(42) Genealogie des Tausches

3. Adorno

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Nach längerer Unterbrechung kann ich meine Notizen jetzt fortführen, erst zwischen Ende September und Ende Oktober wird wieder ein Pause eintreten. Wenn ich hier ein neues Kapitel beginne, mache ich noch einmal darauf aufmerksam, dass ich das vorige umgeschrieben habe. Das Umschreiben betraf nicht die These, sondern die Darstellung, es wurden auch einige Argumente hinzugefügt und andere, die nicht so tauglich waren, weggelassen. Die These war: Auch Marx‘ Analyse der „Geldform“ kann nicht erweisen, dass Geld an und für sich, das heißt in jeder denkbaren Gesamtökonomie ein Übel, ein „Fetisch“, eine Verrücktheit sein müsse, wie es das alles im Kapitalismus allerdings ist. Ich habe bis zuletzt überlegt, ob diesem umgeschriebenen Kapitel nicht weitere Erwägungen hinzugefügt werden müssten. Doch was da noch zur Sache gehört und unbedingt zu erörtern ist, will ich lieber in den Kontext einfügen, der jetzt folgt.

Ich will mich jetzt mit der Literatur auseinandersetzen, die aus Marx „Wertformanalyse“ herausliest, dass er im Recht sei, das Phänomen Geld dem Untergang zu weihen. Es handelt sich um eine Literatur, deren Verfasser sich als Protagonisten einer „Neuen Marx-Lektüre“ bezeichnen, womit sie sich abgrenzen einerseits von der „orthodoxen“ Marx-Lektüre, die sie mit Friedrich Engels beginnen und mit dem so genannten Marxismus-Leninismus, aber auch mit Autoren wie Wolfgang Fritz Haug enden lassen, und andererseits von dem, was man seit einer Veröffentlichung des englischen Marxisten Perry Anderson den „westlichen Marxismus“ nennt. Zum Westlichen Marxismus zählt Anderson Autoren, die sich seit den 1920er Jahren vom Marxismus-Leninismus in wesentlichen Punkten abwandten: etwa Karl Korsch, Antonio Gramsci, Louis Althusser und, last not least, Theodor W. Adorno.

Mit Adorno tritt eine merkwürdige Verwicklung ein. Dieselbe „Neue Marx-Lektüre“ nämlich, die sich auf den Westlichen Marxismus so wenig wie auf den Marxismus-Leninismus einlässt, weil die Differenz zwischen dem einen und dem andern nicht groß genug sei, macht bei Adorno eine Ausnahme und muss sie auch machen, ist doch die erste Generation ihrer Vertreter aus Adornos Schule hervorgegangen. Sie macht auch bei Althusser eine Ausnahme, weil man Übereinstimmungen in der Marx-Interpretation entdeckt und es auch unmittelbare „Einflüsse“ gibt. Adorno aber ist der Vater dieser Marxleser, mit seiner Kritik der „Tauschgesellschaft“ fing alles an. Das räumen sie selbst ein, obwohl man sich wundert, wie sie sich dessen, dass sie den Westlichen Marxismus ansonsten schlank ablehnen, dann so sicher sein können und ihn nie oder nur flüchtig zum Untersuchungsobjekt machen. Man wundert sich deshalb, weil alle Vertreter des Westlichen Marxismus, was immer ihnen sonst am Marxismus-Leninismus missfiel, stets jedenfalls die philosophischen Grundlagen desselben angriffen; das gilt für Gramsci wie für Bloch und eben auch für Adorno. Ist es dann so klar, dass man Adorno herausgreifen und die anderen beiseite lassen kann?

Aber er wird ja eben nicht „herausgegriffen“, so wenig man den Vater herausgreift, den man hat; er ist da und man kann ihn schlicht und einfach nicht verleugnen. Wir lesen deshalb in Ingo Elbes Forschungsbericht, die „für die  G e n e s e  der neuen Marx-Lektüre wohl bedeutendste Quelle“ sei „in der kritischen Theorie Frankfurter Provenienz auszumachen, die von den Texten und Seminaren Max Horkheimers und Theodor W. Adornos bis hin zu den Beiträgen von Helmut Reichelt und Hans-Georg Backhaus reicht“ (Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin 2008, S. 66), und wenn auch Elbe nicht erfreut darüber ist, dass „sich allerdings zuweilen sowohl bei Backhaus/ Reichelt selbst und ihren Schülern als auch bei deren Kritikern die Tendenz [findet], die ’neue Marx-Lektüre‘ mit den Beiträgen der späten Frankfurter Schule gleichzusetzen“ (S. 66 f.), so bleibt er doch bei seiner Diagnose und verschärft sie noch: „Der zentrale Strang, in dem sich zuerst grundlegend neue Lesarten der Marxschen Ökonomiekritik herausbilden, ist hinsichtlich der Bundesrepublik eindeutig der ‚Frankfurter Marxismus‘ um Alfred Schmidt und die neue Generation um Hans-Georg Backhaus sowie Helmut Reichelt.“ (S. 87)

