(45) Adorno und seine Schüler

3. Adorno

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Wenn ich nun auf Adornos Soziologie zu sprechen komme, will ich seine Sicht der Tauschwelt nicht nochmals darstellen; da er sich immer nur kurz, wenn auch gewichtig dazu äußert, sind die Sätze, die in philosophischen, ästhetischen oder soziologischen Schriften dem Tausch gelten, selber fast austauschbar. Das spezifisch Soziologische liegt etwa in der Aussage, die Äquivalenzlogik des Tauschs führe zur Homogenisierung der Gesellschaft und bewirke eine „Gemeinsamkeit des sozialen Reagierens“. Dies ist aber nicht das eigentlich Interessante an Adornos Gesellschaftstheorie. Erst der Nachsatz macht deutlich, worum es geht: Der Umstand, dass auf Konformismus Statistik gegründet werden kann, „bezeugt, dass Allgemeines und Besonderes nicht versöhnt, dass gerade in der individualistischen Gesellschaft das Individuum dem Allgemeinen blind unterworfen, selbst entqualifiziert ist“. (Soziologie und empirische Forschung, in Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt/M. 2003, S. 207)

Der Satz wiederholt, was Marx in nahezu denselben Worten gesagt hat. Aber  w i e  Adorno das „Allgemeine“ und „Besondere“ faßt, da wird es erst spannend. Das Allgemeine ist die „Totalität“ von Gesellschaft, in der die „Menschen auf Agenten und Träger des Warentauschs“ reduziert werden (Gesellschaft, in a.a.O., S. 13 f.), die aber mehr ist als das. Der springende Punkt ist, dass wir sie gar nicht überblicken, da wir nur die Gegenwart und Vergangenheit von Gesellschaft, nicht aber „die“ Gesellschaft kennen. Adorno schreibt auch: „Dialektische Kritik möchte retten oder herstellen helfen, was der Totalität nicht gehorcht, was ihr widersteht oder was, als Potential einer noch nicht seienden Individuation, erst sich bildet.“ Das heißt, die Totalität von Gesellschaft enthält nicht nur Dinge, denen man sich fügt oder nicht fügt, weil man ihre Fatalität erkennt, sondern in ihr sind auch bereits ganz andere Dinge angelegt, die es noch nicht gibt. Deshalb folgt hier der Kernsatz: „Totalität ist, provokatorisch formuliert, die Gesellschaft als Ding an sich, mit aller Schuld der Verdinglichung.“ (Einleitung zum „Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“, a.a.O., S. 292)

Eine „Provokation“ ist das wirklich. Die Gesellschaft als Ding an sich, also, kantisch gedacht, als noch unvorhanden, wenn auch in gegenwärtiger Verdinglichung schlecht vorscheinend: Das läuft darauf hinaus, dass man im Medium einer Soziologie, die der Philosophie enträt, gar nicht von ihr reden kann. Man kann nur philosophisch von ihr reden. Das ist es auch, was Adorno gegen den „Positivismus“ einwendet, der die Gesellschaft dingfest und erkennbar macht, indem er sie auf ihre Gegenwart reduziert. Nein, sie ist so wenig erkennbar wie der Mensch, der selbst nichts anderes ist als ein „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“. Weil der Mensch und seine Gesellschaft sich noch nicht zuende entwickelt haben – weil diese, so Adorno, kein „Gesamtsubjekt hat und durch ihre Einrichtung dessen Instauration hintertreibt“ (S. 316) -, kann über beide vorerst nur im Modus der Spekulation gesprochen werden. Die Eule der Minerva hatte noch keine Gelegenheit, zu fliegen.

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Er gibt damit nicht nur dem „Positivismus“ Bescheid, sondern auch der Luhmannschen Soziologie, die erst nach seiner Zeit in Mode kam. In der Tat wusste auch Luhmann, dass es unmöglich ist, „die“ Gesellschaft zu erkennen. Aber welchen Schluss zog er daraus? Den, sie epistemologisch zu vernichten. Es gibt sie schlicht nicht, es gibt nur die „Kopplung“ der gesellschaftlichen „Subsysteme“, und diese wird dann „Gesellschaft“ genannt. Bei Adorno gibt es sie, wenn auch um den genannten Preis, dass neben die empirisch soziologische Rede von ihr die philosophische treten muss. Aber warum soll der Preis nicht gezahlt werden? Schon bei Marx findet sich dieselbe Konstellation. Er kann nur ökonomisch argumentieren, indem er auch Soziologe ist, bevor es die Bezeichnung gab (zum Verhältnis von Ökonomie und Soziologie vgl. Michael Krätke, Mythos Markt oder wo der gesellschaftliche Verstand nicht zu haben ist, in Jens Becker/Heinz Brakemeier [Hg.], Vereinigung freier Individuen, Hamburg 2004), und er ist als Soziologe auch Philosoph. Philosophie führt ihn dazu, den Menschen als geschichtlich und die Geschichte des Menschen als unfertig zu denken.

