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Wie ist das Kapital entstanden? Diese Frage wird uns einige Blog-Notizen hindurch beschäftigen. Wir sahen zuletzt, der Historiker Braudel fragt konkreter nach der Entwicklung des Kaufmannskapitals. Wie konnte es beste Handelsbedingungen auf dem Weltmarkt und zudem noch auf einem großen Binnenmarkt erlangen? Braudel zeigt, dass der englische im 18. Jahrhundert groß und homogen wurde und dass gerade England die Macht hatte, weltweit „freien Handel“ zu erzwingen. Natürlich ist Kapital erst fertig, wenn dem Kaufmannsvermögen Arbeitskraft als kaufbare Ware entgegentritt. Die muss also vorher „freigesetzt“, das heißt für sich isoliert worden sein, zum Beispiel durch Enteignung von Bauernland. Braudel weiß es und sagt es, aber sein Forscherinteresse gilt mehr der Häufung des Kaufmannsvermögens. Er fragt auch, unter welchen Bedingungen die Kaufleute nichts hindert, ihr Vermögen beliebig einzusetzen.
Seine Antwort: In Europa konnten „Familien“ als solche sehr stark werden. Nicht nur Kaufmannsfamilien, aber auch sie. Denn große Vermögen kommen nicht in einem Menschenleben zusammen, sondern wenn sie vererbt und wieder vererbt werden und die Erben eine schon große Reichtumsbasis noch mehr vergrößern. Was ist nun die Bedingung für starke Familien, und warum finden wir sie gerade in Europa? Weil hier der Staat schwächer war als woanders, antwortet Braudel. Schwacher Staat, starke Familien. Natürlich denkt er zuerst an Adlige, den Feudalismus, der aus der Auflösung des starken Weltreichs der Römer resultierte. Es dauerte ja lange genug, betont er, bis die Kaufleute aufhörten, nur in den Adelsstand aufrücken zu wollen. So lange begnügten sie sich, ihren Reichtum nur als Hebel zur Nobilitierung einzusetzen. Erst als sie merkten, wie stark der Hebel wirklich war, trieben sie Familienpolitik im Interesse des eigenen Kaufmannsstandes.
Das ist so weit plausibel. Die Antwort gewinnt noch, wenn wir hören, wie Braudel den Feudalismus charakterisiert: nicht nur ökonomisch, sondern vor allem politisch. Gut, Feudalismus ist Lehnsvergabe, und für die Belehnung wird eine Gegenleistung verlangt, die in ökonomischen Gaben bestehen kann. Das Geflecht der reziproken Leistungen ist im Einzelnen aber ziemlich komplex, so dass man sich bald fragt, was es nützen soll, verschiedenste Verhältnisse unter dem einen Namen „Feudalismus“ zusammenzufassen.
Wenn wir indessen politisch herangehen, tritt eine Eigenschaft, die nie fehlt, sehr klar hervor: Im Feudalismus sind die Hoheitsrechte nicht auf der Ebene des Reichsoberhaupts konzentriert. Sondern vieles liegt ganz offiziell bei den Feudalherren. Sie sind bewaffnet, können Verträge mit reichsauswärtigen Mächten eingehen – so mag ein deutscher Kurfürst nach der polnische Krone greifen -, sie haben Gerichtshoheit und prägen gar Münzen. Es sind vor allem diese Umstände, die Braudels Frage nach starken Kaufmannsfamilien fruchtbar erscheinen lassen. Denn sie bedeuten, dass diese Familien nicht in Allem mit einem Gesamtreich rangen, sondern vielfach nur mit der Politik einzelner Adelsfamilien. Das war einfacher. Einzelne Adelsfamilien waren nie so wohlhabend, dass es ihnen nicht gefallen hätte, mit Hilfe von Kaufleuten noch wohlhabender zu werden. Dann machten sie leicht Zugeständnisse, zu denen sich ein Gesamtreich nicht herabließ.