In diesen Zeilen zeichnet sich schon ab, dass es  z w e i  S t r ä n g e  der „neuen Marx-Lektüre“ gibt, deren Unterschied zu erörtern bleibt: einen, der direkt von Adornos Schule herrührt und dem Lehrer die Treue hält in Hinsichten, die wir noch herausarbeiten werden, und einen, der sich von ihm abwendet. Wie dem aber auch sei, wollen wir uns zuerst mit Adorno selbst befassen. Nicht deshalb soll das geschehen, weil wir irgendeiner Konvention geistesgeschichtlicher Herleitung zu genügen hätten. Sondern deshalb, weil mir scheint, dass Adorno in dieser ganzen Entwicklung die wesentliche und von allen Epigonen unübertroffene Kapazität geblieben ist. Ich will ihn auch keineswegs erörtern, um das, was ich an der „neuen Marx-Lektüre“ kritisieren will, bis zum Quell Adorno zurückzuverfolgen und diesen zu denunzieren, sondern im Gegenteil: um zu zeigen, dass er dieser Quell nicht ist. Anders nämlich als seine Schüler und Stiefschüler ist Adorno  k e i n  g e s c h w o r e n e r  G e l d f e i n d .

Auch das müsste hier nicht behandelt werden, wenn es gleichsam nur darum ginge, den Stiefschülern eins auszuwischen. Denen wird es ohnehin egal sein, weil sie alle einig sind, Fragen der „Genese“, und sei’s ihre eigene, für unwichtig und kaum zur Sache zählend anzusehen. Ich aber zähle Adorno zu den zentralen Figuren der westdeutschen Bundesrepublik überhaupt, er gehört weit über die Frage der „Tauschgesellschaft“ hinaus zu unserer Geschichte, er hat sie wesentlich mitgeprägt. Dass er zum Beispiel als Inspirator der 68er Revolte gilt, mit der er sich freilich überwarf, kaum dass sie ausgebrochen war, ist bekannt genug. Ich will Einiges von ihm einfach deshalb referieren, weil ich seine Philosophie für bedeutsam halte. Sie kann uns auch gerade über die „Tauschgesellschaft“ mehr mitteilen, als wir immer schon wussten.

2

Nicht selten rollt man Adornos Tauschkritik von der Dialektik der Aufklärung her auf, den „Philosophischen Fragmenten“, die er zusammen mit Max Horkheimer geschrieben und zuerst 1947 in Amsterdam veröffentlicht hat. So befaßt sich ein Aufsatz von Michael T. Koltan, der „Adorno, gegen seine Liebhaber verteidigt“ betitelt ist (in J. Baumann / E. Müller / S. Vogt [Hg], Kritische Theorie und Poststrukturalismus, Hamburg 1999), allein mit diesem Buch, als gäbe es kein anderes, in dem sich Adorno mit Ware, Geld und Tausch noch ferner beschäftigt hätte. Koltan arbeitet heraus, dass der Tausch „der Dialektik der Aufklärung zufolge die rationalisierte Form des Opfers“ ist: „Indem die archaischen Opferrituale der Aufklärung unterworfen werden, schlagen sie um in Tauschhandlungen, in denen, um die klassisch dialektische Formel zu gebrauchen, das Opfer  a u f g e h o b e n  ist.“ (S. 17)

„Aufklärung, so Horkheimers und Adornos Feststellung, ist wesentlich Überwindung des Opfers; wobei das Opfer selbst schon […] die Überwindung des Opfers darstellt.“ Denn es wird zum „Tauschgeschäft mit den höheren Mächten“, „strukturell zu einem Geschäft“: „Es ist eine List, mit der die Götter übertölpelt werden sollen, die bei diesem Tausch die eigentlichen Verlierer sind. Iphigenie etwa wird für günstige Winde eingetauscht, damit die griechische Flotte nach Troja segeln kann. […] Geopfert wird mit der Intention, für die Opfergabe etwas zurückzuerhalten, das für den Opfernden einen höheren Wert besitzt als die Opfergabe selbst.“ (S. 19)