Daraus ergibt sich sein soziologischer Ansatz, nicht „die“ Gesellschaft zu untersuchen, sondern nur die „historisch bestimmte Gesellschaftsformation“, in der wir jetzt leben. So ist von vornherein klar, das Untersuchungsobjekt wird nicht immer da sein und ist nicht immer gewesen. Als Ökonom versucht Marx dann, basale Strukturen der Formation auf den Begriff zu bringen. Leute, die auf seinen Ansatz heute zurückblicken, werden sich vielleicht sagen, er sei „interdisziplinär“ verfahren. Aber das trifft es überhaupt nicht. Nicht Marx ist „inter“, sondern die Gesellschaft selber ist es, und deshalb müssten es alle Soziologen sein. Es kann über Gesellschaft keine homogene Theorie geben. Nur eine, die in ihrer Gegenwart ihre Vergangenheit sedimentiert und ihre Zukunft angelegt sieht, ist ihr angemessen. Was wir „die“ Gesellschaft nennen, bricht in diese drei Teile auseinander. Die Brüche selber, der zur Zukunft und der zur Vergangenheit, müssten daher das Objekt der sie untersuchenden Wissenschaft sein. Das wird erst durch Adorno klar; darin ist seine Soziologie originär. Was den Bruch zur Vergangenheit angeht, hatte er in Foucault einen ihm unbekannten Gefährten.

Adorno thematisiert diesen letzteren Bruch als Verhältnis der „verwalteten Welt“ zum empirischen Menschen als psychoanalytisch begriffenem Triebwesen. Der Ausdruck „verwaltete Welt“ wiederholt nur die Kritik von Marx und Engels, dass in der kapitalistischen Gesellschaft nicht bloß Sachen verwaltet werden, wie es korrekt wäre, sondern auch Menschen (vgl. Soziologie und empirische Forschung, a.a.O., S. 207). Denen aber schreibt er zu, dass ihr Unbewusstes den Schmerz der Menschheitsgeschichte aufbewahre. Dort „sedimentiert sich, was immer im Subjekt nicht mitkommt, was die Zeche von Fortschritt und Aufklärung zu bezahlen hat“ (Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, a.a.0., S. 61). Der Mensch ist beides, Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse und deren empirisches Element: In jener Allgemeinheit empirisch besondert, trägt er alles Unerledigte aller Vergangenheiten in die Gegenwart hinein, während, wie gesagt, die gegenwärtigen Verhältnisse schon Utopie vorscheinen lassen. Zur Utopie kann es dann nur kommen, wenn nicht nur die Gegenwart, sondern in ihr auch die Vergangenheiten „versöhnt“ werden. Denn voneinander getrennt, unfähig, den „Verein freier Menschen“ zu gründen, sind die Menschen nicht nur durch ihre Verhältnisse, sondern auch durch das, was Geschichte aus ihnen gemacht hat.

Auch hier bietet sich der Vergleich mit Luhmann an. Dessen Gesellschaft besteht nur aus dem Ensemble von Verhältnissen, bei ihm „Subsystemen“, die den Draht zur Zukunft gekappt haben, und sie besteht so radikal nur aus ihnen, dass sogar die empirischen Individuen nicht dazugehören. Die Individuen in ihrer triebhaften Körperlichkeit sind bloß „Stützpunkte“ dieser Gesellschaft, die sich darin erschöpft, „Kommunikation“ zu sein, Kommunikation der Subsysteme. Bei Luhmann wird deutlich, dass eine radikal auf Gegenwart eingeengte Soziologie dahin tendiert, in der Gesellschaft eine Maschine und mit sich selbst „kommunizierende“ Künstliche Intelligenz zu sehen, die uns Menschen zuletzt auch als „Stützpunkte“ nicht mehr braucht. Wie manche Passagen verraten, scheint ihm das auch bewusst zu sein.

