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Ich resümiere zunächst den Gedankengang der letzten vier Folgen: Das Kapital ist eine unendliche Bewegung. Es eröffnet daher in seiner mehrhundertjährigen Geschichte immer neue Gebrauchswert-Welten. Denen sieht man lange nicht an, dass ihrer Entwicklung ein „ins Endlose“ fortlaufender Mechanismus zugrunde liegt, weil sie vielmehr als vernünftiger Fortschritt erscheinen. Sie sind das auch tatsächlich. Aber es kommt ein Punkt, wo die Gebrauchswerte nicht mehr in der Richtung fortschreiten, die von der Gesellschaft gewollt wird. Diese könnte sich nun fragen, warum das so ist. Sie könnte den Mechanismus entdecken. Indessen stellen wir fest, er mag sogar entdeckt sein, er wird immer noch nicht in Frage gestellt. Er ist unbeliebt, ja. Man ärgert sich über ihn. Das ist dann aber auch schon alles. Woher nimmt er seine Stärke und Beharrungskraft? Dabei sind die Kapitalisten nicht einmal eine bewaffnete Macht.
Meine erste Antwort war, das Kapital ist kein rein ökonomischer Mechanismus. Es gibt Kapital nur dort, wo erstens in die Ökonomie Naturwissenschaft eingespeist wird und wo zweitens ein Staat, der entsprechend gepolt ist, das Kapital permanent einsetzt und schützt. Darüber, dass der Staat stark ist und die Naturwissenschaft Autorität hat, wundern wir uns ja nicht. Indessen würde natürlich nicht jede Naturwissenschaft, nicht jeder Staat das Kapital als ökonomischen Mechanismus speisen, einsetzen oder schützen. Sondern diese Mächte tun das als solche, die selber schon kapitalistisch funktionieren.
Deshalb brauchen wir noch eine zweite Antwort: Warum lassen sie sich herab, Kapital-Funktion zu sein? Warum speisen sie nicht eine neue Ökonomie? Diese Frage gewinnt am Staat eine sehr konkrete Brisanz. Der Staat, das sind nicht zuletzt die Parteien. Die setzen permanent das Kapital ein. Auch in unseren Tagen zum Beispiel, obwohl das Kapital gerade wieder einmal Werte vernichtet hat und wir alle dafür zahlen müssen. Niemand zwingt die Parteien dazu! Kein Militär bedroht sie mit Maschinengewehren! Und selbst wenn es das täte – es kommt immerhin gelegentlich vor -, müsste noch die Frage beantwortet werden, wer wiederum das Militär zwingt. Man wird auch nicht glauben, dass die Parteien das Kapital einfach deshalb einsetzen, weil sie von ihm „bestochen sind“. Menschen wie Merkel, Müntefering, Westerwelle handeln vielmehr ganz offensichtlich aus Überzeugung. Und schon gar die Millionen Wähler, die werden erst recht nicht „bestochen“. Es ist ja umgekehrt, sie sehen zu, wie man mit ihrem Geld die systemerhaltenden Banken schmiert. Jetzt nach der Bundestagswahl wird man sie dafür ausnehmen wie Weihnachtsgänse. Und obwohl sie nicht so dumm sind, das nicht zu ahnen, haben sie den Merkel, Müntefering, Westerwelle erneut eine große Mehrheit verschafft.
Das ist ein einfacher Befund: Die Stärke des Kapitals rührt zwar daher, dass es gut verteidigt wird. Aber es gibt noch einen zweiten, ganz anderen Grund: Das Kapital, verteidigt oder nicht, es wird gar nicht angegriffen. Darüber ist hier nachzudenken.
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Marx hat es mit dem erklärt, was er den „Fetischcharakter“ des Kapitals nannte. Der Ausdruck unterstellt einen heimlichen Zwang: Das Kapital wird wie ein Totem behandelt, das im Wortsinn unangreifbar ist, nämlich nicht berührt werden darf.