Will Koltan Horkheimer und Adorno bis dahin noch folgen, so kritisiert er im nächsten Schritt, dass sie sich nicht mit dem „Exkurs zu den Ursprüngen des Tauschs“ begnügten, sondern ihn „zu einer Art condition humaine“ machten. Sie bemühten sich nämlich „zu zeigen, wie in diesem Übergang vom Opfer zum Tausch die wesentlichen Strukturen zumindest der abendländischen Rationalität grundgelegt werden“. Ihnen zufolge sei im Opfer „die rationale Abwägung von Mittel und Zweck, die unsere Vernunft auszeichnet“, enthalten (S. 20), ebenso aber auch „die Konstitution des mit sich identischen Subjekts“. Diese wird „am Beispiel der Figur des Odysseus“ dargestellt. „Die Abenteuer des Odysseus werden […] gedeutet als rudimentäre Opfer- beziehungsweise Tauschhandlungen, in denen Odysseus listig sein Leben aufs Spiel setzt, im Tausch dafür das Überleben – und gleichzeitig ein identisches Selbst zu erhalten.“ Und zwar wird dieses Selbst „durch Triebunterdrückung“ ausgebildet. Es ist „monomanisch auf einen einzigen Zweck, die Rückkehr nach Ithaka, ausgerichtet“. (S. 21) Wegen des Zwecks muss die Lust unterdrückt werden. „Bei der Konstitution des bürgerlichen Subjekts findet somit ein Tausch von unmittelbarer Triebbefriedigung gegen Selbsterhaltung statt.“ (S. 22)

Koltan resümiert: „Dem Tausch kommt bei Horkheimer und Adorno […] universale Bedeutung zu […]. Die kapitalistische Produktionsweise erscheint in dieser Perspektive nur als die bislang jüngste und entwickeltste Form eines allgemeinen menschheitsgeschichtlichen Problems, der Selbsterhaltung durch Ausbildung einer speziellen“, nämlich speziell der Selbsterhaltung dienenden „Rationalität. Und in dieser Perspektive erscheint der Warentausch nur als Sonderfall einer allgemeinen Tauschlogik, die älter ist als der Warentausch.“ (S. 23) Daraus nun scheint sich die Schlussfolgerung ganz natürlich zu ergeben, dass dieselbe „allgemeine Tauschlogik“ dann auch über die Epoche der Waren hinaus immer weiter in Geltung bleiben müsse, wenn man Horkheimer und Adorno folge: „Da die abendländische Rationalität untrennbar in die Logik des Tausches verwoben ist, diese Rationalität aber auch nicht über Bord geworfen werden soll, kommt eigentlich bestenfalls eine Modifizierung, keineswegs eine Abschaffung dieser Logik in Frage.“ (S. 24)

„Das mag jetzt auf den einen oder anderen begeisterten Adorno-Anhänger wie ein Schlag ins Gesicht wirken“, meint Koltan (ebd.), dem es jedenfalls selbst einen „Schlag“ versetzt, glauben zu sollen, dass Tauschlogik immer weiter läuft, statt irgendwann ausgerottet zu werden. Und seine Schlussfolgerung scheint korrekt zu sein, kann er doch aus dem Aufsatz „Fortschritt“, der für Adornos Philosophie „grundlegend“ sei – es ist der einzige Text, den er über die Dialektik der Aufklärung hinaus zu Rate zieht -, die Sätze zitieren: „Von je, gar nicht erst bei der kapitalistischen Aneignung des Mehrwerts im Tausch der Ware Arbeitskraft gegen deren Reproduktionskosten, empfängt der eine, gesellschaftlich mächtigere Kontrahent mehr als der andere. […] Die Erfüllung des immer wieder gebrochenen Tauschvertrags konvergierte mit dessen Abschaffung; der Tausch verschwände, wenn wahrhaft Gleiches getauscht würde; der wahre Fortschritt dem Tausch gegenüber [wäre] nicht bloß ein Anderes sondern auch dieser, zu sich selbst gebracht.“ (S. 25)