Braudels Erklärung ist nicht lückenlos, aber die Lücken sind gut platziert, so dass wir durch sie vorankommen. „Schwacher Staat, starke Familien“ war der Ausgangspunkt. Zwei Einwände drängen sich auf, erstens: Hat er nicht auch gesagt, dass England stark sein musste, um den Binnenmarkt homogenisieren und gar der Welt etwas aufzwingen zu können? Umgekehrt zweitens: Ist ein Reich wirklich schon dadurch schwach, dass es nicht alle Hoheitsrechte auf der zentralen Reichsebene konzentriert?
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Zur Beantwortung ist Braudels Vergleich von Europa und Japan instruktiv. Außer Europa, schreibt er, war nur Japan über lange Zeit eine feudalistische Gesellschaft. Und so sei es nur Europa und Japan leicht gefallen, zur kapitalistischen Produktionsweise überzugehen. Das scheint mir nicht zu Ende gedacht. Der Kapitalismus entsteht doch nicht, weil nur nichts hindert, dass er entstehen kann, und dies daher leicht fällt, sondern er entsteht, weil es positive Gründe gibt, die auf seine Entstehung hinauslaufen. Wie Hegel schrieb: Erst wenn alle Bedingungen einer Sache gegeben sind, tritt sie in die Existenz. Der bloße Wegfall von Hindernissen ist eine negative Bedingung, die allein nicht hinreichen kann.
Der Fall Japan zeigt keinen positiven Entstehungsgrund. Man mag den japanischen Staat schwach nennen, weil die Macht seiner Zentrale beschränkt war. Tatsächlich ähnelt der dortige Feudalismus dem europäischen. Aber hinsichtlich der Behandlung von Kaufmannsfamilien war Japan nicht schwach, sondern im ganzen Land war klar, dass man die Kaufleute an der Kandare hielt und ihnen keine eigene auswärtige Handelspolitik gestattete. Hier waren sich zentrale und dezentrale Machtträger einig. Die Folge war, dass die Kaufmannsfamilien zwar Vermögen akkumulieren, es aber nicht beliebig einsetzen durften. Wenn man nun fragt, warum Japan trotzdem zur kapitalistischen Produktionsweise „leicht überging“, so ist die Antwort auch ohne Braudel bekannt: weil es vom Westen gezwungen wurde. Insofern war der japanische Staat allerdings schwach, schwächer nämlich als die westlichen Staaten. Aber das trägt zur Erklärung, weshalb Kapital entstanden ist, nichts bei, weil die Frage offen bleibt, wie es erst einmal den Westen heimsuchen konnte.
Die Vorstellung vom schwachen japanischen Staat führt sogar in die Irre. Es war doch die Stärke dieses Staates, eine bestimmte Stärke und Überlegenheit zum Beispiel über den chinesischen Staat, die ihn zur schnellen Übernahme des Kapitalismus befähigte. Braudel sieht das nicht. Er betont, dass es unter dem chinesischen kaiserlichen Regiment viel weniger Freiräume gab als in Japan. Aber gerade weil japanische Großgrundbesitzer mächtiger waren als chinesische, konnte Japan auf den westlichen Druck mit größerer Stärke reagieren. Muss nicht jeder fasziniert sein, der sieht, wie zum rechten Zeitpunkt aus der dezentralen japanischen Elite Politiker hervortraten, die erkannt hatten, dass Japan nur durch schnelle Übernahme westlicher Modelle – wozu sie übrigens das Staatsmodell des preußischen Militarismus zählten – vor dem Schicksal Chinas bewahrt bleiben konnte? Auch wie sie in wenigen Jahrzehnten den innerjapanischen Machtkampf gewannen, überwiegend konsensuell, zum geringeren Teil durch Bürgerkriegsmaßnahmen? Diese Übernahme lief auf eben die vollständige Zentralisierung der Macht hinaus, die bis dahin gefehlt hatte. Man wird doch urteilen, dass das schon vorher ein sehr starker Staat gewesen sein muss: so stark, dass er sich viel Dezentralisierung leisten konnte, ohne zu zerfallen; so stark, dass die Intelligenz durch Dezentralisierung gehoben wurde statt nur durch Befehl und Gehorsam.
