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Ich will heute zum Thema Konkurrenz ein paar h i s t o r i s c h e Anmerkungen machen. Wenn wir nämlich über eine andere Konkurrenz nachdenken, sollten wir uns auch klarmachen, dass Konkurrenz schon bisher nicht immer dasselbe bedeutet hat; schon gar nicht hatte sie stets das Aussehn wie im Kapitalismus. Da ich in der letzten Notiz vom Sport redete, mag das der Anknüpfungspunkt sein. Nehmen wir die Olympischen Spiele im antiken Griechenland. Wenn verschiedene Läufer im Stadion um den Sieg wetteiferten, war es zwar keine ökonomische Konkurrenz und daher für uns nicht einschlägig. Eine „sportliche“ im heutigen Wortsinn war es aber auch nicht nur. Interessant jedenfalls, dass es s t r u k t u r i e r t e Konkurrenz war und man in der Erwartung enttäuscht wird, die Struktur wenigstens kehre in der ökonomischen Konkurrenz, wie wir sie kennen, wieder.
Der Stadion-Wettlauf „hat sakrale Funktion“, lesen wir bei Walter Burkert. Ziel des Laufs ist ein Altar. „[…] die Läufer waren ein Stadion weit vom Altar entfernt; vor diesem stand ein Priester, der mit einer Fackel das Startzeichen gab. Der Sieger aber legte Feuer an die heiligen Opferteile, und so ging er als Olympiasieger hinweg […]. Der Lauf markiert den Übergang vom Blut zum reinigenden Feuer, von der Todesbegegnung zum Vollgefühl des Überlebenden, das sich in der Kraft des Siegers manifestiert“. (Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin New York 1972. S. 111 ff.) Das ist, wenn man will, nicht ökonomische noch sportliche, sondern religiöse Konkurrenz und also auch nicht für uns einschlägig. Aber der Witz ist gerade, dass die historische Betrachtung von Grundbegriffen immer auf eine älteste Schicht führt, wo noch keine Trennung der im modernen Sinn „sachlichen“ von der religiösen Bedeutung hat stattfinden können. Wenn das ausgerechnet beim Ökonomischen, allem Ökonomischen, nicht auch so sein sollte, wäre es schon ein Wunder. Denn Ökonomie ist letztendlich Produktion, Verteilung und Erwerb von „Lebensmitteln“ im weitesten Sinn. Kehrseite des Lebens und seiner Mittel ist nun einmal der Tod. Dieser Zusammenhang war immer der religiöse Gegenstand. Wenn er in der kapitalistische Ökonomie nicht mehr bewusst wird, besagt das nichts über frühere Gesellschaften und letztlich wohl auch nichts über die kapitalistische.
Wir stoßen in der frühesten uns bekannten Ackerbaugesellschaft auf die Sprache der „Besamung“, von „Leben“, „Tod“ und „Wiedergeburt“ des Ackers. Man kann sich seine Bebauung ohne entsprechende Mythen und Riten, auch Produktionsriten, nicht vorstellen. Produktion und Ritual lassen sich nicht trennen. Die Produktion ist ja selbst ein Ritual, Walter Benjamin meint sogar, es sei bis heute ein religiöses geblieben (Kapitalismus als Religion, in Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt/M. 1985, S. 100-103). Und schon die Vorstellung, Menschen könnten einst aus purer „Nützlichkeits“erwägung auf den Ackerbau verfallen sein, ist anachronistisch; um Burkert noch einmal zu zitieren: „Insbesondere das Saatgetreide sich vom Munde abzusparen und in die Erde zu werfen auf bloße Hoffnung hin ist ein nicht ganz leichter Akt der Selbstüberwindung“ (S. 55 f.). Hoffnung! Es konnte nicht ohne Opferfeste und Todesmetaphern gelingen.
Was den olympischen Stadion-Wettlauf angeht, will ich nur darauf hinaus – und das betrifft nicht Ökonomie, Religion oder Sport, sondern, wie gesagt, die Struktur -, dass wir hier eine Konkurrenz antreffen, die auf ein Ziel hinausläuft, bei dem nicht nur der Sieger anlangt, sondern auch die Mitlaufenden und letztlich überhaupt alle, die zur Opfergemeinde gehören, also auch die Zuschauer. Das sind schon drei Dinge, in denen die kapitalistische Konkurrenz abweicht: sie hat erstens kein Ziel, zweitens keinen Sieger und lässt drittens immer nur einige anlangen, während andere „niederkonkurriert“ werden. Dabei ist bemerkenswert, dass sich die Teilnehmer an der kapitalistischen Konkurrenz darüber täuschen. Sie glauben ja, es gebe Sieger, träumen von „win-win“-Situationen und reden auch gern von Zielen. Nur müssen sie jedes Ziel um eines neuen willen verlassen, so dass man heute nach fünf Jahren keine Ersatzteile für einen Drucker mehr bekommt und sogar die Bücher, die eben noch verkauft wurden, aus dem Sortiment verschwinden; nur muss der „Sieger“ immer weiter siegen, ohne jemals irgendwo anzulangen. Der antike olympische Sieger dagegen war dahin gelaufen, wo er, stellvertretend für alle, das heilige Feuer anzündete. An ihn erinnern die Fackelläufer, die heute noch die Olympischen Spiele eröffnen.