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Ähnlich wie man gesagt hat, dass nur Hegel die Zweideutigkeit seiner Philosophie, sowohl kritisch als affirmativ zu sein, zum System zusammenzwingen konnte, während seine Schüler gezwungen waren, in „Alt-“ und „Junghegelianer“ zu zerfallen, ist es Adorno ergangen. Seine Konfrontation des Utopischen mit der schlechten Gegenwart, in der es doch vorscheint, produzierte nur gründliche Schüler: die einen, die das Gegenwärtige total ablehnten, und die andern, die sich ebenso total von der Figur der Teilhabe am Zukünftigen befreiten. Natürlich sind letztere bekannter. Habermas bereits, als ihr Schulhaupt, übersetzt die utopische Vision vom Verein freier Menschen, die Adorno mit Marx teilt, ins Paradigma einer „auf freier Anerkennung beruhenden Verständigung“ (Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt/M. 1981, S. 523).

Sagt er im ersten Anlauf noch, es könnten derart Adornos „Ideen der Versöhnung und der Freiheit als Chiffren für eine wie immer auch utopische Form der Intersubjektivität entziffert werden, die eine zwanglose Verständigung der Individuen im Umgang miteinander […] ermöglicht“ (S. 524), so wird die „utopische Form“ schon auf den nächsten Seiten abgestreift und die „zwanglose Verständigung“ zum bloßen Beschreibungsbegriff, wenigstens auch zur Norm für die Gegenwart. Der Ton liegt auf „Verständigung“, diese ist der Weg, auf dem Menschen in ihrer „Lebenswelt“ ihre „Handlungen koordinieren“, und natürlich wünscht man Zwanglosigkeit und weiß, dass Einiges im Argen liegt; das ist dann aber auch alles.

Von der Zwanglosigkeit einer anderen Ökonomie, auf deren Basis der Verein freier Menschen erst möglich wäre, ist keine Rede mehr. Habermas‘ Stellung zum Ökonomischen ist die, dass er sich von der Notwendigkeit des Geldes überzeugt als eines Mediums, das Handlungen  o h n e  Verständigung koordiniert. Er kann sich auf Adornos Satz berufen, den ich in der vorigen Notiz ebenfalls zitiert habe, dass die in Entfremdung erstarrten Dinge wegen der Notwendigkeit, Fremdes zu versöhnen, auch Achtung verdienten. Das Problem ist nur, Notwendigkeit des Geldes bedeutet für ihn eo ipso Notwendigkeit des Kapitalismus, den er richtig als Wachstumsökonomie beschreibt. Die Pointe der Aussage, Geld sei Steuerungsmedium ohne Verständigung, ist daher die, dass über den Prozess  d e s  K a p i t a l s  Verständigung nicht stattfindet noch stattfinden soll, sondern dessen Steuerung allein dem losgelassenen Geld obliegt. Freilich fordert Habermas auch, das Kapital dürfe die Lebenswelt nicht „kolonisieren“, schon weil es auf deren Ressourcen angewiesen sei.

Mit dem utopischen Gedanken fällt auch die Figur der Teilhabe am Utopischen dahin. Adorno kann sie an der Kunst exemplifizieren, doch gerade den Weg zur Ästhetischen Theorie, seinem letzten Manuskript, denunziert Habermas als Weg ins Irrationale (S. 514 ff.). Der Behauptung, Adorno habe so enden müssen, weil vorher sein rationales Denken gescheitert sei, widerspricht er aber selbst mit dem Hinweis auf dessen Antrittsvorlegung von 1931, in dem der skandalöse Ansatz schon präsent war (S. 517). Adorno war eben schon damals Künstler. Die Ästhetische Theorie sollte auch gar nicht sein letztes Werk sein, sondern er hatte mit ihr, der Negativen Dialektik und einem weiteren, ungeschriebenen Werk über Moralphilosophie die Trias der drei kantischen Kritiken wiederholen wollen (vgl. Editorisches Nachwort zur Ästhetischen Theorie, Frankfurt/M. 1973, S. 537). Habermas, der das alles nicht mehr verstehen will, muss jene Figur der Zukunfts-Teilhabe durch die Suche nach „eigenen normativen Grundlagen“ ersetzen (a.a.O., S. 500). Axel Honneth, sein Nachfolger im Frankfurter Institut, findet einen vorhandenen letzten Grund in der „sozialen Anerkennung“.