Wie mir scheint, erklärt sich diese Stärke zum guten Teil aus der japanischen Insellage. England und Japan haben nicht nur die „starken Familien“, sondern auch die Insellage gemein. Sie hat in beiden Fällen dazu geführt, dass sich interne Verhältnisse über Jahrhunderte ohne äußere Bedrohung entwickeln konnten. Genau das war der Grund, weshalb England es sich leisten konnte, vom Feudalismus direkt zur parlamentarischen Demokratie überzugehen, und weshalb in Japan der Konsens eine größere Chance hatte als anderswo. Genau deshalb wurden England und Japan so stark. Das Gegenbeispiel sind die Kontinentalreiche, die immer wieder von Nomadenvölkern überrannt wurden, so dass sie ständig versuchen mussten, sich mit Mauern oder einem Limes zu verteidigen. Der stärkste Limes ist aber die zentralisierte Macht. Man ist stark durch Zentralisierung statt durch Freiheit, wenn man gezwungen ist, Nomaden abzuwehren.
Für die Staaten des westlichen Kontinentaleuropa war es ein Glück, dass die Mongolen in Russland halt machten, doch saßen sie eng genug beieinander, dass Krieg auf Krieg folgte und es auch hier seit dem Beginn der Neuzeit zur immer stärkeren Zentralisierung kam. Da war aber der Kapitalismus noch gar nicht entstanden. In seinem Versuch, zu entstehen, traf er auch hier nicht auf schwache Staaten.
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Braudels Erklärung ist also in diesem Punkt falsch. Man muss gegen ihn zu erklären versuchen, weshalb in Europa sehr starke Staaten aufkamen, die ihre Stärke nicht zur Unterdrückung, sondern zur Förderung erst des Kaufmannskapitals und später auch des Industrie- und Finanzkapitals einsetzten.
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Vom Staat hat es überall abgehangen, ob der Kapitalismus entstehen konnte oder nicht. Das bedeutet, man muss erklären, wie es zu einer Staatlichkeit kommen konnte, die aufhörte, den Kapitalismus abzulehnen. Wie Marx betont, hatte sich solche Ablehnung überall von selbst verstanden: „Wir finden bei den Alten nie eine Untersuchung, welche Form des Grundeigentums etc. die produktivste, den größten Reichtum schafft? Der Reichtum erscheint nicht als Zweck der Produktion, obgleich sehr wohl Cato untersuchen kann, welche Bestellung des Feldes die einträglichste, oder gar Brutus sein Geld zu den besten Zinsen ausborgen kann. Die Untersuchung ist immer, welche Weise des Eigentums die besten Staatsbürger schafft. Als Selbstzweck erscheint der Handel nur bei den wenigen Handelsvölkern“, Marx nennt die Juden (Grundrisse, Berlin 1953, S. 387), man könnte auch auf die Mongolen verweisen. Die trieben zwar nicht selbst Handel, standen aber den Händlern als Nomadenvolk nahe: Ihr von China bis Europa reichendes Reich wollte durchreisenden Kaufleuten Schutz bieten.
Im europäischen Absolutismus gilt dann plötzlich Reichtum als offizieller Produktionszweck. Und in England steht nichts über der Wissenschaft, die sich, vom Staat gefördert, im 18. Jahrhundert mit dem Handwerk zusammentut, so dass es zur Industriellen Revolution kommt. Wie konnte das geschehen? Auch noch im europäischen Mittelalter war man weit entfernt gewesen, den Reichtum, statt des Glaubens in diesem Fall, zum Staatszweck und damit erst zum Zweck der gesellschaftlichen Individuen zu erheben. Wenn Marx sich die Frage stellt, ist seine Antwort die, dass eine selbstlaufende Entwicklung der Produktivkräfte die Dämme des Gemeinsinns mit der Zeit notwendig bricht. Das ist jedoch nicht plausibel.