An dieser Stelle mag es nützlich sein, sich die alte Bedeutung von „concurrere“ vor Augen zu führen. Das ist zum einen zusammenlaufen, von allen Seiten herbeieilen, etwa im Sinn von „unter das Gewehr treten“. Dann auch, in erster Verschiebung, „seine Zuflucht nehmen zu“: wenn jemand zu einer Menge, die sich zusammengeführt hat, noch dazustößt oder sich unter ihren Schutz begibt. Wie sich daraus die andere Bedeutung ergeben kann: zusammenstoßen, aneinander geraten, ist leicht zu sehen. Das Erstaunliche daran ist, die Sprache macht Konkurrenz gar nicht zum Gegenteil von Kooperation, vielmehr hält sie allererst fest, dass Leute zusammenkommen, um gemeinsam etwas zu tun. Was freilich oft heißt, sie tun gemeinsam etwas gegen andere, die ebenfalls und aus demselben Grund zusammengekommen sind. Wie auch immer, in der Grundbedeutung ist Konkurrenz entweder direkt dasselbe wie Kooperation oder doch von ihr untrennbar. Das eben zeigt der antike Stadion-Wettlauf.
Wir finden dieselbe Struktur dann auch in der Auffassung wieder, die Paulus von der christlichen Gemeinde hegt. Die Auffassung ist noch heute in puritanischen Gemeinden lebendig. Der Apostel bildet die einzelnen Christen, und zwar der Gemeinde in Korinth, als Wettläufer ab, die zum Sieg eilen sollen (1. Korinther 9, 24 ff.). Diesen Sieg, die Heiligkeit, soll natürlich nicht einer auf Kosten der andern erringen. Warum ist es dann aber ein Wettlauf? Wohl weil „einer des anderen Last“ tragen soll. Der Lauf ist für alle anstrengend, es tut daher allen gut, wenn sie einander anfeuern. Natürlich aber sollen möglichst a l l e zum Ziel kommen. Dass es immer einen gibt, der als erster anlangt, spielt gar keine Rolle. Oder wenn auch diese Frage aufgeworfen wird, ist sie längst beantwortet, denn die Christen lesen im Hebräerbrief, dass Christus als erster die Schwelle zum Heiligtum überschritten hat. Ihr bildlicher „Wettlauf“ ist Nachfolge Christi. „Paulus erinnert die Gemeinde an Sachverhalte aus dem Sport, die den Korinthern durch die Isthmischen Spiele in ihrer Stadt besonders vertraut waren“, schreibt Christian Wolff (Der erste Brief des Paulus an die Korinther, Leipzig 2. Aufl. 2000, S. 205).
Es ist eine Tradition, die interessante Verwicklungen schafft. Man kann sich fragen, um wie viel der Kapitalismus in den USA geschwächt wäre, wenn er sich nicht unter anderm auf viele einheimische puritanische Gemeinden stützen könnte. Was würde geschehen, wenn solche Gemeinden begriffen, dass die im Alltag erlebte ökonomische Konkurrenz keine unvollkommene Annäherung an die paulinische ist, sondern einer gänzlich anderen Logik folgt? Man ahnt auch, weshalb die Einsicht nicht leicht fällt: weil die andere Logik in die Gemeinden selber eindringt und zu Konkurrenzkämpfen ganz unheiliger Art führt, sei’s auch um heilige Güter. Thornton Wilder erzählt irgendwo, wie das funktioniert. Zwei Männer sitzen sich im Eisenbahnwaggon gegenüber, einer beginnt den andern zu missionieren – der ist aber auch Missionar. Wer von beiden ist nun bedürftiger, „zu Christus geführt“ zu werden? Geführt! Die Redewendung gibt es wirklich, und das sagt schon alles. An all dem halten wir aber Eines positiv fest: dass es kaum überspitzt ist zu sagen, Konkurrenz sei für die Gemeinden d a s s e l b e wie K o o p e r a t i o n .