Da dies ein religionskritischer Vergleich ist, impliziert er noch mehr. Er vergleicht die Mechanismen. Der religiöse Fetisch ist das Werk der Menschen, die ihn gemacht haben. Tatsächlich machen sie sich aber selbst zu Sklaven und ihn zu ihrem Herrn. Ebenso ist das Kapital eine von Menschen gemachte Institution, die den Menschen dienen sollte. Tatsächlich ist es umgekehrt, sie sind es, die dem Kapital dienen. Und noch etwas ist vergleichbar: Wenn es den religiösen Fetisch einmal gibt, kann man ihn nicht wieder aus der Welt schaffen, denn er ist ja heilig. Ebenso scheint es, dass das Kapital, obwohl bloßes Menschengeschöpf, nicht weggeschafft werden kann. Warum denn, hält man es auch für heilig? Die Frage würde wohl niemand mit Ja beantworten.
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Aber liegt der Gedanke an „Fetischismus“ nicht wirklich nahe? Befremdliche Subalternität finden wir überall, wo vom Kapital die Rede ist. Man braucht nur jeden Tag die Zeitung aufzuschlagen. Zum Beispiel die FAZ am 31. Juli: „Der Griff zur Mehrwertsteuer ist alternativlos. Wenn es in Deutschland nicht zu einem kleinen Wirtschaftswunder kommt und die Politik die Schuldenbremse nicht über Bord werfen will“ – auf deutsch: wenn es nicht einfach um die Frage ginge, wer die Zeche zahlt für die den Banken geschenkten Milliarden -, „sind höhere Steuern kaum zu vermeiden. Dann bietet sich die Mehrwertsteuer an, weil sie dem Wachstum weniger schadet.“
Das sind Hauptüberschrift und Untertitel-Zeilen eines ganzseitigen Textes, verfasst von einem, wie man doch sagen muss, g l ä u b i g e n Finanzwissenschaftler. Er glaubt ans Wachstum. Das Wachstum muss nicht begründet werden. Es ist selbstevident. Nun geht es aber keineswegs um das Wachstum des Reichtums der Menschen. Im Gegenteil, denen soll er aus der Tasche gezogen werden. Damit das Kapital wächst. Jetzt nach der Bundestagswahl heißt es erneut: „Die Koalition kommt um harte Beschlüsse nicht herum“ (die FAZ am 28. September). „Wir brauchen Wachstum, und dafür müssen wir die Investitionsbedingungen verbessern“, wird ein führender FDP-Politiker zitiert. Eins hat man ohnehin vergessen: dass es einmal ein Buch gab, in dem „Grenzen des Wachstums“ angemahnt wurden, weil sonst die Erde nicht überlebt.
Die Auskunft, dass wenn das Kapital wachse, auch der Reichtum der Menschen zunehme, ist in den letzten Jahren verbrannt. Unter der rot-grünen Regierung war das Kapital mit gigantischen Steuererlasssummen beschenkt worden, damit neue Arbeitsplätze entstünden und sich derart Wohlstand ausbreite. Das geschah nicht. Die heute den Banken geschenkten Milliarden, jene, die „den Griff zur Mehrwertsteuer alternativlos“ machen, sollen die Banken zur Kreditierung der Realwirtschaft veranlassen. Sie tun es nicht. Oh, das Kapital ist nicht so, wie wir es uns wünschen! Aber jedenfalls muss es wachsen! Das ist sein Wesen, es mag uns gefallen oder nicht! „Das Wachstum“ abschaffen, wäre das nicht ungefähr so, als wollten wir den Lauf der Sonne aufhalten?
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„Weil sie dem Wachstum weniger schadet.“ Man könnte an dieser Stelle auch Marx‘ Kapitaldefinition einsetzen: weil es sich eben um Kapital handelt, und weil Kapital eben „die beständige Bewegung ist, mehr davon zu schaffen“ (MEW 42, S. 253), vom Kapitalgewinn nämlich, von sich selbst. Oder, anders gesagt, weil Kapital den „Beruf“ hat, „sich dem Reichtum schlechthin durch Größenausdehnung anzunähern“ (MEW 23, S. 166).