Es will auch von Marx nicht zum Nennwert verstanden werden. Die Produktivkräfte sind nämlich nie getrennt vom Gemeinwesen zu haben. Marx sagt selbst, Entwicklungen der ökonomischen „Basis“ müssten erst im „Überbau“ bewusst werden, damit die Gesellschaft zu Schlüssen befähigt wird, und nur dort würden solche Schlüsse dann „ausgefochten“ (MEW 13, S. 9). Es ist also ein „Bewusstsein“ in Rechnung zu stellen, das den Staat erfasst und zum Propagandisten nicht mehr bloß des Glaubens oder Bürgersinns, sondern der Reichtumsvermehrung macht, daneben auch der Wissensvermehrung und, ganz allgemein, der Machtvermehrung über alle Grenzen hinaus.
Das bedeutet, dass zu den Existenzbedingungen des Kapitalismus eine intellektuelle Komponente gehört, deren Kraft man sich nicht riesig vorstellen soll, die aber keinesfalls fehlen durfte. Was sind das für Staaten, die nicht mehr auf sichere Grenzen setzten wie selbst die stolzen Römer (ein Augustus hatte seine Nachfolger gewarnt, das Reich nicht zu überdehnen), sondern auf mehr Reichtum, mehr Wissen und immer mehr Macht? Da muss doch eine intellektuelle Reform stattgefunden haben – eine, die zuletzt den Staat erfasste und umwälzte, so dass er aufgehört hat, das Kapital abzuwehren.
Marx untersucht das so wenig wie Braudel, aber er erfasst die Bedingungen des Problems. Auch Marx weiß, dass der Kapitalismus nicht schon durch großes Vermögen und „freigesetzte“ Arbeitskraft entsteht – sonst wäre er schon im alten Rom, im alten China und erst recht im alten Japan entstanden -, vielmehr muss „das auf dem Austausch […] basierte Gemeinwesen“ (Grundrisse, a.a.O., S. 108 f.), der Staat, der sich auf Händler stützt, statt sie klein zu halten, als Medium ihrer Zusammenfügung hinzutreten. Das tut er nicht, solange die Staatsdoktrin stoisch, christlich oder konfuzianisch bleibt.
Es ist dies der Ort, wo wir noch einmal auf Max Weber zurückkommen müssen. Denn der hat behauptet, die zum Kapitalismus führende intellektuelle Reform sei der Calvinismus gewesen.
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Die Notiz Nr. 24 wird sich nicht scheuen, intellektuell immanent, ja philosophisch immanent zu argumentieren. Es kann zwar jetzt schon versichert werden, dass die „intellektuelle Komponente“ selbst wieder auf eine „ökonomische Basis“ zurückgeführt werden wird. Aber ich will gar nicht verschweigen, dass ich das im Grunde für ein albernes Spiel halte. Was heißt denn „Bewusstwerdung der Basis im Überbau“? Der Gedanke, der nur „bewusst wird“, muss als Gedanke schon vorher da gewesen sein. Man stellt dann fest, dass er mit der Sache, die von ihm benannt wird, mehr oder weniger verträglich ist. Insofern „bestimmt das Sein das Bewusstsein“. Wir wollen aber den Gedanken nicht erst dann präsentiert bekommen, wenn er fix und fertig ist, sondern uns seine Herausbildung im Denken verständlich machen.
Wenn ich mich daher für irgendetwas zu entschuldigen habe, dann höchstens für die Abstraktheit meiner Argumente, die allerdings zu erwarten ist. Aber auch hier fällt die Entschuldigung nicht schwer. Denn auch wer die intellektuelle Reform, die zur Entstehung des Kapitalismus beitrug, uninteressiert findet, wird nicht leugnen, dass wir heute wieder eine intellektuelle Reform brauchen, die diesmal aus demselben Kapitalismus herausführen soll. Ja, ich erhoffe von der Erörterung der „intellektuellen Komponente“, dass sie, indem sie ein allgemeinstes intellektuelles Prinzip des Kapitals offenbart, auf ein ebenso allgemeines Prinzip der Negation des Kapitals führen wird. Dies Prinzip werden wir als ständiges Kriterium unseres Entwurfs der Anderen Gesellschaft verwenden.