Und hier können wir die religiöse Sphäre sogar hinter uns lassen. Wenn wir den „Wettlauf“ zur Fähre nehmen, die um 16.00 Uhr losfährt und kurz vorher die Landungsbrücke einzieht, so zeigt er alle Merkmale der beschriebenen Struktur, nur dass er nicht anstrengend ist. Für die meisten jedenfalls nicht; nur solche haben Mühe, die spät kommen und vielleicht rennen müssen, um gerade noch rechtzeitig anzulangen. Auch hier laufen viele nebeneinander auf dasselbe Ziel zu, und einige erreichen es früher als andere, aber das ist ganz unwichtig. Es kann doch jedenfalls von allen erreicht werden, man muss sich nur an die Abfahrtszeit halten. Einige mögen darunter sein, die sich vordrängeln, weil sie vielleicht „beste Plätze“ an Deck belegen wollen. Die meisten finden das aber albern und laufen diszipliniert nebeneinander her. Sie nehmen Rücksicht aufeinander! Das Ganze ist „Konkurrenz“ im ursprünglichen Wortsinn: Man hat lauter Einzelne, Individuen, Paare, Familien, von denen jedes auf eigene Rechnung läuft, aber alle tun es, um eine einzige Menge zu bilden. Die Menge derer, die ein bestimmtes Ziel erreichen wollen.
Setzen wir an die Stelle der Fähre einen Eisenbahnzug, der schon voll besetzt ist. Die jetzt kommen, wollen auch noch durch die Tür, wo sich also eine Traube konkurrierender Menschen bildet. Hier zeigt sich, was nicht nur im Bild wahr ist, sondern auch in der Ökonomie: Je kleiner der Kuchen ist, der an alle Zusammenströmenden, Nebeneinanderherlaufenden, „Konkurrierenden“ verteilt werden kann, desto rücksichtsloser sind sie im Versuch, einander wegzudrängeln.
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Kommen wir zur realen Geschichte der Ökonomie, aus der ich nur drei Punkte herausgreifen will. Erstens, die internationalen Händler. Sie, die seit Urzeiten Schritte zur „globalen“ Vernetzung getan haben, etwa auf der Seidenstraße, sind buchstäblich nebeneinander her gelaufen und zwar auf Strecken, die sehr lang waren. So lang, dass die Überwindung der Länge wichtiger war als irgendein Gegeneinandersein, das gar nicht immer die Regel war. Polanyi hebt das irgendwo hervor. Es gab freilich kriegerische Händlergruppen und Kriege zwischen Händlerstaaten. Handel und Krieg lagen immer nahe beieinander. Aber erinnern wir uns, zweitens, an den Markthandel im Innern einer vorkapitalistischen Gesellschaft, etwa der mittelalterlichen Stadt. Hier galt der Grundsatz „eines konkurrenzfreien Ortshandels und eines gleichfalls konkurrenzfreien, zwischen den einzelnen Städten abgewickelten Überlandhandels“, so Polanyi. Er galt noch im Merkantilismus. (The Great Transformation, Frankfurt/Main 1978, S. 99)
„Konkurrenzfrei“ heißt hier, wie üblich im heutigen Wortgebrauch, ohne r ü c k s i c h t s l o s e Konkurrenz. Die Art, wie damals Rücksicht erzwungen wurde, werden wir nicht nachahmen. Aber ganz absurd kommt sie uns nicht vor. So ist es interessant, dass Preiskontrolle und „zwangsweise Öffentlichkeit der Transaktionen“ (S. 98) einander zu bedingen scheinen. Öffentlichkeit der Transaktionen soll ja auch in der Anderen Gesellschaft gelten. Eine Entsprechung für die Preiskontrollen gibt es dann auch. Es gibt sie sogar schon heute. Wenn das Kartellamt sich über die Benzinpreise wundert, versucht es zu prüfen, wie sie zustande kommen. Im Fall, dass es gelänge, würden bestimmte Preise verboten. Und es w ü r d e gelingen unter der Voraussetzung, dass alles Ökonomische öffentlich wäre. Interessant an der mittelalterlichen Situation ist auch, dass die damalige Herrschaft versuchte, ein hinreichendes Einkommen aller Konkurrenten zu gewährleisten. Sie verhinderte deshalb das „Eindringen von unbefugten Händlern […], die den Markt ‚abschöpften‘, aber keine Gewähr für Stabilität boten“ (S. 101). Das ahmen wir nun am allerwenigsten nach. Was hält uns aber ab, d a s P r o b l e m a n z u e r k e n n e n und nach einer anderen, besseren, nicht vor- sondern nachkapitalistischen Lösung zu suchen?