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Der Fetischbegriff lässt sich mit Wataru Hiromatsu, einem japanischen Philosophen, noch besser begreifen, wenn wir ihn mit dem Begriff „Entfremdung“ konfrontieren, der in Marx‘ Jugendschriften zentral ist (Vgl. Ryoji Ishizuka, Hiromatsu-Schule, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6/1, Hamburg 2004, Sp. 276-281, hier Sp. 277). Fetisch und Entfremdung sind keine Synonyme. Ein Fetisch, wie gesagt, ist ein Machwerk, dem die Machenden sich unterwerfen, als seien sie die von ihm Gemachten. Entfremdung hat eine andere Struktur: Die Menschen projizieren etwas, das ihnen selbst angehört, aus sich heraus, in den Himmel zum Beispiel, wo sie es Gott nennen, oder in irgendwelche Dinge. Auf den ersten Blick fällt es nicht leicht, die Strukturen von Fetisch und Entfremdung auseinander zu halten. Denn wie man dem fetischisierten Ding dient, so dem Gott, der aus Entfremdung geboren ist. Beide Male unterläuft eine „Verkehrung“: Beim Fetisch so, dass das Machwerk zum Macher wird, bei der Entfremdung so, dass „das Prädikat als Subjekt“ erscheint, dass nämlich der von mir selbst ausgesagte, in den Himmel projizierte Gedanke „Gott“ zu einem Wesen wird, das vielmehr mich aussagt. Und schließlich, stimmen Fetisch und Gott nicht in der Heiligkeit überein, die man ihnen zuschreibt?
Dennoch gibt es Unterschiede. Man sieht es sofort, wenn man nur fragt, was gegen beide zu tun ist. Das Entfremdete, sagt Marx, wird wieder „angeeignet“. Also, wenn wir einen Gott aus uns herausgesetzt haben, machen wir das rückgängig und erklären ihn zum Bestandteil unserer selbst. Der junge Marx sieht eine Analogie im Ökonomischen: Was die Menschen erarbeitet haben, sind Produkte, die so sehr heraus sind, dass sie in fremden Händen landen, denen der Ausbeuter. Die Arbeiter bauen Paläste und besitzen sie nicht, finden sich in Hütten wieder. Aber sie werden die Paläste zurückholen. Das ist so weit plausibel. Einen Fetisch jedoch holt man nicht zurück. Wenn man aufhört, ihm zu dienen, besteht die Alternative nicht darin, dass man ihn sich „aneignet“. Im Gegenteil, man lässt ihn liegen, er wird einem gleichgültig.
Mehr noch. Gerade wenn wir davon ausgehen, dass Heiligkeit sowohl dem Fetisch als auch dem gedachten Gott zugeschrieben wird, stoßen wir auf den krassen Unterschied, dass mit dem Entfremdungsbegriff generelle Religionskritik geübt wird, mit dem Fetischbegriff aber keineswegs. Denn wenn wir Europäer etwas als Fetisch bezeichnen, dann sagen wir: Das ist nicht Gott, sondern ein Götze. Diese Kritik ist aus der Bibel genommen.
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Könnte es sein, dass wir zwar die Fetische entheiligen sollten, aber nicht der Entfremdung entkommen können? Jedenfalls nicht jeder Entfremdung?
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Der junge Marx übernahm die Entfremdungskritik von Ludwig Feuerbach. Bei dem hatte sie ein bezeichnendes Schicksal. Der Gott, von dem Feuerbach wusste, dass er ein von uns nach außen projizierter Gedanke sei, war ein unendlicher Gott. Als „den Unendlichen“ präsentierte ihn nämlich die Theologie. Friedrich Schleiermacher hatte es gerade wieder getan. Deshalb lehrt Feuerbach den Menschen, der sich a l s d i e s e U n e n d l i c h k e i t „weiß“ – der „weiß, daß das pantheistische Wesen, welches die spekulativen Philosophien oder vielmehr Theologien vom Menschen absonderten“, indem sie es „als ein abstraktes Wesen vergegenständlichten, nichts andres ist als sein eignes unbestimmtes, aber unendlicher Bestimmungen fähiges Wesen“ (Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie, in: Werke in sechs Bänden [Hg. Erich Thies], Bd. 3, Frankfurt/M. 1975, S. 223-243, hier S. 240).