Koltan hat recht und irrt zugleich. Zwar hat er ein brauchbares Referat der Dialektik der Aufklärung geliefert. Zwar war es richtig, die eben zitierten Sätze hervorzuheben. Wir werden sie wiederfinden an zentraler Stelle in Adornos philosophischem Hauptwerk, der Negativen Dialektik. Obwohl er aber von Adornos Philosophie spricht, ist Koltan auf die Idee, nach dieser zu fragen, gar nicht gekommen, sondern hat seine eigene Alltagsphilosophie zugrunde gelegt und an ihr Horkheimers und Adornos mythengeschichtliche Hypothesen gemessen. Dieser Alltagsphilosophie zufolge muss das „Universale“ der Menschheitsgeschichte bereits in ihrem Anfang beschlossen gewesen sein. Adorno, meint Koltan, fragt nach der Entfaltung eines Anfangs, dem man niemals entrinnt. Sehen wir einmal davon ab, dass er sein eigenes Argument fahrlässig übertreibt, denn er schreibt ja selbst, die Dialektik der Aufklärung leite aus archaischem Opfer und Tausch nicht alle, sondern nur „die wesentlichen Strukturen“ einer  b e s t i m m t e n  Rationalität ab, nämlich „zumindest der abendländischen“. Da kann man nicht sagen, Horkheimer und Adorno hätten einem „Universalismus“ der archaischen Opfer- und Tauschlogik das Wort geredet. Wichtiger als diese Übertreibung ist etwas anderes. Koltan übersieht, dass man einen geschichtlichen Hergang nicht nur von seinem Anfang, sondern auch von seinem Ende her aufrollen kann.

Adorno rollt ihn vom Ende her auf. Sein „Universalismus“ liegt nicht darin, dass ein Anfang alles Nachfolgende in sich begreift, sondern darin, dass alles, was geschieht, einem „universellen“  E n d e  zustrebt, das es noch gar nicht gibt, obgleich es sich im jetzt und früher Geschehenden schon abbildet, seinen Schatten gleichsam vorauswerfend. Wenn man deshalb zu einem gegebenen Zeitpunkt bemerkt, dass ein Späteres einem Früheren ähnelt, heißt das nicht, dass im Späteren nur das Frühere erscheine, sondern, gerade umgekehrt, dass es dem Ende näher sei und es deutlicher zeige, einem Ende, über welches man sich sehr täusche, wenn man nur die Konfusion des Früheren kenne. Um inhaltlich zu sprechen: Der „wahrhaft gleiche“ Tausch ist nicht die bloße Modifikation eines eigentlichen und „universellen“ Tausches, der dasselbe wie Täuschung bedeutet. Sondern umgekehrt: In der Täuschung ist der Tausch vorweggenommen, bei dem es gerecht zugehen wird. Adorno verhält sich hier ganz einfach als der Nietzscheaner, der er ist: Wie nach Nietzsche die Moral eine „Genealogie“ hat, bei der sie aus schlimmster Amoral allmählich aufsteigt, so fängt bei Adorno die Tauschgeschichte schlimm an, muss es aber nicht bleiben.

Womit wir wieder an dem Punkt sind, an dem wir schon häufig waren: Ob Ware, Geld und Äquivalententausch überhaupt etwas Schlimmes sind oder ob sie es nur dann sind, wenn Kapitallogik in sie eingeschrieben ist, das ist doch gerade die Frage. Man kann nicht einfach voraussetzen, der Tausch sei schlimm. Auf wen will man sich denn berufen? Auf Marx? Es ist zwar nicht zu leugnen, dass Marx den Tausch schlimm fand. Aber noch weniger ist zu leugnen, dass Marx‘ Hauptwerk „Das Kapital“ heißt und nicht „Der Tausch“. Wir haben es bis in alle Einzelheiten verfolgt, dass der Tausch, den Marx kritisiert, im Grunde immer schon der kapitalistische Tausch ist, auch wenn er dann in überschießender Wut dazu neigt, den Tausch an und für sich zu verdammen. Also lässt uns letztlich auch Marx mit unserer Frage allein. Adorno jedenfalls hat die Frage ebenso beantwortet, wie sie hier in diesen Notizen beantwortet wurde. Er kritisiert, „dass der eine mehr empfängt“: nicht den Tausch, sondern die Aneignung des Mehrwerts; nicht das Geld, sondern das Kapital.

Von seiner Philosophie und auch Soziologie wissen wir bisher noch gar nichts. Aus deren Kontext werden wir erst ersehen, was ihm die „Tauschgesellschaft“ bedeutet. Mehr in der folgenden Notiz.