Es besteht darin, dass jedes auch nur „vorübergehende Auftreten von Käufern oder Verkäufern auf dem Markt“, die neu hinzukommen, „das Gleichgewicht zerstören und die regelmäßigen Käufer oder Verkäufer enttäuschen [muss], mit dem Ergebnis, dass der Markt zu funktionieren aufhört“ (S. 100). Sicher wird sich dann ein neues Gleichgewicht bilden, insofern funktioniert der Markt durchaus, die Frage ist nur, für welchen Zweck. Können wir nicht den Zweck postulieren, dass sich, weil neue Käufer oder Verkäufer hinzukommen, neue Gleichgewichte aus alten bilden sollen, unter der Bedingung aber, dass alle ein hinreichendes Einkommen haben und behalten? Die einen in bisheriger Größenordnung, andere, indem sie vielleicht aus der Konkurrenz herausfallen, aber in ein bequemes soziales Netz?
Der dritte Punkt, den ich herausgreifen will, steht bei Joseph Vogl zu lesen (Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2011). Er betrifft nun direkt die kapitalistische Konkurrenz, genauer einen ihrer gravierenden Unterschiede von der merkantilistischen. Vogl sieht den Unterschied gar nicht, beschreibt ihn aber. Es geht um den Begriff des Interesses, eine Hauptdimension des homo oeconomicus. „Wahrscheinlich“, meint er, „ist der Interessenbegriff einmal von der Staatsräson, vom Begriff des Staatsinteresses in die Sozialtheorie übergegangen“. Das leuchtet ein, aber wie fährt Vogl fort? „Zunächst wäre das Interesse ein letztes und unauflösliches Verhaltensatom.“ (S. 35). Sodann zeige es sich als „als Form eines Wollens, das […] durch Selbstbehauptung funktioniert. Das Interesse kennt den Selbstverzicht nicht.“ „Das Subjekt des Interesses ist darum alles andere als ein Moral-Subjekt, ein Gesetzes-Subjekt, es akzeptiert keine Verneinung. […] Wie die Körper der Natur dem Gesetz der Gravitation unterliegen, so wird die Gesellschaft vom Bewegungsgesetz der Interessen bestimmt.“ Mit etwas anderer Terminologie kann man das bei Helvetius tatsächlich lesen. (S. 36)
Im Lauf dieser höchst anregenden Beschreibung kommt es Vogl aus dem Blick, dass „Staatsraison“ das Interesse an einer Sache, eben dem Staat, bezeichnet, während das „Bewegungsgesetz der Interessen“ in der Marktgesellschaft, die ihm zuletzt vorschwebt, sich zum Interesse von Subjekten hin, eben der homines oeconomici, verschoben hat. Aber warum hat es sich verschoben – nicht nur von einer Gesamtheit, dem Staat, zur Einzelheit von lauter konkurrierenden Unternehmen, sondern, dort angekommen, v o m U n t e r n e h m e n z u m U n t e r n e h m e r ? Warum konkurrieren diese und nicht jene? In der Staatsraison geht es um die Stärke des Staates, in der Ökonomie müsste es um die Konkurrenz der Unternehmen, nicht der Unternehmer gehen. Das heißt, der homo oeconomicus müsste einer sein, der f ü r e i n U n t e r n e h m e n das ökonomisch Beste herausholt. Nicht f ü r s i c h a l s U n t e r n e h m e r , der vielleicht den größten Vorteil hat, wenn er sich vom Unternehmen trennt und es vor die Hunde gehen lässt! Welch eine Konfusion. Als ich das bei Vogl las, dachte ich, ich muss Adam Smith noch einmal lesen. Vielleicht war es i h m noch ganz selbstverständlich, dass die Konkurrenz aller Egoisten, aus der das Gemeinwohl soll hervorgehen können, eine Konkurrenz solcher Egoisten war, zwischen die und ihr Unternehmen kein Blatt Papier passte?
Adam Smith, das war die Zeit, in der Ökonomik die Wissenschaft vom objektiven Wert war. Viel später erst kam die Zeit, wo man behauptete, Ökonomie könne auch allein vom subjektiven Nutzen her analysiert werden. Natürlich kann sie das. Wenn es gewollt wird, kann man sie auch aufrollen als Wissenschaft der Methoden, durch die man Menschen am schnellsten und nachhaltigsten in den Abgrund reißt. Anything goes. Aber niemand soll behaupten, die bloß subjektive Sicht sei der beste oder gar einzige Weg, Konkurrenz „wissenschaftlich“ zu analysieren.