Das also besagt Feuerbachs Philosophie: Der Mensch ist zur Unendlichkeit fähig. Und auch willens: „Das entschiedene, zu Fleisch und Blut gewordene Bewußtsein, daß das Menschliche das Göttliche, das Endliche das Unendliche“ sei, „ist die Quelle einer neuen Poesie und Kunst, die an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige übertreffen wird.“ (S. 228) Man lasse sich aber vom Getöse solcher Sätze nicht täuschen. Letztlich sondert auch Feuerbach ein abstraktes Wesen vom Menschen ab, nämlich „die Natur“, von der schon Spinoza geschrieben hatte, Deus sive natura, Gott oder die Natur, das laufe aufs Gleiche hinaus. Keineswegs behauptet Feuerbach, der Mensch „wisse sich“ als die unendliche Natur; im Gegenteil: „Die Natur ist das von der Existenz ununterschiedne, der Mensch das von der Existenz sich unterscheidende Wesen.“ (S. 239) Wird im ersten Satzteil die Behauptung aufrechterhalten, dass das Endliche das Unendliche sei, nennt der zweite den Preis: Der endliche Mensch „weiß sich“ als eine solche Unendlichkeit, die auf sich selbst verzichtet.
Als habe er seine Endlichkeit frei gewählt! Und als verwandle sie sich dadurch in ihr Gegenteil, in Unendlichkeit! Damit ist nun überhaupt nichts gewonnen. Die „Entfremdung“ bleibt. Feuerbach gibt selbst zu, der Mensch ist nicht das Subjekt der unendlichen Natur. Folglich ist er, wenn Deus sive natura, auch kein unendliches Gottessubjekt.
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Als der junge Marx Feuerbach rezipierte, verstand er das alles nur halb. Es beschäftigte ihn nicht, dass Wiederaneignung des Entfremdeten Aneignung von Unendlichkeit bedeutete. Er sah nur, Feuerbach kritisierte „ein abstraktes Wesen“. Der reife Marx jedoch bekommt Augen für ein Wesen, das sich selbst Unendlichkeit zuschreibt, nämlich fürs Kapital. Dessen Bewegung, schreibt er, sei die „Abstraktion in actu“ (MEW 24, S. 109). Will sagen, das ist zwar abstrakt, aber es ist auch wirklich. Sollte er nun etwa analysieren, die Gesellschaft sondere in der Unendlichkeit des Kapitals ihr eigenes Wesen ab, und fordern, sie müsse es wieder heimholen?
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Dass der Kapitalismus religiöse Färbung annimmt, ist gar nicht so erstaunlich. Der Grund ist, man hat vergessen, weshalb er einmal eingerichtet wurde. Weil dann auch der Frage, wie es anders sein könnte, die Anhaltspunkte abhanden kommen, weckt die Vorstellung des Anderen eine diffuse Angst. Die findet ihr Vorbild in der Todesangst. Gegen den Tod suchen sich viele mit dem Heiligen zu wappnen. Man klammert sich ans Kapital, weil man dessen Verlust mit dem Lebensende assoziiert. In solcher Konfusion erscheint es dann wie ein Gott. Wer sich dem Heiligenschein entziehen kann, sieht freilich nur einen Götzen.
Und wie weiter? Wir brauchen nicht zu staunen und auch nicht erschüttert zu sein. Denn es gehört zwar zur Conditio Humana, dass Menschen sich vor dem Sprung scheuen. Aber die Angst hält doch nicht allem stand, was nach Änderung schreit. Irgendwann springen sie doch. Von einem, der nach einer „Wachstums“krise gesprungen ist, wird in der nächsten Notiz die Rede sein. Er heißt John Maynard Keynes.