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Der Ansatz von Honneth wird von Michael Hintz dargestellt, der es mit den anderen, unbekannteren, wenn auch teilweise ebenfalls akademisch verankerten Schülern Adornos hält, die von sich sagen, sie hätten „die neue Marx-Lektüre“ begründet (Paradoxale Wandlungsprozesse kritischer Theorie – der Stachel Adorno, in Becker/Brakemeier, a.a.O.). Nachdem er ihn kritisiert hat („keine Distanz zum oder Kritik am Mainstream der Soziologie, sondern pure Denunziation theoretischer Alternativen“, S. 48), spricht er freilich auch vom „weitgehende[n] Scheitern der Versuche“ jener anderen Schüler, an Adorno anknüpfend die Marxsche Ökonomie zu rekonstruieren. Weshalb sie aber „scheitern“ oder unbefriedigend bleiben, kann man an ihm selbst studieren, auch deshalb führe ich ihn hier an. Er beklagt sich, „nicht nur bei Habermas & Co, auch in der sich selbst nach wie als sozialistisch verstehenden Linken“ habe sich „eine weitgehende Affirmation des Marktes durchgesetzt“. Er zitiert Joachim Hirsch und Joachim Bischoff: Beide glauben mittlerweile, dass auf Markt und Geld „als wirksame Regulationsmechanismen“, wie Hirsch formuliert, „zumindest nach dem jetzigen Stand gesellschaftlicher Kenntnis und Erfahrung nicht verzichtet werden“ kann (vgl. S. 55 f.).

Aber was hat Hintz dagegen einzuwenden? Er räumt sogar ein: „Bischoff/Menard ist sicher zuzustimmen, wenn sie festhalten: ‚Die  G l e i c h s e t z u n g  von Markt und kapitalistischer Gesellschaftsordnung ist ebenso falsch wie die  I g n o r i e r u n g  des Unterschieds von Ware und kapitalistisch produzierter Ware oder von Geld und Geldkapital.'“ Nun, aber „allerdings stellt eben nicht erst der Kapitalcharakter der Produktionsmittel, sondern stellen schon die Ware-Geld-Verhältnisse eine freie, d.h. selbstbestimmte Gesellschaftsgestaltung vor erhebliche Schwierigkeiten, wobei die gesellschaftliche Bestimmung vormals eigensinnig ökonomischer (!) Kategorien wie Nutzen, Effizienz und Innovation etc. sicher nicht das geringste Problem ist“. Und warum sollen sich solche „Probleme“ und „Schwierigkeiten“ nicht lösen lassen? „Klar scheint nur eines“, ist die Antwort, nämlich was Marx in den Grundrissen schrieb, Hinz braucht es nur zu zitieren: „Es ist ein ebenso frommer wie dummer Wunsch, dass der Tauschwert sich nicht zum Kapital entwickle“. (S. 57)

Also, fassen wir zusammen: Bischoff/Menard ist „sicher zuzustimmen“, abgesehen davon, dass sie genau das Verkehrte sagen, was deshalb „klar ist“, weil Marx es gesagt hat, dessen Ökonomie man nicht hat rekonstruieren können.

Es bleibt dabei, dass Hintz in einem, dem entscheidenden Punkt mit „Habermas & Co.“ einer Meinung ist: dass vom Kapital gelten muss, was vom Geld gilt, und umgekehrt. Man muss entweder beide affirmieren wie „Habermas & Co.“ oder beide zurückweisen wie Hintz. Übrigens ist das nur die eine Gestalt des unglücklichen Bewusstseins, in dem sich diese Schüler aus Anlass des Frankfurter „Adorno-Jahrs“ 2003 präsentieren – hier und ganz ebenso in einem zweiten Buch: Iring Fetscher/Alfred Schmidt (Hg.), Emanzipation als Versöhnung, Ljubljana 2003 -; die andere besteht darin, dass der Geldablehnung krass unverbunden die Einsicht folgt, mit Warentausch und Geld gehe es „in einer selbst noch widersprüchlichen Übergangsphase“ so weiter. Das stellt Brakemeier fest, der dann noch kaltschnäuzig hinzufügt: „Ob die Menschheit je über diese Widersprüche gegen das Neue hinausstreben würde, das ist eine hier nicht zu erörternde Spekulation.“ (in Becker/Brakemeier, a.a.O., S. 194)

Wir werden sehen, dass die Schüler sich das nicht hätten antun müssen, eben weil sie Spekulation doch nicht ganz verbannten. Denn sie hielten mit Adorno daran fest, dass im Tauschwert „ein bloß Gedachtes“ stecke (Soziologie und empirische Forschung, a.a.O., S. 209). Wie ich argumentieren werde, hieß das nichts anderes, als dass der Tauschwert Vergangenes enthält und Zukunft ankündigt, eben  g e s c h i c h t l i c h  ist und deshalb – eine Konsequenz, die sie nicht zogen – weder ganz abgeschafft noch ganz beibehalten werden kann. Vielmehr muss er verändert werden, so pragmatisch wie revolutionär.