur Verfügung stehen. Das bedeutet eine praktisch unbegrenzte Menge von Rohstoffen und Nahrungsmitteln. […] Pflanzen können in allen Wüstengegenden angebaut werden, nachdem diese mit hochgepumptem Grundwasser oder destilliertem Meerwasser gespeist wurden, oder auch in Treibhäusern während des langen arktischen Sommers gezüchtet werden.“ Gleich anschließend kommt Bernal auf die „Erforschung“ des Universums zu sprechen, da „Atomraketen“ auch „der Schlüssel zur Weltraumfahrt werden [können]“. (S. 789 f.)
Sein Fach war die moderne Röntgen-Kristallographie, zu deren Pionieren er gehörte. Er war an der Gründung der UNESCO beteiligt. An seinem Institut wurde die Entschlüsselung der Genstruktur bewiesen. Nicht nur der Lenin-Orden, sondern auch die US Medal for Freedom wurde ihm verliehen. Dieser Mann hatte noch ein anderes Buch geschrieben, 1929 schon: Es trug den bemerkenswerten Titel The World, The Flesh and The Devil. An Inquiry into the Future of the Three Enemies of the Rational Soul. Eine Neuausgabe erschien ebenfalls 1970, wurde aber nicht ins Deutsche übersetzt. Bernal versucht hier, die technische Entwicklung zu prognostizieren, und hält sich mit Kleinigkeiten wie Pflanzen in der Sahara nicht auf: Die rationale Seele werde nicht ruhen, vermutet er, bis sie „das Meiste vom gestirnten Universum kolonisiert“ habe. Auf diesem Weg nehme sie sich zum bloßen Seelen-Teil eines neuen Maschinenkörpers zurück. Die Erdbewohner mit Körpern aus Fleisch sind „Parasiten“, die den rationalen Seelen Rohstoffe und Energie streitig machen könnten. Sie müssen notfalls vernichtet werden. Das ist Bernals eigene Überzeugung.
Er sagt, das Ziel dieser technischen Entwicklung sei die „buchstäbliche“, das heißt physische, diesseitige Realisation der Sehnsucht nach Ekstase und nach Annäherung an das Göttliche. (London 1970, S. 29 f., 34 f., 42 ff., 62, 70; vgl. Gudrun Kohn-Waechter, Ersatzwelt, totale Herrschaft, Risikolust: Elemente eines modernen Technikdiskurses am Beispiel von John Desmond Bernal, in Wolfgang Emmerich/Carl Wege [Hg.], Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära, Stuttgart 1995, S. 47-71)
Kommt uns das irgendwie bekannt vor? Nun ja, es liest sich wie die Realisation des „Flugs ins Unendliche“, dem wir bei Giordano Bruno begegnet waren. Es ist, als hätte Brunos Öffnung inzwischen den Charakter einer schneidenden Alternative angenommen: die Erde verlassen oder die Erde retten? Ist der Mensch das Ziel – seine „reiche Individualität“, wie Marx sagt – oder ist es die allmächtige Maschine?
Vielleicht zeichne ich die Alternative zu dramatisch. Es kann ja sein, dass Bernal und andere seiner Art nur einflusslose Spinner waren. Aber dass die Gesellschaft allmählich Anlass hat, sich zu fragen, welche Zukunft sie will, und dies auch zu entscheiden, statt die Entscheidung dem Kapital zu überlassen – einem Kapital, zu dessen Wesen es laut Marx gehört, dass es sich von der Naturwissenschaft zum Bau von Maschinen inspirieren lässt -, sollte klar geworden sein. Wenn die Gesellschaft aber anders entscheidet als das Kapital, dann wird sie dennoch ihre Entscheidung, und nicht die des Kapitals, in die Tat umgesetzt sehen wollen. Sie wird dann, um es noch einmal zu sagen, den Mechanismus eines „rastlosen Strebens“ um seiner selbst willen nicht mehr hinnehmen. Vielleicht bemerkt sie nun überhaupt erst, dass es ihn gibt.